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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Notiz über die Liebe


“All you need is love“

(The Beatles)


Ich glaube, dass die Liebe eine viel zu gute Presse hat – und dass man sie durch ein menschlicheres Prinzip ersetzen sollte.

Liebe ist nämlich vor allem eines: unbarmherzig.
Das zu sehen fällt uns aber schwer, weil in unserer Kultur irreführende Bilder von der Liebe gepflegt werden.

Das prominenteste Beispiel ist sicherlich die christliche Nächstenliebe: Alle Sorten von Zuneigung – mütterliche Liebe, Barmherzigkeit etc. – sind da zusammengeworfen worden, alle negativen Aspekte ausgeblendet, und das Ergebnis war ein sozialer Universalklebstoff, der jedem Menschen wohltut. Wohltäte, denn die Nächstenliebe beruht auf einer unrealistischen Idealisierung der Liebe.

Dann wird gern herbeizitiert: die Mutterliebe. Jemanden zu lieben wie die Mutter ihr Kind. Uneigennützig und rein. Das Problem mit dem Vergleich ist: Die Mutterliebe in ein Trieb. Unter den Gefühlen menschlicher Zuneigung ist sie eine ganz besondere Art; nicht identifizierbar mit dem, was wir üblicherweise „Liebe“ nennen.

Wir alle habe auch das „Make love, not war!“ der 68er Popkultur im Ohr. Wenn es einen Preis für die dümmste Aussage gäbe, müsste man ihn dieser Parole verleihen. Denn die Menschen führen Kriege gewöhnlich nicht aus dem Gegenteil von Liebe, aus Hass, wie dieser Spruch vorauszusetzen scheint. Sondern üblicherweise können sie ihre Feinde im Krieg gar nicht hassen, weil es Menschen, die tausende Kilometer entfernt leben und die sie gar nicht kennen.

Schließlich gibt es noch das weitverbreitete Bild von der Liebe, wonach Liebe auf Sympathie, auf der gegenseitigen Anziehung zweier Seelen beruhe. Egal, wie jemand aussieht, verliebt man sich dieser Vorstellung nach in denjenigen Menschen, der einen am besten ergänzt – sei es, dass er einem am ähnlichsten ist oder, nach der Philosophie „Gegensätze ziehen einander an!“, dass er einem im passenden Verhältnis unähnlich ist.

Es hat sich, in Summe, ein ganzes Propagandasystem entwickelt, das nur eine Botschaft hat: Alles, was Liebe ist, ist gut, und alles, was nicht Liebe ist, ist böse.
Aber alle diese Vorstellungen entsprechen nicht der Liebe, wie wir sie in der Realität erleben. Was erfahren wir denn, wenn wir der Liebe begegnen?

Wir erfahren, dass es attraktive und beliebte Menschen gibt, die geliebt werden, und unattraktive und unbeliebte Menschen, die lieben und sich um die Gegenliebe der beliebten Menschen bemühen.

Das ist der erste Punkt, an dem die mir von der Gesellschaft vermittelten Auffassungen mit meinen eigenen Erfahrungen in Widerspruch geraten: Liebe beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Auch wenn das unsere Kultur immer wieder behauptet, beobachten lässt sich das nicht.

Beobachten lässt sich, dass unbeliebte Menschen beliebte Menschen umwerben, und die beliebten Menschen lassen sich durchaus auf Beziehungen mit den unbeliebten ein. Allerdings nicht umsonst: Der unbeliebte Mensch muss ihnen etwas zu bieten haben.

Für den beliebten Menschen ist die Liebe eine Gelegenheit zum sozialen Aufstieg und zur Verbesserung der Lebensqualität. Er lehnt sich zurück, lässt den unbeliebten Menschen vorsingen und fragt sich: „Was will er mir denn geben, damit ich ihn erhöre?“

An dem Punkt zeigt sich bereits der unbarmherzige Charakter der Liebe. Denn was passiert, wenn der werbende unbeliebte Mensch dem beliebten Menschen seine Zuneigung in reiner und zärtlicher Weise zeigt? Dann wird der beliebte Mensch zu dem Urteil kommen: „Das ist ein Weichling, ein Verlierer, der nicht die Härte hat, um sich in der Gesellschaft durchzusetzen und sich diejenigen Ressourcen zu erwerben, die er an mich weitergeben kann!“ Umwirbt der unbeliebte Mensch den beliebten Menschen also liebevoll, dann fällt er bei ihm durch.

Unbarmherzig behandelt auch der beliebte Mensch den unbeliebten. Das ist kein Wunder, schließlich wird er von vielen Menschen umworben. Er behandelt den unbeliebten Menschen so, als wollte er ihm sagen: „Schau, es sind so viele Menschen hinter mir her, dass meine Geduld zu Ende ist. Wenn du es also nicht mit mir aushältst, obwohl ich dich schlecht behandle, dann bist du nicht mein Fall. Meine Launen zu ertragen, ist sozusagen der Preis, den zu zahlen du dich von vornherein einverstanden erklären musst, wenn du meine Gegenwart suchst.“

Und sobald sich dem beliebten Menschen ein anderer unbeliebter Mensch anbietet, der mehr zu bieten hat als der gegenwärtige Liebhaber, wird dieser einfach ausgetauscht. Denn der beliebte Mensch ist schließlich nicht aus Sympathie mit dem unbeliebten zusammen, sondern weil er ein gutes Geschäft sucht.

