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In der Literatur soll uns die Schrift von der Wissenschaft erlösen.

Über Roland Barthes Aufsatz: "Der Tod des Autors"

 

Nach: Roland Barthes: „Der Tod des Autors“, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.): Texte zur Autorschaft. Reclam Verlag, Stuttgart 2000. S. 181 (S. 185) – 193.

Also dieser Text von Roland Barthes ist schon sehr bemerkenswert! Aber nicht als wissenschaftlicher Text, denn es ist kein solcher. Zumindest lässt sich zweifelsfrei behaupten, dass ein Text wie dieser, würde er heute von einem Literaturwissenschaftler/einer Literaturwissenschaftlerin als literaturwissenschaftlicher Text eingereicht, abgelehnt werden würde. (Was 1968 in Frankreich als wissenschaftlich galt, weiß ich hingegen nicht.) Aber es ist eben doch interessant – und genau das wird erstaunlicher Weise nie konstatiert – dass nichtwissenschaftliche Texte wie dieser von der heutigen Literaturwissenschaft ernst genommen und gar als Grundlagentexte im Studium verwendet werden: Eine Disziplin, die selbst keine unwissenschaftlichen Texte mag, nimmt unwissenschaftliche Text ernst, sobald sie nur von einem Autor kommen, der sich einigermaßen einen Namen gemacht hat – ist das nicht ein Indiz gegen Barthes’ These vom Tod des Autors? Das gilt übrigens auch für einige andere Texte von Roland Barthes. Tatsächlich bietet der Aufsatz nicht einmal den Ansatz eines Versuchs der Konstatierung des Forschungsstands, noch eine klare Argumentation und genau eine Bezugnahme auf die Fachliteratur in einer Fußnote. Daraus ließe sich die Forderung an die akademischen Würdenträger ableiten (wenn ich witzig sein wollte, und ich will es in diesem Falle sein), dass wir doch wenigstens schreiben dürfen sollten wie Roland Barthes, wenn wir schon denken müssen, was er sagt!

Nein, der Aufsatz von Roland Barthes über den Autor ist kein wissenschaftlicher Text, er ist eher ein mythischer, welcher sagt, dass der Autor sterben müsse, damit die Schrift eine Zukunft habe: „Wir wissen, dass der Mythos umgekehrt werden muss, um der Schrift eine Zukunft zu geben. Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“ (S. 193) Diese beiden Sätze drücken also weniger etwas aus, das der Fall ist, als etwas, dass sich der Autor, Roland Barthes, wünscht. Warum er sich das wünscht, darüber können wir nur spekulieren. Das Vorwort zu diesem Barthes-Aufsatz in der Reclam-Ausgabe gibt an, die „explication du texte“, die zu Barthes’ Zeiten in den französischen Schulen und Universitäten dominierte und deren Methode darin bestanden habe, eine „Korrespondenz zwischen Autorbiographie und Werkbedeutung herzustellen“, sei der „eigentliche Gegner“ dieses Aufsatzes von Barthes gewesen (S. 181). Das ist natürlich verständlich: Wenn man mich dazu zwingen wollte, bloß aus der Autorenbiographie heraus ein literarisches Werk zu interpretieren, würde ich auch dagegen aufbegehren, denn das ist natürlich eine unzumutbare Verkürzung. Aber um zu sagen: „Ganz weg mit dem Autor!“ reicht das auch nicht. Man müsste sich irgendwie den Wunsch Roland Barthes’ vorstellen können, welcher sich eine Welt ohne AutorInnen wünscht. Was ist das Schöne, Wünschenswerte an dieser Vision? Dann könnte man Barthes’ Aufsatz über den Tod des Autors verstehen. Aber das wäre natürlich wiederum ein Rückgriff auf den Autor, gegen welchen sich der Text von Barthes und auch sein Autor heftig verwehren.

