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Weibliche Triebe unter Bedingungen ökologischer Entlastung in beschleunigtem Leerlauf

Rezension von Wednesday Martin:

Die Primaten von der Park Avenue. Mütter auf High Heels und was ich von ihnen lernte.

Piper Verlag, München 2016. Lizenzausgabe des Berlin Verlags. 319 Seiten.

 

„So viele dürre Frauen,
so viele monströse Handtaschen“
(S 97)

Wednesday Martin ist Anthropologin und Sozialforscherin, studierte in Yale und lehrte an der New School for Social Research in New York (Umschlagtext). Sie hat zwei eigene Kinder und führte ca. 6 Jahre Feldstudien in der Upper East Side von Manhattan mit ca. 150 Müttern von kleinen Kindern durch, die auf ca. 1 km2 lebten (S. 289)

Von der Verweigerung der Selbstverwirklichung

Was würden Sie tun, wenn Sie alles hätten, was Sie zum Leben brauchen? Keine Frage: Sie würden tun, was Sie wollen. Sie sind ja jetzt frei dazu. Sie sind dann ja im Besitz der entsprechenden Mittel.

Eine solche Lebenssituation beschreibt der Ausdruck „ökologische Entlastung“:
„Die Inselbewohner leben in einem Zustand ökologischer Entlastung – Ressourcen wie Nahrungsmittel und Wasser sind reichlich vorhanden und leicht verfügbar, Krankheiten sind selten, Fressfeinde fehlen. In dieser Nische beispiellosen Überflusses können die Wohlhabendsten unter den Insulanern unbelastet von aller materiellen Not kräftig in jeden einzelnen ihrer Nachkommen investieren und elaborierte, komplexe soziale Codes und Riten entwickeln, deren Befolgung zeit-, arbeits- und ressourcenintensiv ist.“ (S. 27)

Die erste Haupterkenntnis aus dem Buch Die Primaten von der Park Avenue besteht, darin, dass die Mütter in der Upper East Side von Manhattan, die nicht arbeiten müssen, weil sie von ihrem Ehemann versorgt werden und die materiell so gut versorgt sind, dass sie nicht nur bequem leben können, sondern sich auch allerlei teure Genüsse gönnen können, in ihrer Lebenssituation nicht tun, was sie tun wollen und worauf sie Lust haben.

Und – was tun sie anstatt dessen? Im soeben gebrachten Zitat steht, dass sie arbeitsaufwendige Riten entwickeln. Ja, das tun sie auch, aber vor allem spielen sie das Statusspiel (und all die komplexen Codes und Riten sind nur Instrumente in diesem Statusspiel).

Man beobachtet hier also ein Phänomen, das mir schon anderwärtig immer wieder aufgefallen ist: Wenn die Menschen in der Maslowschen Bedürfnispyramide so hoch aufgestiegen sind, dass alle ihre Bedürfnisse befriedigt sind, inklusive der Bedürfnisse nach sozialem Status und Anerkennung, und nun eigentlich die Selbstverwirklichung dran wäre, dann wehren sich die Menschen gegen die Selbstverwirklichung. Sie scheinen eine starke instinktive Abneigung gegen die Selbstverwirklichung zu haben. Stattdessen bleiben sie lieber auf der Bedürfnisebene der sozialen Anerkennung und spielen das Statusspiel mit erhöhtem Einsatz weiter. Sie kämpfen darum, wer von ihnen der Wichtigste ist, wer auf wen verächtlich herabschauen darf und wer sich das gefallen lassen muss – und dabei haben sie nicht das Gefühl, ihre kostbare Lebenszeit zu verschwenden.

Abraham Maslows Idee bestand ja darin, dass die Menschen, wenn sie ihre Bedürfnisse auf einer Hierarchieebene erfüllt hätten, zur nächsthöheren Ebene fortschreiten würden. Das impliziert, dass sie zur Ebene der Selbstverwirklichung fortschreiten würden, sobald ihre Bedürfnisse nach Anerkennung und Geltung erfüllt sind. Wednesday Martins Beobachtungen scheinen ein (weiterer) Beweis dafür zu sein, dass Maslows optimistische Sicht der menschlichen Persönlichkeit ganz einfach nicht stimmt: Menschen, die alles haben, gehen dann nicht dazu über, Dinge zu tun, die sie persönlich weiterbringen, oder etwas zu lernen, was für sie von existenzieller Bedeutung ist, sondern sie streben noch mehr nach Geltung und Anerkennung.

Und da das Statusspiel ein zweischneidiges Schwert ist – man muss nämlich jemand anderen demütigen, um sich selber über ihn stellen zu können – lässt es sich auch ewig weiterspielen, ohne dass es von selbst ein Ende finden könnte.

Für mich ist diese Einsicht insofern von Bedeutung, weil mich die Tatsache beschäftigt, dass die meisten Menschen Philosophie ablehnen. Und: Philosophie ist ja Selbstverwirklichung durch Nachdenken und Erkenntnis. Nun ist es so, dass viele ihre Ablehnung der Philosophie mit ihrem Mangel an Nutzen rechtfertigen. Diesen Vorwurf kann man dann – je nachdem, welchen Nutzenbegriff man anlegt – verschieden diskutieren.

Aber das scheint mir doch alles eine Spiegelfechterei gegen einen vorgetäuschten Gegner zu sein. Ist nicht viel plausibler, dass die Menschen einfach eine starke instinktive Abneigung gegen das Philosophieren empfinden, ebenso wie sie eine starke instinktive Abneigung gegen Selbstverwirklichung haben?
Die Menschen wehren sich mit Händen und Füßen gegen die Philosophie. Das ist dasjenige, was sich beobachten lässt. Und es scheint mir deshalb sinnlos zu sein, Gründe finden zu wollen (z.B. in Gestalt von Nutzenargumenten), um sie davon zu überzeugen, dass ihnen Philosophie etwas bringt oder dass sie philosophische Inhalte persönlich etwas angehen. Sie wollen Philosophie nicht – und wenn man etwas nicht will, dann kann es einem auch nichts bringen.

Nichtsdestotrotz, bemerkenswert ist diese allergische Ablehnung der Philosophie schon. Ich frage mich dann halt nach den möglichen Ursachen und verfalle auf Kandidaten wie das: „Wenn man über die Dinge nachdenkt, könnte es sein, dass man auf etwas draufkommt, das einem nicht gefällt.“ Es erscheint mir zumindest verständlich, dass viele Menschen sich nicht mit sich selbst beschäftigen wollen, weil sie dabei innere Abgründe zu Gesicht bekomme könnten, vor denen sie erschrecken würden. Aber was ist die Alternative? Die Alternative besteht darin – und eben das wird auch in Wednesday Martins Buch sehr deutlich – dass man nicht selbstbestimmt lebt, sondern dem Statusspiel, mit dem die anderen Menschen rundum ihre Zeit verbringen, ganz ausgeliefert ist.

Vom Streben der Frauen, Manhattan-Geishas zu werden

Anstatt sich selbst zu verwirklichen oder einfach zu tun, worauf sie Lust haben, trachten die Mütter der Upper East Side aus sich das zu machen, was Martin scherzhaft „Manhattan-Geishas“ nennt. Sie versuchen durch Training im Fitness-Center, Abmagerungskuren, exquisite Kleidung und perfektes Makeup sowie dem tadellosen Management ihrer Kinder so etwas wie ein Idealbild von Weiblichkeit zu realisieren.

Zwei Fitnesscenterketten sind unter den Frauen in der Upper East Side popular: Physique 57 und SoulCycle. Martin entscheidet sich für Physique 57, das Übungsstunden mit einer Dauer von jeweils 57 Minuten an Übungsstangen wie beim Ballett anbietet. Martin erlebt die erste Übungsstunde als absolut spaßlos und fühlt sich danach drei Tage lang krank. Trotzdem geht sie danach wieder hin und steigert ihre Besuchsfrequenz sogar auf täglich, wobei sie berichtet, dass manche Frauen sich dieser Tortur sogar 2x täglich unterziehen.