Nun wird man fragen: Aber warum sucht denn ein beliebter Mensch nicht die Gesellschaft eines anderen beliebten Menschen? Es gibt zwei Gründe, warum er das nicht macht: Erstens, auf diesem Wege könnte er nichts gewinnen. Am Ende kommt es vielleicht noch darauf raus, dass er selbst mehr in die Beziehung investieren muss, als er rausbekommt – damit hätte er den Vorteil, ein beliebter Mensch zu sein, verspielt.

Zweitens, ein beliebter Mensch hat ja nicht das Bedürfnis, geliebt zu werden, so wie ein unbeliebter Mensch es hat. Man muss auch versuchen, die Welt aus dem Blickwinkel anderer Menschen zu sehen. Ein beliebter Mensch bekommt über Jahre hinweg die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen geschenkt. Er wird mit Liebe überschüttet. Der Wert der Liebe sinkt für ihn auf den eines leicht verfügbaren Guts, etwa auf den von Leitungswasser, Sand oder Kieselsteinen. Wenn er nicht gar bisweilen in den negativen Bereich sinkt, weil der beliebte Mensch genervt ist und beginnt, die Zuneigung seiner Mitmenschen als klebrig zu empfinden.

Was also liegt näher als dass der beliebte Mensch sagt: „Liebe, na gut, aber nur, wenn ich was dafür bekomme.“ In der Liebe verkauft der beliebte Mensch seine Haut so teuer wie möglich.

Liebesbedürftig ist nur der unbeliebte Mensch. Er verfällt der Illusion, dass seine Liebe vom beliebten Menschen irgendwann einmal erwidert werden wird, wenn er ihm irgendwann einmal genug geschenkt haben wird. Aber das findet nicht statt. Denn Liebe bekommt man nur dafür, dass man ein attraktiver und beliebter Mensch ist, nicht aber dafür, dass man sich liebenswürdig verhält oder dass man viel für einen anderen Menschen tut. Der unbeliebte Mensch bleibt also lebenslänglich der Butler und Zahlesel des beliebten Menschen, ohne je einen Dank zurückzubekommen.
Man wird fragen: „Warum tut sich ein unbeliebter Mensch nicht mit einem anderen unbeliebten Menschen zusammen, mit einem, der genauso sehr nach Liebe lechzt wie er selber?“ Ja, das erscheint logisch, entspricht aber nicht dem Bedürfnis des unbeliebten Menschen. Denn der unbeliebte Mensch ist ja deshalb liebesbedürftig, weil er sein Leben lang ein hässliches Entchen gewesen ist, das nie erleben durfte, wie sich das Leben als prächtiger Schwan anfühlt. Wenn er sich jetzt mit einem anderen unbeliebten Menschen zu zweit in einem kleinen Club der Verlierer zusammentut, dann erlangt er genau das nicht, wonach er dürstet: Anerkennung durch jemanden, der selbst von anderen Menschen Anerkennung erhält.

Also nicht die Anerkennung eines Schmuddelkinds, eines Idioten oder eines Seltsams, sondern die eines ganzen Menschen, durch die der unbeliebte Mensch erfährt, dass er auch Teil der menschlichen Gemeinschaft ist: durch die er die Gruppe der Ausgeschlossenen hinter sich lassen kann und Aufnahme in die Gemeinschaft vollwertiger Menschen findet. Aber eine solche Anerkennung kann er nur durch einen beliebten Menschen erlangen, also eines Menschen, der aufgrund seiner Beliebtheit bei anderen Menschen ganz offenbar im Mittelpunkt der menschlichen Gemeinschaft steht.

Fassen wir noch einmal zusammen:

  • Liebe beruht nicht auf Gegenseitigkeit, sondern ist eine Einbahn: Ein unbeliebter Mensch liebt einen beliebten Menschen, dieser lässt sich lieben.
  • Der beliebte Mensch verhält sich grob gegenüber dem unbeliebten Menschen, weil er zu viel Liebe und Aufmerksamkeit von unbeliebten Menschen erfährt und die Schnauze voll davon hat.
  • Der unbeliebte Mensch muss sich grob gegenüber dem beliebten Menschen verhalten, sonst meint der beliebte Mensch, der unbeliebte sei ein Lulu, ein Schwächling, der unfähig ist, sich unter Menschen durchzusetzen und dem beliebten Menschen zu Gütern zu verhelfen, die dieser allein nicht erlangen kann.
  • Wenn der unbeliebte Mensch den Erwartungen des beliebten Menschen entspricht, darf er eine Stelle als dessen persönlicher Butler antreten, die gewöhnlich als „Beziehung“ oder „Partnerschaft“ bezeichnet wird. Entspricht der unbeliebte Mensch den Erwartungen des beliebten Menschen nicht (mehr) oder findet der beliebte Mensch eine bessere Option, wird der unbeliebte Mensch als Liebhaber ausgetauscht.

Dieses Programm der Liebe nimmt auf persönliche Befindlichkeiten keine Rücksicht. Persönliche Sympathie hat darin keinen Platz. Es kennt auch keine Dankbarkeit. Es beschreibt eine sado-masochistische Beziehungsdynamik. Es ist so unbarmherzig und inhuman, dass für dasjenige Prinzip der Menschlichkeit, das wir mit ihm ausdrücken wollen, ein anderer Begriff gesucht werden sollen. Zur Wahl stehen: Zuneigung, Barmherzigkeit, Mitgefühl, Freundschaft, Menschlichkeit, Herzenswärme etc. Was auch immer wir wählen mögen, es ist alles besser als: Liebe.


19. November 2018

© helmut hofbauer 2018