Aber was ist nun eigentlich das Bemerkenswerte, das Erstaunliche und das Lustige sogar an diesem Text, sodass Foucaults Vortrag „Was ist ein Autor?“ ihm gegenüber blass erscheint? Da ist natürlich einerseits seine Rezeption, die aus diesem kaum wissenschaftlichen Text einen Grundlagentext der Literaturwissenschaft gemacht hat. Dann ist es aber auch noch der Fall, dass die „Geschichte“, die Roland Barthes in diesem Aufsatz erzählt, nicht rund ist, die Argumentation also nicht aufgeht, sodass interessante Differenzen zutage treten, zwischen dem, wofür dieser Text offenbar seiner Rezeption nach steht und demjenigen, was wirklich im Text steht. Anders gesagt, eine rein hermeneutische Textbetrachtung, die nur den Text für sich anschaut und ihn bezüglich innerem Zusammenhang und Kohärenz überblickt, reicht aus, um sich prächtig zu amüsieren.

Roland Barthes beginnt seinen Aufsatz mit einem Satz Honoré de Balzacs aus dessen Novelle Sarrasine über einen als Frau verkleideten Kastraten: „Das war die Frau mit ihren plötzlichen Ängsten, ihren grundlosen Launen, ihren unwillkürlichen Verwirrungen, ihren unmotivierten Kühnheiten, ihren Wagnissen und ihrer reizenden Zartheit der Gefühle.“ (S. 185), um zu fragen: „Wer spricht hier?“ und dann sogleich den überlangen Schluss zu ziehen: „Wir werden es nie erfahren, einfach deswegen, weil die Schrift [écriture] jede Stimme, jeden Ursprung zerstört.“ (ebd.) Das ist nicht sehr überzeugend: Von einer recht bekannten Situation bei der Literaturlektüre, die alle Lesenden kennen und mit der sie problemlos umgehen können (weil es einige Möglichkeiten gibt, woran man bei diesem Satz Balzacs und der Frage: „Wer spricht?“ denken könnte – aber nicht unendlich viele), ausgehend zu schließen, die Schrift zerstören jede Stimme und jeden Ursprung. Das ist kein wissenschaftlicher Anfang, auch kein philosophischer, nicht einmal ein argumentativer; es ist ein mythischer Anfang: Die Schrift wird als eine Art Urgöttin geboren und, aus einem einzelnen Satz von Balzac abgeleitet, schlichtweg vor die LeserInnen von Barthes’ Aufsatz hingestellt.

Das sei „sicherlich immer schon so gewesen“ (ebd.), versichert Barthes nach dieser petitio principii, um deren Position zu befestigen:

„Sobald ein Ereignis ohne weitere Absichten erzählt wird – also lediglich zur Ausübung des Symbols, anstatt um direkt auf die Wirklichkeit einzuwirken – vollzieht sich diese Ablösung, verliert die Stimme ihren Ursprung, stirbt der Autor, beginnt die Schrift.“ (ebd., Hervorhebung durch Kursivschrift im Original)

 

Hierauf sagt er, dass der Autor eine „moderne Figur“ sei, „von unserer Gesellschaft“ am Ende des Mittelalters „hervorgebracht“ (S. 186) und dass „unsere heutige Kultur“ die „Literatur tyrannisch auf den Autor [beschränke]“ (ebd.), um darauf den wiederum sehr kuriosen Argumentationsschritt folgen zu lassen, dass, „[w]enngleich die Vorherrschaft des Autors immer noch ungebrochen“ sei, so werde sie doch „seit längerem von einzelnen Schriftstellern attackiert“, in Frankreich z.B. habe Mallarmé als erster die Sprache an die Stelle des Autors gesetzt. Für Mallarmé „(und für uns)“, versichert Barthes wiederum, sei es die Sprache, die spricht, nicht der Autor (S. 187).