„Ich sah mich nach den anderen Frauen um, versuchte, einen Blick zu erhaschen… […] wenn andere normalerweise die Brauen heben oder lächeln, um mitzuteilen: „Du bist nicht allein.“ Nichts. Kein Lächeln im Raum. Kein Wort. Die Frauen wandten den Blick ab… […] Ja, waren wir denn hier in der U-Bahn? Noch nie hatte ich ein so mörderisches Training in einem Raum absolviert, der so bar jeder humorvollen, freundlichen Kameraderie war. Oder so totenstill.“ (S. 153)


„All das Training, all das eifrige, beflissene Bestreben, eine besondere Art fabelhafter, fitter und schicker Manhattener Geishas mit Kindern zu sein…“ (S. 164) Geishas sind eine japanische Tradition, bei der junge Frauen von älteren Geishas in so genannten Okiyas, einer isolierten, streng hierarchischen Welt zu „untadeligen Gastgeberinnen“ ausgebildet wurden. Dafür war ein jahrelanges Studium „vonnöten, um die scheinbar mühelosen, durchchoreographierten Riten und Rituale des Geishatums zu meistern, um zu lernen, „nach Art der Geishas“ schön zu sein.“ (S. 163) Als Geishas verkörpern sie das „am höchsten gepriesene kulturelle Weiblichkeitsideal“ und haben sich dadurch „die Bewunderung der gesamten Gesellschaft verdient“. (S. 164)

Frauen wollen nur Frauen beeindrucken

Mit der Geisha-Metapher spielt Martin auf einen wichtigen Aspekt an, der ihr aufgefallen ist: eine weitgehende Geschlechtertrennung. Nicht nur beim Fitnesstraining sind die Frauen unter sich, sondern z.B. auch in den Hamptons auf Long Island, wo die Frauen mit den Kindern die Sommermonate verbringen, während die Ehemänner nur an den Wochenenden zu Besuch kamen. „Wo man in den Hamptons auch hinschaute: Frauen, Frauen, Frauen, so weit das Auge reichte.“ (S. 166) Aber auch wenn die Männer anwesend waren, blieben die Frauen Martins Erfahrung nach lieber für sich: „Auf Dinnerpartys, an denen ich teilnahm, kam es nicht selten vor, dass Frauen und Männer an verschiedenen Tischen saßen, sogar an Tischen in verschiedenen Räumen.“ (S. 166) Es flirtete auch niemand: „Ganz wie Geishas waren sie allerdings auch über Sex erhaben. […] Die Frauen in Manhattan waren zu müde, zu gestresst, zu genervt, um Sex zu haben.“ (S. 167)

Das bedeutet, die Manhattener Frauen veranstalten dieses Theater nicht für die Männer, nicht um ihnen zu gefallen (oder wenn, dann nur nebenbei), sondern für ihre Geschlechtsgenossinnen. „Sie taten es, um Bindungen an die weiblichen Stammesmitglieder einzugehen, aber auch, um an anderen Maß zu nehmen und sich mit ihnen zu messen, Tag für Tag, Abend für Abend, Veranstaltung für Veranstaltung, Trainingsstunde für Trainingsstunde.“

Man merkt schon: Ein Idealbild von Weiblichkeit zu verwirklichen, ist eine Arbeit, die nie aufhört.

Von der Weigerung zu grüßen

Wie ist nun so eine Manhattan-Geisha? Kurz gesagt: arrogant und unhöflich. Nachdem Wednesday Martin für sich und ihre Familie ein Appartment an der Upper East Side gefunden hat und es der Familie gelungen ist, den Sohn ein einem prestigereichen Kindergarten unterzubringen (was nicht leicht ist), ist die Autorin bestrebt, im Kindergarten Bekanntschaft mit anderen Müttern zu schließen, um führ ihren Sohn „play dates“ mit anderen Kindern auszumachen. Das Problem ist nur, die anderen Mütter grüßen nicht einmal:

„Diese Weigerung zu grüßen, dieses demonstrative Sich-Abwenden erfolgte meinen Beobachtungen nach meist dann, wenn die angepeilte Gesprächspartnerin eine prominente Salondame […] oder die Gattin eines reichen Mannes […] war. Eigentlich, so begriff ich ziemlich rasch, unterhielten sich diese Frauen gar nicht miteinander, vielmehr brachten sie sich in Stellung, um sich mit ein, zwei oder drei ganz bestimmten Mamis zu unterhalten. Es wurde offenbar, dass sie einen messerscharfen Blick dafür hatten, wer hier die […] ranghöchsten Weibchen waren… […]“ (S. 96)

Ihren Mann, der glaubt, das sei nur „lächerlicher Frauenkram“, schickt sie am nächsten Tag hin, und er ist sehr erstaunt: „Was zum Teufel haben diese Frauen bloß?“, fragte er nach seinem ersten Misserfolg. „Die haben ja nicht einmal auf mein Guten Morgen reagiert!“ […] Offenbar hatten sie entschieden, noch die grundlegendste […] Regel des Gesellschaftsvertrags – einen Gruß zu erwidern – sei nur für Trottel. Sie selbst waren darüber erhaben.“ (S. 97)

Was ist hier los? Wie können wir dieses Verhalten interpretieren? Wednesday Martin beschreibt es selbst mit den Worten, dass diese Frauen sich gar nicht miteinander unterhalten, sondern sich nur „in Stellung bringen“. Man kann es auch einfacher sagen: Sie kommen nicht zusammen, um etwas miteinander zu machen, sondern um einander gegenseitig zu „schneiden“ und auszuschließen.

In dem Zusammenhang darf man nicht auf einen allgemein verbreiteten Denkfehler hereinfallen, dass es nur „soziales“ und „asoziales“ Verhalten gebe, wobei mit „sozialem“ Verhalten kooperatives Verhalten mit „asozialem“ Verhalten konfliktives Verhalten gemeint ist. Dieser einfache Gegensatz verschleiert den asozialen Charakter menschlicher Sozialität:

Soziales Verhalten / asoziales Verhalten

Der Mensch ist durchaus ein soziales Wesen, aber er verwendet asoziales Verhalten zur Gruppenbildung

Soziales Verhalten (asoziales Verhalten) / asoziales Verhalten

Lies: Menschen, die sich sozial Verhalten, verwenden asoziales Verhalten, um die Gruppe gegenüber Außenstehenden zu verschließen – und das ist das Gegenteil von asozialem Verhalten.

Jedenfalls erscheint es einem als das Gegenteil von asozialem Verhalten, wenn man selbst Miglied der Gruppe ist, wenn man Außenstehender ist und Aufnahme in die Gruppe sucht, erscheint es einem als asoziales Verhalten.

Eine Ironie ist, dass soziales Verhalten im Sinne von kooperativem Verhalten von Martins Sohn schon verlangt wird: Er hinterlässt einen schlechten Eindruck, als er beim „Vorspielen“ in einem Kindergarten, ein anderes Kind anbrüllt: „GIB DAS ZURÜCK!“(S. 88), nachdem dieses ihm ein Buch aus der Hand gerissen hat. Gesellschaftliche Regeln sind widersprüchlich, was dazu führt, dass ein naiver Mensch oder einer, der ein gutes Herz hat, sie nie bis zum Boden lernt, weil sie im Grund abstoßend sind und man nicht mit ihnen leben will. Die Verwirrung wird natürlich noch dadurch gesteigert, wenn Agenten der Gesellschaft in Gestalt von Lehrpersonal mit der ihm zukommenden Autorität den Kleinen weismachen will, soziales Verhalten bestünde darin, dass man einander versteht und mit einander teilt. Wenn die Kindergartentanten den Kindern beibringen wollten wie man sich so verhält, wie es ihre Mütter tun, dann müssten sie ihnen zeigen, wie man zu zweit oder dritt ein Spiel spielt und andere Kinder nicht mitspielen lässt.

„Da sie sich der männlichen Vorliebe für Abwechslung nur allzu bewusst sind, verhalten sich Primatenweibchen, wie Untersuchungen gezeigt haben, gegenüber weiblichen Neuankömmlingen in etablierten Gruppen oft äußerst wachsam und feindselig… […] Eskalierende Aggression zwischen Weibchen […] ist ebensolchen extremen Konkurrenzsituationen vorbehalten, in denen es um hohen Fortpflanzungserfolg oder um die notwendige (oder vermeintlich notwendige) Verteidigung des Paarungsstatus oder des Nachwuchses geht.“ (S 180)

 

Das sei der Grund, warum eine Mami beim Fußballtraining sich weigerte, sich zu Martin umzudrehen oder sie zur Kenntnis zu nehmen, als diese ihr dreimal sagte, ihr Sohn würde gern bei der Sommerspielgruppe mitmachen, die sie organisierte (ebd.).

Mir will scheinen, die jeweiligen Ziele der handelnden Personen sind hier nicht relevant, um das Handeln dieser Frauen zu verstehen. Es genügt, ihr Verhalten als Methode zu begreifen: Frauen schmieden Bündnisse, um ihre Ziele zu erreichen. Das bedeutet, dass sie sich nicht individuell mit einer Konkurrentin oder Gegnerin einen Kampf liefern um festzustellen, wer die stärkere von beiden ist. Sondern sie suchen die Freundschaft einer hochrangigen Frau zu gewinnen und dann andere Frauen aus dieser vorteilhaften Beziehung auszuschließen.

„Wenn Schimpansinnen weibliche Neuzugänge aus der Gruppe ausschließen, sie ignorieren und schikanieren, dann wollen sie damit sagen: „Du stehst eine Stufe unter uns“, ohne dass sie sich oder ihren Nachwuchs jemals einem Verletzungsrisiko ausgesetzt hätten, wie es bei einem körperlichen Angriff der Fall wäre. Unter menschlichen Weibchen sind die Verweigerung von Kooperation, Rufschädigung (damit auch sonst niemand mit ihr kooperiert), die Verbreitung von Klatschgeschichten und soziale Ächtung effektive Methoden, um potenzielle Konkurrentinnen zu vernichten.“ (S 179-180)

 

Martin weist also darauf hin, dass Verweigerung von Kooperation ungefährlicher ist als körperliche Aggression. Wenn mehrere Gruppenmitglieder einem Neuzugang die Kooperation verweigern, erhält dieses auch keine Gelegenheit, sich zur Wehr zu setzen. Schließlich sind Verhaltensweisen wie „die bösen Blicke und die selbstgefällige Haltung der Königin der Bienenköniginnen und ihres Gefolges in Kindergartenfluren und Krabbelgruppen“ so subtil, dass niemand sich dagegen zur Wehr setzt, und trotzdem so wirksam wie ein „Faustschlag in die Magengrube“.

Diese Darstellung ist äußerst interessant, weil es ihr offenbar darum geht zu zeigen, dass Frauen bestrebt sind, Böses zu tun und andere Menschen zu verletzen in einer Weise, die nicht als „böse“, „Sünde“ oder „Untat“ benannt werden kann. Wenn ein Mensch dem anderen einen Faustschlag erteilt, kann man diese Verfehlung benennen und den Schläger anklagen; aber wie könnte man sich wehren, wenn eine Frau selbstgefällig durch Räume schreitet und einen dabei abfällig anschaut (oder einen nicht anschaut, sondern so tu, als würde man für sie gar nicht existieren)? Gar nicht.

Vom Rempeln mit Handtaschen

Als Wednesday Martin eines Tages von einem Lebensmitteleinkauf mit ihrer Einkaufstasche zu Fuß zurückkehrt, macht sie folgende Erfahrung: Eine einzelne, gut gekleidete Dame kommt auf sie zugeschritten und tut so, als würde sie Martin nicht bemerken. Martin weicht in Richtung der Mülltonnen aus, doch die Frau hält zügigen Schritts genau auf sie zu. Da Martin nicht mehr weiß, wie sie sich verhalten soll, bleibt sie einfach stehen. Die Frau rempelt sie mit ihrer teuren Handtasche und setzt dabei ein boshaftes Grinsen auf, dann geht sie einfach davon.

Wednesday Martin fokussiert auf dieses Verhalten und beginnt, es bewusst zu beobachten. Am Ende hat sie nahezu hundert Begegnungen dieser Art beobachtet:
„Die Frauen in der Upper East Side, besonders solche in den Dreißigern und auf dem absteigenden Ast mittleren Alters, sind völlig auf Macht gepolt, ja geradezu besessen davon. Bei vielen, wenn auch nicht allen der beobachteten Begegnungen war es die Ältere, die zum „Angriff“ auf eine Jüngere ansetzte, indem sie sich schnurgerade auf sie zubewegte, bis eine Art sozialer Krisensituation entstand und es nur deshalb nicht zum Zusammenprall kam, weil die Jüngere, oft in letzter Sekunde, hastig das Feld räumte. Danach gingen beide Akteurinnen in diesem Szenario stets einfach weiter, als sei ihnen gar nicht bewusst, was sich zwischen ihnen (nicht) abgespielt hatte. Es war, als seien sich beide unterschwellig einig, dass das, was soeben geschehen war, nicht geschehen war.“ (S. 111-112)

Diese Erfahrung führt Martin dazu, eine Birkin Bag, also eine teure Handtasche der Firma Hermès aus Paris, besitzen zu wollen, damit sie ihren Gegnerinnen bei den „Gehwegduellen“ ihre „trapezförmige Birkin in den Bauch rammen würde“ (S. 115). Die Erzählung, wie sie zu ihrer Birkin kommt, nimmt einigen Raum in dem Buch ein, denn eine Birkin Bag, gleichwohl sie außerdem noch teuer ist, kann man nicht einfach kaufen, sondern man muss sich auf Wartelisten eintragen, Fürsprecherinnen haben, die selbst schon eine Birkin Bag besitzen etc. Künstliche Verknappung durch die Fa. Hermès macht diese Tasche unter Upper East Side-Frauen zum begehrten Gut, nicht der Wert der Tasche selber.

Im Grund ist das Rempeln mit teuren Handtaschen eine Version des Nicht-Grüßens: Man bricht einen möglichen Sozialkontakt schon ab, bevor er Gelegenheit hat, sich zu entwickeln. Was dazukommt, ist das Element der Gewalt und auch die Beliebigkeit der Opferauswahl aus der Menge zufälliger Passantinnen. Der Aspekt der Gewaltanwendung scheint dem zuvor erwähnten Aspekt der Subtilität weiblichen Wehtuns zu widersprechen, schließlich hat jemand, der einen anderen Menschen mit einem Gegenstand rempelt, tatsächlich etwas (Böses) getan.

Das würde allerdings voraussetzen, dass man diese Handtaschenangriffe tatsächliche als Angriffe, also als Aggressionen deutet. Wednesday Martin analysiert dieses Phänomen genauer und erkennt es als „Versuche [von Frauen], ihre Herrschaft über andere Frauen durchzusetzen“, indem sie auf ihrem „Recht“ bestehen, „ihren persönlichen Raum auszuweiten, indem sie die andere zwangen, den ihren aufzugeben“: „Es war kein einfaches „Geh mir aus dem Weg“, sondern etwas viel Pointierteres: „Ich sehe dich nicht. Weil du gar nicht vorhanden bist.“ (S. 112) Es geht hier also nicht mehr nur darum, dass Frauen andere Frauen aus der Gruppe ausschließen oder unhöflich sind, indem sie sie nicht grüßen, sondern sie sprechen ihnen ihre Existenz ab, indem sie sie wie Luft behandeln.