Ich möchte bloß darauf hinweisen, was das für ein Argumentationsgebäude ist, das Barthes einem da vorsetzt: Zuerst einmal hat es kein Fundament, keine Grundsteine, denn es beruht auf einer bloßen Behauptung (Durch die Schrift verliere die Stimme ihren Ursprung und der Autor stürbe). Nun jedoch, anstatt dieses Luftschloss wenigstens weiterzubauen, verwirrt Barthes seinen Leser/seine Leserin, indem er die ganze Angelegenheit verdreht und aus etwas, das angeblich immer schon so war, etwas macht, was seit einiger Zeit von einzelnen Schriftstellern gefordert wird. Also handelt es sich bei diesem „Tod des Autors“ nun um eine grundsätzliche Verfasstheit der Literatur oder um eine neuere literarische Entwicklung?

Der Text geht nun so weiter, indem Barthes seine These von der Rebellion der neueren Schriftsteller gegen den Autor anhand weiterer Beispiele (Valéry, Proust, Surrealismus) weiterspinnt, um dann wieder zu einem kuriosen Schluss zu kommen:

„Und schließlich hat außerhalb der eigentlichen Literatur (im Grunde sind diese Unterscheidungen veraltet) die Linguistik ein wertvolles analytisches Instrument zur Zerstörung des Autors entwickelt, weil sie verdeutlicht, das eine Äußerung [énonciation] insgesamt ein leerer Vorgang ist, der reibungslos abläuft, ohne dass man ihn mit der Person des Sprechers ausfüllen müsste. Linguistisch gesehen, ist der Autor immer nur derjenige, der schreibt, genauso wie ich niemand anderes ist als derjenige, der ich sagt. Die Sprache kennt ein >Subjekt<, aber keine >Person<. Obwohl dieses Subjekt außerhalb der Äußerung, durch die es definiert wird, leer ist, reicht es hin, um die Sprache zu >tragen<, um sie auszufüllen.“ (S. 189, Hervorhebungen durch Kursivschrift im Original)


Es ist natürlich die Frage, was hier überhaupt genau gemeint ist (deshalb habe ich die gesamte Textstelle zitiert: denn aus meiner Sicht befindet sich hier ein Argument mehr im Stadium seiner Andeutung denn in seiner Ausformuliertheit): Wenn hier gemeint ist, dass kein gesprochenes oder geschriebenes „ich“ die Eigenschaften der Person zu fassen imstande ist, welche spricht (oder handelt), so wissen wir das alle – auch ohne Linguistik. Wenn die Behauptung lautet, dass es keiner Urheber von Aussagen und Handlungen bedarf, weil ein jeder Satz – selbstverständlich – auch im Passiv ausgedrückt werden kann (Etwa: „Das Kind wurde getauft.“), dann ist das ebenfalls eine Tatsache, die alle Menschen kennen und kein „wertvolles analytisches Instrument zur Zerstörung des Autors“. Wenn Barthes schließlich meint, linguistisch gesehen sei der Autor immer „nur“ derjenige, der schreibt, dann ist das ebenfalls klar: Auf der Ebene der Sprache erscheint der Autor bloß als derjenige, der das Werk aufgeschrieben hat, wie auf der Ebene des Satzes jemand immer als derjenige erscheint, der einen Baum gefällt hat oder ein Glas Wasser ausgetrunken hat, als Subjekt der Tätigkeit eben; die Sprache protokolliert ja nur diese Vorgänge. Inwiefern die Linguistik jedoch ein Argument gegen den Autor sein soll, bleibt aus Barthes’ Ausführungen unverständlich.

Jetzt kehrt Barthes – unvermittelt – wieder zurück zu seinen Ausführungen über die moderne Literatur. Er hebt damit an, dass die „Abwesenheit des Autors [...] den modernen Text von Grund auf [verwandle]“ (S. 189) und scheint nun ins Einzelne zu gehen. Also zuerst einmal verwandle sie ihn auf der Ebene der Zeit. Der Autor, so Barthes, wenn man denn an ihn glaube, wurde immer „als die Vergangenheit seines eigenen Buches verstanden“ (ebd.), während „der moderne Schreiber [scripteur] im selben Moment wie sein Text geboren“ werde; er habe keine Existenz, die über seinen Text hinausgehe. Hier liegt Barthes’ Argumentation, wie ich glaube, eine Misskonstitution der Autorvorstellung zugrunde: Der Autor kann überhaupt nicht zeitlich vor dem Text (oder gänzlich unabhängig von ihm) verortet werden, weil er zu der Zeit ja noch nicht Autor des Textes gewesen ist. Das bedeutet, dass der Autor (freilich auch die Autorin) zeitgleich mit dem Text und also mit dessen Lektüre entstehen muss. Der/die AutorIn ist eine Projektion des/der LeserIn. Freilich gibt es nun auch (experimentelle) literarische Schreibweisen, die den Autor, der hinter dem Text erscheint, weitgehend verwischen, aber die Option, so zu schreiben, ist den AutorInnen zuzugestehen, weil auf dem Gebiet der Literatur dergleichen Freiheit herrscht.

Barthes fasst das moderne Schreiben nicht mehr als etwas auf, bei dem die Tätigkeiten des Registrierens, Konstatierens und Repräsentierens zählten (vgl. s. 189), sondern als bloße Akte im Hier und Jetzt, die sich danach sofort wieder in Luft auflösen, wofür er – worauf auch in der Einleitung zu seinem Aufsatz hingewiesen wird (S. 182-183) – offenbar den Begriff des „Performativs“ von John L. Austin falsch verwendet. Denn während Barthes offenbar glaubte, eine performative Handlung habe nicht mehr Sinn, als in ihr selbst liege und sie entstehe und vergehe mit Beginn und Ende ihres einen Akts („Performativ“ - „eine seltene Verbalform, die auf die erste Person und das Präsens beschränkt ist und in der die Äußerung keinen anderen Inhalt (keinen anderen Äußerungsgehalt) hat als eben den Akt, durch den sie sich hervorbringt“ (S. 189)), ist für Austin der Erfolg einer performativen Handlung essentiell abhängig von der Situation, in der sie geschieht und davon, ob der Sprecher/Handelnde von den anderen die Autorität zugestanden bekommt, die performative Handlung auszuführen.

Hieraufhin setzt der Autor (Roland Barthes) ab und setzt völlig neu – und ganz woanders – an (d.h. die Wandlungen des modernen Textes durch die Abwesenheit der Autorschaft, die er soeben mit der Zeit als ersten Punkt begonnen hatte, verfolgt er nicht weiter), indem er auf die Originalität des Schriftstellers zu sprechen kommt:

„Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die >Botschaft< des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.“ (S. 190, Hervorhebungen durch Kursivschrift im Original)

Die „einzige Macht“ des Schreibers bestehe darin, „die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren, ohne sich jemals auf eine einzelne von ihnen zu stützen“, so Barthes (ebd.). Diese Argumente gehören zu der Klasse, mit der man junge, unbedarfte StudentInnen erschreckt: Ein Text sei ja gar keine originale Aussage eines Menschen, sondern bloß ein „Gewebe aus Zitaten“. Die jungen Leute, die das hören, sind dann zuerst ganz verwirrt und betroffen und können es gar nicht fassen. In Wirklichkeit liegt dieser Argumentation von Barthes eine ganz einfache Argumentationsstrategie zugrunde, welche lautet: Richte dir deinen Gegner, den du zu Fall bringen willst, zuerst ein wenig her, damit er dann leichter umfällt, sobald du ihn stößt. Der Gegner Barthes’ ist der Autor (warum, weiß man nicht), und dieser wird nun „hergerichtet“, indem zwei Forderungen an ihn übertrieben werden: Erstens, der von ihm geschaffene Text muss eindeutig sein und darf also nur einen „einzigen, irgendwie theologischen Sinn [enthüllen]“ und zweitens muss er originell sein, also wohl mit der Person seines Urhebers in einem solch exakten Verhältnis der Unverwechselbarkeit stehen, dass es unvorstellbar ist, jemand anderer könnte den Text geschrieben haben.