Ihr Mann, Joel Moser, besorgt Wednesday Martin schließlich auf einer beruflichen Asienreise eine Birkin Bag. Vor dem Kauf der Handtasche wird in dem Buch noch eine Szene geschildert, die bemerkenswert ist. Martins Mann überrascht seine Frau eines Abends, als sie im Internet Birkin Bags recherchiert; sie schließt schnell die Website. Auf die Frage „Was schaust du dir an?“, antwortet sie „Pornos“. Es dauert eine Weile, bis er begreift, dass sie „Handtaschenpornographie“ meint (S. 128). Das Erstaunliche an dieser Szene besteht darin, dass Männer zwar durchaus auch für den Wunsch nach dem Erwerb von Statussymbolen bekannt sind, aber kein Mann das Betrachten von unterschiedlichen BMW-Automodellen als „Pornografie“ bezeichnen würde. Pornografie ist für Männer nicht von der Betrachtung nackter weiblicher Körper ablösbar. Wenn es für Frauen so etwas wie „Handtaschenpornografie“ gibt, dann ist das offenbar ein Hinweis darauf, dass die weibliche Sexualität völlig anders funktioniert als die männliche. Sie ist offenbar vom Umgang mit dem männlichen Körper ablösbar und wird allein von der Aussicht auf die Erlangung eines Statussymbols erregt.

Das Statussymbol scheint für die Frau selbst erotische Anziehungskraft zu besitzen statt, wie für den Mann, nur ein Mittel zu sein, um eine erotisch attraktive Frau zu gewinnen. Aus männlicher Sicht ist der Ausdruck (und die damit verbundene Vorstellung) von „Handtaschenpornographie“ dermaßen in sich widersprüchlich, dass man erschrickt vor der Fremdheit und Unverständlichkeit weiblichen sexuellen Begehrens. Als Mann kann man es gerade noch zur Kenntnis nehmen, dass eine Frau eine Birkin Bag sexuell begehrt, geistig und emotional nachvollziehen kann man es nicht. Dass der Besitz der Birkin Bag zudem sehr stark verknüpft mit Statusgehabe und Streben nach sozialem Aufstieg ist, scheint darauf hinzudeuten, dass der soziale Aufstieg für eine Frau erotischer ist als das intime Zusammensein mit einem Mann. Wenn das wahr ist, würde es die weibliche Sexualität zu etwas ziemlich Unsympathischem machen – zu einem Antrieb, der nichts mit dem männlichen Geschlecht zu tun hat, sondern rein durch weiblichen Geltungsdrang und dem Wunsch nach Dingen, die den Neid anderer Frauen erregen, motiviert ist.

Wie bewertet Wednesday Martin selbst die Lebensweise der Upper East Side-Mütter und wie verhält sie sich dazu?

Bei Wednesday Martin gibt es drei verschiedene Rationalisierungs- bzw. Rechtfertigungsstrategien:

  1. Jene der Mutter, die ihren Kindern die bestmöglichen Lebenschancen eröffnen will;
  2. jene der Anthropologin und
  3. jene nachdem es bei ihrer dritten Schwangerschaft zu Komplikationen gekommen ist und sie ihr Kind verloren hat.

Wie beurteilt Wednesday Martin selbst, was sie unter den Müttern der Upper East Side erlebte:

„Und wenn schon Kindheit hier ungewöhnlich ist, Mutterschaft ist geradezu grotesk.“ (S. 21)

„Ich muss gestehen, dass mir bei meinem Abenteuer manchmal nur noch Zynismus blieb.“ (S. 22)

„Wer zum Henker will mit dieser egoistischen, anmaßenden Gesellschaft auch nur irgendetwas zu tun haben?, fragte ich mich gelegentlich.“ (S. 107)

 

Und wie reagiert sie darauf?

„Am Ende jedoch zogen mich die morgendlichen Dramen und meine Erfahrungen als ausgegrenztes Schmuddelkind, deretwegen ich mich so verwundbar, so traurig und zurückgesetzt gefühlt hatte, nur noch tiefer in die Kindergartenwelt meines Sohnes hinein. Sie stärkten meine Entschlossenheit, mich anzupassen und dafür zu kämpfen, dass ich akzeptiert wurde. Niemand sollte mich oder mein Kind ablehnen dürfen. Die konnten mich mal. Und sobald er (und ich) Verabredungen und ein Sozialleben im Umfeld des Kindergartens hatte, lockten mich diese „Triumphe“ noch tiefer in Welt, die ich beobachtete…“ (S. 107)

 

Das ist Strategie (1), jene der Mutter, die das Beste für ihr Kind herausholen will. Es sieht so aus, dass Martin schlecht behandelt wird und daraufhin als Reaktion das Bedürfnis entwickelt, sich anzupassen. Das ist vergleichbar damit, dass man etwas isst, das einem nicht schmeckt, und als Reaktion darauf isst man noch mehr davon. Es ist eine Logik, die ich nicht nachvollziehen kann: Wenn jemand sagt: „Die können mich mal!“ – dann wäre die folgerichtige Reaktion wegzugehen. Und nicht: dazubleiben und mich noch stärker zu bemühen, denn wenn Martin dablieb, dann konnten ja nicht die „Zickenmütter“ Manhattans Martin mal, sondern Martin musste weiterhin nach der Pfeife der Zickenmütter tanzen und sich ihre Launen gefallen lassen.

Strategie (2) ist jene der Anthropologin. Sie besagt, recht einfach, Affen zeigen auch ähnliche Verhaltensweisen wie die von Wednesday Martin beobachteten, und aus dem Grund sind sie bei Menschen auch irgendwie ok. Wir wollen ja vom Menschen nicht erwarten, dass er sich weiterentwickelt hätte.

Die dritte Strategie (3) zeigt sich am Ende des Buchs, nachdem Martin ihr drittes Kind nach 6 Monaten Schwangerschaft verliert. Viele Frauen in ihrer Bekanntschaft verändern daraufhin ihr Verhalten: „Zahlreiche Frauen, die ich zickig und abschreckend empfunden hatte, ließen sich von mir jetzt nicht vergraulen. Sie boten mir an, meinen älteren Sohn bei sich übernachten zu lassen oder ihn ins Kino mitzunehmen. Sie schickten mir Mahlzeiten. Und wenn uns jemand übers Wochenende einlud, fuhren wir hin. […] Wir nannten es die „Dead Baby Tour“.“ (S. 284) Und bei der Erzählung dieser Verhaltensveränderung der anderen Upper East Side-Mütter setzt bei Wednesday Martin ein Gedächtnisverlust ein, den ich mit jenem am Ende von Homers Odyssee vergleichen würde.

Nachdem Odysseus nach Ithaka zurückgekehrt ist und die Freier seiner Frau umgebracht hat, lassen die Götter die Bevölkerung von Ithaka diese Unrechtstat von Odysseus vergessen, weil anders kein zukünftiges Zusammenleben möglich wäre. Und ebenso wie die Bürger von Ithaka vergessen, dass Odysseus der Mörder ihrer Männer, Söhne oder Onkeln ist, vergisst auch Martin, dass diese Frauen, die sie jetzt mit offenen Armen aufnehmen, früher mal geschnitten haben. Ich weiß nicht, ob das eine spezifisch weibliche Logik ist, die dahintersteht. Schon öfters habe ich von Frauen gehört, dass sie jemanden für nett halten, der nett ist und manchmal auch nicht nett ist. Mir kommt das vor, wie wenn man von jemandem, der manchmal stiehlt und dann auch wiederum manchmal nicht stiehlt, sagen würde, dass er kein Dieb sei. Auf jeden Fall ist die von Martin angewandte Strategie der Rechtfertigung boshafter Menschen, die zuletzt ihr Verhalten geändert haben, logisch inkonsequent und insofern auch unglaubwürdig.

Das spielt auch insofern eine Rolle, da sich gewissermaßen die ersten drei Viertel des Buches lesen wie eine Publikumsbeschimpfung während im letzten Viertel, in einer dramatischen Wendung, die beschimpften Mütter der Upper East Side, und mit ihnen zusammen alle Mütter der USA oder der gesamten Welt, mit großer Geste umarmt werden und auf die Tränendrüse gedrückt wird wie im Disney-Film. Diese Geste besagt: „Im Grunde sind wir doch alle Frauen und haben einander lieb, weil wir wissen, wie schrecklich es ist, ein Kind zu verlieren; da wollen wir doch nicht kleinlich sein und darüber hinwegsehen, dass wir vorher ein bisschen zickig zueinander waren.“

Martins Rationalisierungs- und Rechtfertigungsstrategien hinterlassen einen faulen Nachgeschmack, und ich habe mir gedacht: Im Grunde werden inhumane Praktiken in der Gesellschaft dadurch ermöglicht, dass die Menschen in solcher Weise inkonsequent sind und den Übeltätern ihre Untaten ihm Nachhinein verzeihen, weil ein böser Mensch, der mal eine gute Tat begeht, doch kein böser Mensch sein kann.

Angst durch Sicherheit

Es folgen weitere verblüffende Einsichten in die Zusammenhänge weiblichen Lebens. Verblüffend, weil wir gewohnt sind, umgekehrt zu denken. (Ich hätte schließlich auch nicht erwartet, dass Luxushandtaschen zum Rempeln da sind.) Eine dieser allgemeinverbreiteten Denkweisen ist die, dass Frauen ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis haben, weil sie körperlich schwächer sind als Männer; folglich muss man die Lebensumstände sicherer machen, damit sich Frauen sicherer fühlen.
Aber was passiert wirklich, wenn man die Lebensumstände von Frauen sicherer macht? Stellen Sie sich vor: Wohlhabende Frauen in der Upper East Side, manche von ihnen haben einen eigenen Privatjet zur Verfügung, führen ein Leben, das sicher ist vor äußeren Gefahren, und sie müssen sich nicht ums Geldverdienen kümmern, weil das ihre Männer für sie erledigen.

Was wird die Folge sein? Entspannte, zufriedene Frauen? Nein, im Gegenteil, dünne, durchtrainierte, nervöse Frauen. Aber warum ist das so? Sobald Frauen alles haben, was man zum Leben braucht, und obendrein noch ausreichend freie Zeit, beginnt bei ihnen der Trieb zur Perfektion seine Arbeit. Alles soll perfekt sein: Wohnung, Kleidung, die Ausbildung der Kinder etc. Allein das schon generiert jede Menge an Unsicherheit und Angst: die Angst zu versagen. Sie wollen aber auch perfekte Frauen sein. Also machen sie Diät und trainieren im Fitnessstudio. Wenn sie sich in der Folge unrund fühlen, betäuben sie sich mit Alkohol. Ihre Nervosität und Schlaflosigkeit bekämpfen sie mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Zusammengefasst: Bereite Frauen das Paradies auf Erden und die Folge wird sein, dass aus ihnen depressive Suchtkranke werden.

Einer der Gründe für Nervosität und das Gefühl von Unsicherheit bei Frauen sei „das Zusammenspiel von Kalorienreduktion, sinkendem Östrogenspiegel und Schlaflosigkeit“ (S. 232)

„Wie ängstlich und elend man sich fühlt, wenn man unter Schlafentzug leidet, hormongebeutelt und dauerhungrig ist, lässt sich nicht überschätzen. […] Wenn ab Mitte dreißig der Östrogenspiegel sinkt, […] ist an Schlaf nicht zu denken. Niedrigere Östrogenspiegel halten einen jedoch nicht nur wach. […] Bei gesunden Frauen und Rattenweibchen dämpft Östrogen Angstreaktionen. […] Dazu gebe man als weitere Platte noch eines der absurdesten Gebote der Upper East Side: frau sei so fit, fettfrei und sylphidenhaft wie nur möglich. […] in der Upper East Side ist nichts schneller ausverkauft als Size Double Zero. Frauen sind dünn, dünner, am dünnsten. […] Und je dünner man ist, […], desto weniger Östrogen hat man. […] Nervosität und Dünnsein gehen also Hand in Hand – wie Dolce & Gabbana.“ (S. 232-233)

 

Das Absinken des Östrogenspiegels bei dünnen Frauen mittleren Alters führe auch zu gesteigerter Aggression (S. 235), könnte also mitverantwortlich sein für die beobachteten Gehwegduelle.

„Ihre Frauen hingegen trinken, um überhaupt zurechtzukommen, gewöhnlich Weißwein (nach Rotwein, sagen sie, können sie nicht schlafen). Eine Upper-East-Side-Frau mit kleinen Kindern zu sein heißt Wein zu trinken.“ (S. 235)

„Teilnehmerinnen an einem Mädelsabend finden überhaupt nichts dabei, vier Glas Wein hintereinander zu trinken. […] Jeden Abend tranken die Mamis in meiner Bekanntschaft Weißwein, Wodka, Tequila und, wenn sie Männern imponieren oder sich aus der Menge abheben wollten, Scotch oder sonst einen Whisky „für Kerle“. Nur montags nicht.“ (S. 236)

„Viele Manhattener Mamis in meiner Bekanntschaft verließen sich Tag für Tag auf verschreibungspflichtige Medikamente. Tavor. Xanax. Valium. Ritrovil. Zoldem. […] Häufig tranken sie Wein dazu… […] Um einschlafen zu können, schluckten die Frauen, die ich kannte, angstlösende Medikamente.“ (S. 237-238)

 

Wenn das also stimmt, dann führt eine Umwelt, in der Frauen frei, sicher und bequem leben können, dazu dass ihre weiblichen Instinkte im beschleunigten Leerlauf rasen. Sie machen sich dann mit ihrem Statusspiel gegenseitig das Leben zur Hölle und um im Wettlauf um Perfektion mithalten zu können, essen sie zu wenig, trinken zu viel Alkohol und nehmen stimmungsbeeinflussende Medikamente ein.

Sie sind also nicht zu beneiden, die reichen Frauen von Manhattan. Andererseits, diese Hölle machen sie sich selbst. Sie könnten ja auch aussteigen aus diesem Hamsterrad der äußerlichen Selbstperfektion und statt beim Statusspiel mitzuspielen ihre eigenen Wege gehen. Aber das scheint nicht möglich zu sein, denn – wie ich am Anfang dieser Rezension schon gesagt habe – die Menschen weigern sich, sich mit dem Thema Selbstverwirklichung zu befassen. Sollen sie also leiden, wenn die Befriedigung aller ihrer Bedürfnisse nur dazu führt, dass sie das Statuspiel auf immer höherem Niveau und mit immer höherem Einsatz spielen.