Dazu ist zu sagen, dass literarische Texte zum Glück mehrere Interpretationen zulassen (aber nicht beliebig viele), was den LeserInnen überhaupt erst die Möglichkeit gibt, sie selbst zu lesen; denn wäre in ihnen jeweils nur ein einziger, wenn auch schwer zugänglicher Sinn verborgen, dann dürften die LeserInnen schon nicht mehr lesen, weil es immer gelehrtere und berechtigtere Individuen als sie selber gäbe, die sich in der Position sehen, ihnen die literarischen Werke zu erklären. Also, das wäre das Ende des Lesens. Mit einem Wort, die Vorstellung, wonach literarische Texte nur einen einzigen Sinn haben, ist ohnehin eine Undenkbarkeit und berechtigt daher nicht zur Gegenposition, wonach sie bloß „Gewebe aus Zitaten“ sind.

Wenn man jedoch Individualität mit Originalität gleichsetzt, um dadurch die Individualität des Autors, welche hinter dem Text erscheint, zu treffen, dann missversteht man nicht nur die Idee des Autors, sondern das Wesen der menschlichen Individualität überhaupt: Menschliche Individualität besteht nicht in Originalität, sondern darin, dass der Stein, der mir auf den Fuß gefallen ist, nur mir weh tut – und meinem Nebenmenschen, dem das nicht passiert ist, nicht. Das Wunder der menschlichen Individualität besteht darin, dass wir uns in einen Körper und in Umstände hineinversetzt sehen, die allesamt nicht originell sind (sondern bisweilen wie billige Massenware erscheinen) und wir aber trotzdem erstaunt feststellen müssen, dass wir genau an dieser Stelle, wo wir uns ins Leben geworfen vorfinden, drinnen stecken. Auch die Forderung nach Originalität an den Autor als Rechtfertigung seiner Existenz ist also unberechtigt; sie löst die Individualität des Autors nicht auf, und berechtigt auch nicht dazu, den einzelnen Text in die Schrift aufzulösen.

Nun folgt wieder eine eigenartige Aussage Barthes’:

„Als Nachfolger des Autors birgt der Schreiber keine Passionen, Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke mehr in sich, sondern dieses riesige Wörterbuch, dem er eine Schrift entnimmt, die keinen Aufenthalt kennt. Das Leben ahmt immer nur das Buch nach, und das Buch ist selbst nur ein Gewebe von Zeichen, eine verlorene, unendlich entfernte Nachahmung.“ (S. 190-191, Hervorhebung durch Kursivschrift im Original)

Freilich kann man keinem Autor verbieten, emotionslos zu schreiben, auch das gewährt die Freiheit der Literatur. Aber an dieser Stelle nährt sich doch der Verdacht, dass Roland Barthes die Sache der Literatur dermaßen verkehrt herum anpackt, dass er auch die Richtungen von Herkommen und Hinkommen, Ursprung und Ziel verwechselt. So hat ja ein literarisches Werk nicht deshalb einen Autor, weil es originell wäre, weil es originale und unverwechselbare Befindlichkeiten des Autors mitteilt und weil dieser Autor wahre Emotionen habe, die es wert sind, mitgeteilt zu werden, sondern ganz umgekehrt: Ein literarisches Werk kann eine Weise sein, um zu versuchen, einen Autor entstehen zu lassen, an den Wert der Originalität sich zumindest anzunähern und Emotionen ihre Bedeutung zu verleihen. Dass etwas nicht stimmen kann mit Barthes’ Literaturkonzeption, sieht man jedenfalls an der zitierten Stelle, an der Barthes den Autor/Schreiber zurechtbiegen muss, ihn gefühllos machen muss, damit er ihm in sein Literatur- und in sein Schriftkonzept passt. Dabei haben sicherlich viele schon emotionslos geschrieben, die Sache ist nur: Schreiben ist schwer, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass viele AutorInnen sich selbst besonders motivieren mussten und müssen, um zu schreiben.