Tatsächlich scheint es auch ein weitverbreitetes Fehlurteil zu sein, dass alles immer besser wird, wenn es besser wird. Umgekehrt könnte es sich so verhalten, dass ein immer kleinerer Patzer das Potenzial hat, sich um Drama zu entwickeln, je mehr sich die Gesamtsituation der Perfektion annähert. Wednesday Martin berichtet von einer Freundin, die Bettwanzen hatte. Das ist für alle Menschen eine unerfreuliche Angelegenheit, aber für eine megaehrgeizige Upper East Side-Mutter eine Katastrophe: „Bettwanzen beinhalteten das beängstigende Risiko, von der Gruppe verstoßen zu werden. „Niemand wird mehr kommen wollen!“, klagte sie mir. Hatten ihre Kinder kein Sozialleben mehr, dann war auch ihres vorbei.“ (S. 223)

Eine Katastrophe ist auch, wenn ein Kind beim ERB-Test (ein Intelligenztest des Educational Records Bureau, Voraussetzung für die Zulassung in New Yorks Top-Privatschulen) nicht 99,9 Prozent erzielt, im Malunterricht kein hervorragendes Bild produziert oder beim Hindernis- oder Wettlauf nicht gut abschneidet, denn das wird als „Nachweis elterlichen Versagens“ gewertet. (S. 226) Wednesday Martin resümiert das soziale Regelwerk an der Upper East Side, indem sie es als eine „Kultur der Ehre und Schande“ bezeichnet. Schande bricht über die Frauen herein, wenn irgendwo etwas nicht ganz perfekt ist.

„Lenas Geschichte hatte mich gelehrt, dass in der Welt der Upper East Side genau wie in der Welt der Beduinen oder der Roma eine Kultur der Ehre und Schande vorwaltet. Hauptinstrument sozialer Kontrolle ist nicht die Angst, in die Hölle oder ins Gefängnis zu kommen, sondern Scham und die Angst, nicht hineinzupassen, herauszufallen oder ausgeschlossen zu werden. Und in der Upper East Side kann man […] die Ehre oder „das Gesicht“ verlieren – nicht den physischen Körperteil, mit dem man spricht und isst und den man schminkt, sondern Prestige, Ansehen, ja das eigentliche Ich.“ (S. 222)

Mir scheint, die Moral der Geschichte von der „Kultur der Ehre und der Schande“ ist, dass es keine upside gibt, wohl aber eine downside. Das Gesicht zu bewahren, gilt als normal, hier gibt es nichts zu gewinnen, es aber zu verlieren, ist furchtbar.

Die Kosten des weiblichen Statuskampfs

Wednesday Martin beschreibt den weiblichen Statuskampf als „verdeckte innergeschlechtliche Konkurrenz“ (S. 181), die im biologischen Sinne weniger kostspielig ist als offener Kampf, weil dabei zumindest niemand körperlich verletzt wird. Im finanziellen Sinne ist sie aber durchaus kostspielig. Mit ihrer Freundin Candace rechnet sie mal aus, wie hoch der „Aufwand einer Manhattan-Geisha […] für Wartung und Pflege“ (S. 181) ist. Sie kommen auf:

  • Haare und Kopfhaut: (Friseurkosten, Haar & Make-up-Stylist für besondere Anlässe, Arztbesuch wegen Haarausfall = 12.000 USD/Jahr;
  • Gesicht: (Botox, Hyaluron, Kollagenunterspritzung, Peeling, Gesichtsbehandlung, Augenbrauenbehandlung, Laser, Gesichtspflegeprodukte, Make-up) = 16.200 USD/Jahr
  • Körper: (Fitnesstudio, Privattrainer, Ernährungsberater, Saftkuren, Maniküre/Pediküre, Massage, Selbstbräuner, Thermenaufenthalte) = 32.000 USD/Jahr (Schönheitschirurgie nicht berücksichtigt, weil unkalkulierbar)
  • Kleidung: 10.000-60.000 USD/Jahr (ohne zusätzliche Urlaubskleidung (für Hamptons, Palm Beach, Aspen);
  • Schuhe/Stiefel: 5.000-8.000 USD/Jahr
  • Handtaschen: 5.000-10.000 USD/Jahr

Die beiden schätzen die Kosten für eine Frau auf rund 95.000 USD/Jahr „nur um schön genug und gut genug gekleidet und gut genug beschuht und ausreichend gepflegt zu sein, um mitspielen zu dürfen.“ (S. 183) (Kosten gerechnet ohne die entsprechenden Taxifahrten zum Kindergarten, zum Hautpeeling usw.)

Womit wir es hier zu tun haben scheinen, das ist nichts weniger als der soziale Mechanismus (gemeinsam mit den entsprechenden Glaubenssätzen bei den handelnden Individuen), der Ökonomie (sparsames Verhalten) in Verschwendung verwandelt. Denn es verhält sich ja so, dass die Wirtschaftswissenschaften uns erklären, der Kunde sei ein rationales Wesen, das diejenigen Produkte und Dienstleistungen kaufe, die den größten Kundennutzen haben, wobei es versucht, durch kluge Kaufentscheidungen den persönlichen Nutzen zu maximieren. Das ist eine jener Erklärungen der Wissenschaft, die unsere Verwirrung steigern, anstatt sie aufzulösen, weil wir in der Realität das entgegengesetzte Verhalten beobachten. Die zu beantwortende Frage lautet also: Warum verhalten sich die Menschen nicht ökonomisch. Und die Antwort, die üblicherweise auf diese Frage versucht wird – nämlich, dass die Menschen eben doch nicht so rational sind, sondern auch von Emotionen beeinflusst – führt wiederum in die falsche Richtung.

Die richtige Antwort auf diese Frage ist sehr einfach, ist aber aufgrund ihrer scheinbaren inneren Widersprüchlichkeit schwer zu akzeptieren:

Ökonomisches Kaufverhalten = kaufen, was notwendig ist;
Verschwenderisches Kaufverhalten = kaufen, was überflüssig ist;

Daraus folgt: Damit verschwenderisches Kaufverhalten als ökonomisch erscheint, muss das Überflüssige als notwendig erscheinen. Eben das drückt Wednesday Martin im Zitat von S. 183 aus: „nur um schön genug […] zu sein, um mitspielen zu dürfen“, seien alle diese Ausgaben notwendig. Es ist also nicht die Verschwendungssucht der Frauen, die zu ihrem verschwenderischen Umgang mit Geld führt, sondern die Dynamik sozialer Anerkennung, die besagt: Du brauchst das alles, sonst akzeptieren wir dich nicht in unserer Runde.“ Die Vernünftigkeit der Ansprüche, die die Gruppe dabei an das Individuum stellt, werden nicht hinterfragt.

Am Ende kann als Ergebnis herauskommen, dass es für das Individuum rational ist, völlig irrationale Kaufentscheidungen zu treffen, weil sie die Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Gruppe darstellen und die Gruppe ihrerseits Ressourcen an ihre Mitglieder zu vergeben hat, von denen diese profitieren. Das ist die rationale Erklärung dafür, wie die Logik sozialer Anerkennung es bewerkstelligt, das Ökonomische in Verschwendung zu verwandeln und die Vernunft in Unvernunft.

Hier zeigt sich, wie irreführend die Lehre vom „Kundennutzen“ ist, denn sie regt dazu an, dass man sich überlegt, was ein bestimmter Mensch eigentlich will und was für ihn einen Nutzen darstellen würde. Wednesday Martins Beobachtungen legen aber nahe, dass die Mütter von der Upper East Side nicht einmal überlegen, was für sie gut wäre, sondern blind den wahrgenommenen sozialen Imperativen gehorchen. Dazu kommt, dass all das, wofür sie ihr Geld ausgeben, um ausreichend schön und gut gekleidet auszusehen, nicht einmal Spaß macht, sondern zum Teil sogar weh tut (Botox- und andere Unterspritzungen). Nicht einmal, wenn man sagt, sie täten es für ihre Kinder, macht es Sinn, denn: Zwar ist es wahrscheinlich, dass die ihren Kindern Zugang zu einem Leben in einer Gesellschaftsschicht mit hohem sozialen Status schaffen, aber dass die Kinder in dieser Umgebung von Verhaltenszwanghaftigkeit glücklich werden, ist unwahrscheinlich. Bleibt also nur die Annahme, dass die Mütter der Upper East Side blind ihren weiblichen Instinkten folgen, die sie dazu antreiben, auf der sozialen Leiter immer weiter nach oben zu steigen, und nicht darüber nachdenken.

Der Perfektionszwang von Frauen

Die Tatsache, dass andere Quellen den von Wednesday Martin diagnostizierten Perfektionszwang der Frauen bestätigen, scheint darauf hinzuweisen, dass er zur Instinktausstattung des weiblichen Geschlechts gehört. So sagt z.B. die österreichische Psychologin Isabella Woldrich:

„Die gute Nachricht: Männer und Frauen haben beide ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Harmonie.

Die schlechte Nachricht: Frauen verstehen unter Harmonie etwas anderes als Männer.

Für Männer ist es harmonisch, wenn sie ihre Ruhe haben. Solange niemand etwas sagt, passt für sie alles. Sie lehnen sich zurück und genießen den Moment. […] Für Frauen ist es erst dann harmonisch, wenn alle, ich meine wirklich alle, Faktoren erfüllt sind. Welche Faktoren das sind, ist individuell verschieden und einige Frauen wissen es oft selbst nicht so ganz genau. Ungeachtet dessen arbeiten sie mehr oder weniger akribisch und hartnäckig daran, diesen harmonischen Zustand zu erreichen.“

Isabella Woldrich: Artgerechte Frauenhaltung. Ueberreuter, Wien 2014. S. 32.

Mir selbst ist das durch einen Zufall aufgefallen: In einer Filiale der Buchhandelskette Thalia stand ich in der Zeitschriftenabteilung und mein Blick fiel auf zwei Frauenzeitschriften, die beiden auf dem Titelblatt das Problem thematisierten, dass Frauen, sich nicht entspannen können. Es ist das also kein seltenes Thema, sondern eines, das vielleicht zwei von drei Frauenzeitschriften behandeln oder, vielleicht, sogar neun von zehn.

In der österreichischen Frauenzeitschrift WOMAN Nr. 19 vom 13. September 2018 nimmt es eine merkwürdige Form an: Unter der Überschrift „Mehr Mittelmaß bitte!“ (S. 54-56) rät die übermäßig attraktive Expertin Su Busson in ihrer Funktion als „Anti-Stress-Coach“ (=übermäßig erfolgreich im Vergleich zur unselbstständig erwerbstätigen Frau) den Frauen, das Mittelmaß schätzen zu lernen: „Wir sind Mittelmaß – und das ist großartig!“. „Wer besonders klug, schön und aktiv ist, bekommt in unserer Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit. Richtig? Ein fatales Muster […] meint Lebensberaterin Su Busson (46): Wir lassen nicht zu, dass wir unserem Wesen entsprechend wachsen. Unsere natürlichen Anlagen könne/wollen/dürfen wir nicht entfalten, weil wir werden wollen/sollen/müssen, wie es gesellschaftlich angesehen ist.“ „Glücklichsein“ habe „nichts mit den äußeren Umständen zu tun, es“ komme „von innen“ und „wenn Sie aufhören, immer mehr zu wollen, werden Sie ein deutlich entspannteres Leben führen“. „Wir sparen uns Stress, Frust, Zeit, Kraft und Nerven, wenn wir uns nicht ständig mit anderen vergleichen oder perfekt sein wollen.“

Fazit: „Der Glaube, dass es uns glücklich macht, wenn wir der oder die Beste in etwas sind, führt uns in die Irre.“ Das ist die Botschaft der überdurchschnittlichen Su Besson an die durchschnittliche Österreicherin, die schon allein deshalb unglaubwürdig wirkt. Allerdings handelt es sich hierbei wiederum um eine falsche Fährte: Wenn man Wednesday Martins Buch über die Primaten von der Park Avenue aufmerksam liest, dann ist es nicht so, dass darin dargestellten Frauen versuchen, perfekte Manhattan-Geishas zu werden, weil sie sich davon persönliches Glück erhoffen.

Eher im Gegenteil: Sie streben danach, obwohl sie wissen, dass sie das nicht glücklich macht, sondern dass es nur dazu führt, aus ihnen superschlanke, nervöse Alkohol- und Medikamentenabhängige zu machen, solche wie es die anderen Frauen rund um sie herum offensichtlich auch sind. Näher als der Gedanke, die Frauen würden perfekt sein wollen, weil sie glauben, dass sie das glücklich macht, würde also die Vermutung liegen, dass sie nach Perfektion streben, um ihre Instinkte auszuagieren, was sie jedoch unglücklich macht; und dieser Kreislauf geht solange weiter, solange sie nicht bereit sind, darüber nachzudenken und sich aktiv gegen das zu entscheiden, was ihnen ihre Triebe als erstrebenswerte Ziele vorgaukeln.

Demonstrative Zurschaustellung von Reichtum

Natürlich hat die Verschwendung in Manhattan neben dem Streben nach Akzeptanz durch die Gruppe, der man angehören will, auch noch einen ökonomischen Sinn: Man „kauft“ sich dadurch „Kredit“. Will sagen: Man erscheint durch den Aufwand, den man treibt, kreditwürdig in den Augen von Leuten, die einen nicht kennen. Diese Theorie geht auf den Aufsatz von George A. Akerlof „The Market for Lemons: Quality Uncertainty and the Market Mechanism“ (1970) zurück, in dem das Käuferverhalten bei Informationsasymmetrie beschrieben ist: Die Käufer von Gebrauchtwagen können nicht zwischen einem guten und einem schadhaften Gefährt unterscheiden; deshalb sind sie nicht bereit, soviel zu zahlen wie sich die Verkäufer von guten Gebrauchtwaren erhoffen. Folge: Die guten Gebrauchtwagen werden aus dem Markt gedrängt.

Als Gegenmaßnahme kann man nur versuchen, die Informationsasymmetrie zu mildern, ganz aufheben kann man sie leider nicht. Mildern kann man sie z.B. dadurch, indem anerkannte Institutionen (TÜV) gute Gebrauchtwagen mit Zertifikaten auszeichnen. Dann muss der Käufer eben dem TÜV glauben, glauben muss er immer noch, weil er es nicht selbst überprüfen kann. Ein anderes Beispiel für eine solche sekundäre Strategie der Risikoverminderung für die Kunden ist, dass ein Bankhaus eine unnötig große und kostspielige Zentrale unterhält. Dieses eindrucksvolle Gebäude vermittelt dem Bankkunden: „Ich kann zwar die Qualität der Bankleistungen nicht einschätzen, aber zumindest kann die Bank nicht einfach davonlaufen, weil sie an dieses monumentale Gebäude gebunden ist.“

Mode scheint bei den Frauen in Manhattan eine ähnliche Funktion zu haben. Wednesday Martin beschreibt, dass der Wohnungshandel und das Wohnungsmaklertum dort fest in weiblicher Hand seien. Durch die Wahl ihrer Kleidung (und Handtaschen) treiben die Frauen jenen übermäßigen Aufwand (vergleichbar zur Bankzentrale), welche der anderen Geschäftspartei den Eindruck vermittelt, dass man es wirklich ernst mit seiner Kaufabsicht meint.