Aber jetzt wird es erst richtig interessant: Wenn es nämlich keinen Autor gibt, dann ist auch das Ziel nicht sinnvoll, den Text oder das literarische Werk verstehen zu wollen:

„Die Abwesenheit des Autors macht es ganz überflüssig, einen Text >entziffern< [>dechiffrer<] zu wollen. Sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift angehalten. Diese Auffassung kommt der Literaturkritik sehr entgegen, die es sich zur Aufgabe setzt, den Autor (oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit) hinter dem Werk zu entdecken. Ist erst der Autor gefunden, dann ist auch der Text >erklärt<, und der Kritiker hat gewonnen.“ (S. 191, Hervorhebungen durch Kursivschrift im Original)

Was hier so interessant ist, hängt damit zusammen, dass die heutige Literaturwissenschaft (die sich als Kulturwissenschaft und historische Textwissenschaft versteht) durch Erkenntnisse des Poststrukturalismus veranlasst, die ähnlich jenen von Roland Barthes davon überzeugen wollen, dass keinen Sinn mehr habe, bei der Interpretation von literarischen Werken danach zu forschen, was „der Autor uns sagen wollte“, ihr Selbstverständnis als Literaturwissenschaft eingebüßt und sich als Kulturwissenschaft neu konstituiert hat. In der Folge sucht sie nun im literarischen Text nicht mehr nach der Autorintention, sondern danach, was die Gesellschaft, die Geschichte oder die Kultur in ihm zum Ausdruck gebracht hat. Interessant ist nun insbesondere, dass diese heutige Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft sich auf Roland Barthes – eigentlich – nicht berufen kann, weil er, dem zitierten Textausschnitt nach, auch die Autorenkonstitution auf höheren Ebenen (die Gesellschaft habe das Buch geschrieben, die historische Epoche habe es getan, etc.) eindeutig ablehnt. Mit Roland Barthes ist also keine Kulturwissenschaft zu treiben.

Nach Barthes kann ein literarisches Werk überhaupt nicht verstanden oder interpretiert („entziffert“) werden, sondern bloß „entwirrt“, womit er die Nachvollziehung von dessen Struktur „in allen ihren Wiederholungen und auf allen ihren Ebenen“ (S. 191) meint. Aber – und hier wird es wiederum interessant – „Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen. Sie führt zu einer systematischen Befreiung vom Sinn. Genau dadurch setzt die Literatur (man sollte von nun an besser sagen: die Schrift), die dem Text (und der Welt als Text) ein >Geheimnis<, das heißt einen endgültigen Sinn, verweigert, eine Tätigkeit frei, die man gegentheologisch und wahrhaft revolutionär nennen könnte. Denn eine Fixierung des Sinns zu verweigern, heißt letztlich, Gott und seine Hypostasen (die Vernunft, die Wissenschaft, das Gesetz) abzuweisen.“ (S. 191)

Das bedeutet, diese Konzeption von Schrift, die Roland Barthes, wie ich gezeigt habe, in diesem Text zumindest als eine mythische einführt, hat dezidiert den Zweck, die Wissenschaft abzuweisen. Es handelt sich bei Barthes’ „Tod des Autors“ um ein eindeutig antiwissenschaftliches Konzept, das die Literaturwissenschaft von der Interpretation literarischer Texte abhalten soll dadurch, dass es ihr den eindeutigen Sinn, die eindeutige Bedeutung desselben als Ziel der Interpretationsarbeit entzieht. Es ist von daher verblüffend, dass dieser Aufsatz von Barthes, anstatt von Anfang an aus der Literaturwissenschaft ausgeschlossen zu werden, es bis in die Pro- und Einführungsseminare derselben geschafft hat.

Am Ende seines Aufsatzes zieht Roland Barthes noch einen unvernünftigen Schluss. Er behauptet nämlich, auf den eingangs von Honoré de Balzac zitierten Satz zurückkommend, nur im Leser komme die Einheit des Textes zustande und damit der Leser leben könne, müsse der Autor sterben.

„Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt – wobei dieser Zielpunkt nicht mehr länger als eine Person verstanden werden kann. Der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie. Er ist nur der Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt.“ (S. 192, Hervorhebung durch Kursivschrift im Original)

Dass dasjenige, was hier behauptet wird, Unsinn ist, ist offensichtlich, denn natürlich haben die LeserInnen jeweils eine Geschichte, eine eigene Biographie und besondere psychische Dispositionen, die bei ihrem Textverständnis mitwirken. Barthes baut hier nur sein verdrehtes und verbogenes Theoriegebäude fertig, in welchem alle Rechte an der Textinterpretation, weil sie der Autor verloren hat, folgerichtig dem Leser übertragen werden müssen. Folgerichtig ist irgendwie auch, dass, wenn schon der Autor seine Originalität verliert und die Sprache, die Schrift ihre Fähigkeit, authentische Erlebnisse oder Emotionen eines Menschen zu transportieren, auch der Leser Individualität und Persönlichkeit verlieren muss. Ungeklärt aber bleibt, warum er sie verlieren soll und welche Zielvorstellung Barthes damit verfolgt.

Ich habe bereits betont, dass Barthes’ Darstellungsweise eine mythische und eine auf den Modus des Behauptens und Beschwörens aufgebaute ist und keine wissenschaftliche, philosophische oder argumentative. Aus diesem Grund ist auch alles in ihr im Einzelnen längst nicht so unausweichlich, wie es scheint. Aber wie würde denn eine Gegenkonzeption zu Barthes’ Gebilde aussehen? Nun, man könnte sagen, dass, wenn die Literaturkritik (oder Literaturwissenschaft), beginnend mit dem Geniekult der Romantik und bis hin zur Autorbiographie-versessenen Literaturinterpretation an den Universitäten in Frankreich zu Roland Barthes’ Zeiten (der Aufsatz ist 1967 auf Englisch und 1968 auf Französisch erschienen), auf der einen Seite der Skala das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat, dann hat Barthes, um eine extreme Gegenposition zu formulieren, dasselbe am anderen Ende dieser vorgestellten Skala getan.

Die Wahrheit wäre demnach zwischen den beiden Extrempunkten zu suchen: Wer sagt denn, dass, wenn man an den Autor glaubt, sich das auf den wirklichen Autor beziehen muss, der einmal gelebt hat und dessen Biographie man erforschen kann? Man kann sich den Autor ja auch vorstellen. Das heißt, man kann den Leser ohne weiteres in seine Rechte setzen, ohne sie dem Autor vollständig zu nehmen. Das würde auch bedeuten, dass man den Leser nicht zu einem geschichtslosen, biographielosen und gefühllosen Unwesen verkrüppeln müsste (nachdem man vorher schon den Autor zu einem gefühllosen, passionslosen Schreiber verkrüppelt hat), damit er einem ins Konzept passt. Die Künstlichkeit von Barthes’ Konzept sticht also ins Auge, während sein eigentliches Ziel, welches ihm seinen Sinn gibt, fehlt, sodass man es nicht verstehen kann. Anstatt dessen ist es anscheinend auf herkömmlichen Vorurteilen (Originalität des Autors, Eindeutigkeit des Textes, etc.) aufgebaut, zu denen es sich in einen Gegensatz setzt, ohne dass es eigentlich nötig wäre, diese alten Vorurteile zu übernehmen. Wenn ich jetzt wieder witzig oder böse sein wollte, würde ich ja sagen: Die Manier, die Autorbiographie bei der Textinterpretation absolut zu setzen, nützte der Literaturwissenschaft (weil dazu viel Wissen vonnöten ist) genauso wie post Barthes’ die intertextuelle und/oder kulturwissenschaftliche Interpretation von Texten, welche ebenfalls ein großes Umfeldwissen voraussetzen, der Literaturwissenschaft dienlich sind, um sich vom einzelnen Leser/der einzelnen Leserin als Individuum abzusetzen, auf denselben/dieselbe herabzuschauen und ihn/sie zu bevormunden. Mit oder ohne Autor, jede der beiden Konstellationen nützt also der Literaturwissenschaft.

Nun gut, aber was mir eigentlich falsch herum an Barthes’ Konzept erscheint, und was meiner Argumentation ihren Sinn verleiht, ist dieses: Die autorzentrierte Literaturwissenschaft suchte offenbar den Sinn des Textes in dessen Ursprung, in der Autorintention. Barthes dagegen sagt, das funktioniere nicht und er reduziert die Textinterpretation deshalb auf einen Nachvollzug der strukturellen Gemachtheit des Textes. Damit sucht er in derselben Richtung, er tritt nur einen Schritt kürzer als die etablierte Literaturwissenschaft seiner Zeit. Aber warum nicht die Denkrichtung umdrehen? Warum fragt man immer danach, wo der literarische Text herkommt und nicht dazu, wozu er gut ist? Es ist ja möglich und sogar sehr wahrscheinlich, dass sich ein literarisches Werk nicht auf einen Autor zurückführen lässt, welcher originell war und durch sein Werk uns eine eindeutige Botschaft hinterlassen hat. Aber wie ist es mit der These, dass Literatur unter anderem dazu da ist, so etwas wie einen Autor (und einen Leser), so etwas wie Individualität erst zu erschaffen und ein Verständnis davon zu geben? Der Autor/die Autorin ist nicht tot, selbst wenn er nur eine Projektion des Lesers/der Leserin ist. Nicht die Geburt des Lesers muss mit dem Tod des Autors bezahlt werden, sondern mit dem Tod des Autors stirbt (wie wir gesehen haben: geschichtslos, biographielos, psychologielos) der Leser mit.

Das einzige Argument, mit dem ich mich in dem Fall noch auseinanderzusetzen hätte, wäre die Behauptung, wonach Autor und Individualität rein moderne Erfindungen wären. Ich kenne diese Behauptung von vielen Autoren (auch z.B. von Adorno) und traue ihr doch nicht über den Weg. Dagegen bin ich der Meinung, dass Individualität auch schon in den Platonischen Dialogen, in den Schriften von Seneca und in den Bekenntnissen von Augustinus sichtbar ist. In anderen und zum Teil späteren Werken ist sie dann wiederum nicht mehr sichtbar. Aber sie ist auch heute nicht überall sichtbar, z.B. nicht in Schlagertexten, denen ihr Gemachtsein für den Massenabsatz deutlich anzusehen ist. Es ist also nicht so, dass „die Gesellschaft“ in der einen Epoche Individuen entstehen lässt, während sie sie in der anderen Epoche verhindert, sondern die Lebensumstände, die Menge an Arbeit, der Mangel an Freizeit und Wohlstand verhindern es in allen Epochen, dass Menschen ihre Individualität entwickeln.

Damit wäre auch Barthes’ historischem Argument widersprochen, wonach der Autor immer schon nicht existierte und sich in bloße Erzählkonvention auflöste (vgl. S. 186), nach dem europäischen Mittelalter durch die Gesellschaft entstand und sich mit der Moderne schon wieder an seinem Endpunkt und seiner Auflösung befinde. Der Autor ist aus meiner Sicht vielmehr die Frage, was wir von der Literatur haben wollen. Ob wir von Literatur haben wollen, dass sie die Leistung erbringe, Autoren hervorzubringen, Leser hervorzubringen, Individualität zu schaffen und der Originalität zumindest nahe zu kommen? Oder ob wir wollen, dass Literatur – und Schrift überhaupt – sinnloses und für den Menschen unattraktives Geschreibsel werde?

Zusammenfassend ließe sich sagen, dass Roland Barthes' Aufsatz nicht viel Überzeugungskraft hat und auch keine starken Argumente beinhaltet - die einzig vernünftige Frage, die an ihn zu stellen wäre, ist also vielleicht: Durch welche gesellschaftlichen Umstände und welche historischen Zufälle hat er eine solche Berühmtheit erlangte, wie das der Fall ist? Denn diese Berühmtheit steht im auffallenden Widerspruch zu ihm selber.

19. Jänner 2010

 

© helmut hofbauer 2010