„…die Maklerin der Käuferseite kleidet sich, um die Maklerin der Verkäuferseite zu beeindrucken und einzuschüchtern und um ein Bild im Sinne der angehenden Käuferin zu projizieren, die sich ihrerseits kleidet, um beiden Maklerinnen ihre Ernsthaftigkeit zu vermitteln… […] All das mündet in einer Art Modeduell, das Tag für Tag, Besichtigungstermin für Besichtigungstermin […] ausgefochten wird. Man stelle sich Sergio-Leone-Musik vor, dazu Frauen im Morgengrauen, eingehüllt in Brunello Cucinelli und Loro Piana. Taschen schienen dabei besonders wichtig.“ (S. 42)

Es verwundert nicht, dass sich in einer Umgebung ökologischer Entlastung außerdem die Vergleichsmaßstäbe verkehren. In einer normaleren Umgebung würden nur die Luxusklamotten und –handtaschen zu den Luxusgegenständen einer Frau gehören; aber weil in Manhattan die Kinderaufzucht sehr teuer ist, gehören auch die Kinder dazu: Eine große Schar Kinder zeigt, dass man sehr wohlhabend ist:

„Denn das Paradies war unterteilt in Besitzende, Mehr-Besitzende und Am-meisten-Besitzende. Man erkannte die Unterschiede recht schnell – die Frauen der Am-meisten-Besitzenden waren am sorgfältigsten gestylt, am schönsten gekleidet und hatten im Allgemeinen die meisten Kinder. Als ich das erste Mal eine perfekt frisierte, perfekt gekleidete zierliche Brünette und ihre beiden Kindermädchen sah, die ihre sechsköpfige Brut in eine exklusive Kinderboutique schleiften, kam mir der Anblick so surreal vor, dass ich kaum meinen Augen traute.“ (S. 68)

Oft verkennen wir den Sinn weiblicher Kleidung, beispielsweise bei Schuhen: Hohe Schuhe sind nicht zum Gehen da, sondern um zu zeigen, dass man es nicht nötig hat zu gehen oder mit der U-Bahn zu fahren:

„…denn soweit ich es erkennen konnte, waren diese Frauen stets auf einen Höhenvorteil aus, um auf alle anderen im wahrsten Sinne des Wortes herabschauen zu können. Schwindelerregend hohe Plateauschuhe und Stilettos mit knallrot lackierten Sohlen kommunizierten die Botschaft: „Ich fahre noch wohin – und zwar nicht mit der U-Bahn.““ (S. 176) Die Autorin Wednesday Martin macht bei diesem Treiben munter mit, und am Ende hat sie auch „einen ganzen Wandschrank allein für meine Handtaschen“. (S. 249)

Die taxierenden und abschätzigen Blicke der Frauen

Man könnte meinen: Nun, wenn die Frauen, wie es scheint, miteinander konkurrieren, dann ist bei ihnen offenbar genauso wie bei den Männern. Denn die konkurrieren ja auch miteinander!

Es scheint aber einen wesentlichen Unterschied zu geben. Männer konkurrieren miteinander darum, wer der Beste ist. Das bedeutet, sie konkurrieren innerhalb einer Gruppe. Wenn ich dagegen noch einmal auf Martins Zitat von S. 183 verweise: 95.000 USD/Jahr benötigen die Frauen in Manhattan mindestens, um „schön genug […] zu sein, um mitspielen zu dürfen.“ Das verweist auf einen anderen Ausgangspunkt für die Vergleichsmessung. Männer messen von unten hinauf: gut, besser, der Beste. Frauen von oben hinunter: perfekt, nicht ausreichend, katastrophal.

Wer sich schon einmal Gedanken darüber gemacht hat, warum Frauen immer wieder darüber klagen, dass die „Gesellschaft“ so großen „Druck auf sie ausübe“, schön zu sein und gut auszusehen, findet hier einen Erklärungsansatz. Die Gesellschaft übt diesbezüglich überhaupt keinen Druck auf die Frauen aus; es ist nur so, dass die Frauen offenbar ein anderes Vergleichssystem haben als das übliche: Wenn eine Frau sich durch Make-up, körperliches Training, Schönheitsoperation einen Attraktivitätsvorteil vor anderen Frauen erwirbt, dann nimmt sie diesen nicht wahr, weil sie ja von oben misst und nicht von unten. D. h. sie vergleicht sich nicht mit den Frauen, die sie überholt und hinter sich gelassen hat, sondern mit denen, die noch perfekter aussehen als sie selber.

Das hat wesentliche Folgen in der moralischen Beurteilung ihres Verhaltens: Würde sie sich mit den Frauen vergleichen, die sie im Konkurrenzkampf besiegt hat, würde man sagen, sie habe sich durchgesetzt, sie habe ihre Stärke bewiesen, sie habe ihr Ziel ganz oder teilweise verwirklicht. Sie erschiene dann als handelnde Person, die für ihre Handlungen selbst verantwortlich ist. Da sie sich aber nur mit den Frauen vergleicht, die noch perfekter aussehen und gekleidet sind als sie, kann sie den Vorteil, den sie sich herausschlägt, umdeuten in einen „Druck der Gesellschaft“, dem sie ausgeliefert ist und dem sie nie entsprechen wird können.

„Über den männlichen Blick“, so Wednesday Martin, sei „viel geschrieben worden“, „dass er Frauen zu Objekten“ degradiere (S. 125), aber der weibliche Blick, den Frauen einander zuwerfen, ist nicht weniger harmlos:

„Diese Blicke beziehen sogar diejenigen ins Spiel ein, die gar nicht mitspielen wollen. […] Manchmal verwenden Frauen diese Art Blick, um sich selbst aufzubauen, indem sie andere demolieren: Wo ist dein Makel?, fragen Frauen mit diesem Blick, wenn sie andere Frauen taxieren. Wo sind die Unvollkommenheiten in deinem Erscheinungsbild… […] Unvollkommenheiten, die mich beruhigen, die mir beweisen, dass es um dich so gut nun auch wieder nicht steht, dass du nicht besser bist als ich?“ (S. 125)

Birkin Bags als Objekte der Begierde förderten sie offen zutage, „die Feindschaft zwischen Frau und Frau“ (S. 125), die sich zeigen in jenen „vielsagenden Blicken“, „für die unsere Männer und unsere Kinder blind sind.“ (S. 126)

Daraus folgt: Konkurrenz unter Frauen ist ein Gruppen-Ding. Während Männer miteinander konkurrieren, um der Beste in irgendwas zu sein, konkurrieren Frauen darum, um der besten Gruppe anzugehören. Der besten Gruppe anzugehören, ist für sie dabei das Mindeste, das sie von sich erwarten, was bedeutet, dass es keine Gelegenheit für Triumphgeschrei gibt, aber viel Versagensrisiko. Immerhin gibt es innerhalb der Gruppe der Weibchen eine „Prämie dafür, stets die Erste zu sein“, berichtet Wednesday Martin:

„…eine trendbewusste zweifache Mutter [kreuzte] eines Februarmorgens in einem weißen, vorne offenbar mit Blattgold verzierten Baumwollkleid […] auf. Sie schlotterte vor Kälte, aber dafür war sie als erste im Ziel. Sollte eine von uns jetzt noch dieses Kleid anziehen, würden wir sie nur imitieren.“ (S. 178)

Daraufhin hat Martin beim Anblick ihres eigenen weißen Baumwollkleids mit Blattgoldverzierung den Eindruck, die andere Mutter hätte es „mit ihrer Pisse durchtränkt“.

Rezensionen von Wednesday Martins Primaten von der Park Avenue

Um mich zu orientieren, was andere Leute über das Buch sagen, habe ich sieben Rezensionen von Wednesday Martins Buch gelesen. Zusammenfassend lässt sich über diese Rezensionen sagen: Keine einzige findet das Buch interessant; keine einzige findet darin ein Thema oder ein Problem, mit dem man sich noch genauer befassen möchte.

D agegen findet man in allen diesen Rezensionen das übliche Repertoire, das gegen die Beobachtungen die ein einzelner Mensch über die Sozialwelt macht, aufgefahren wird, unter anderem:

  1. In dem Buch drücke sich W. Martins „Sozialneid“ aus (Huberta von Voss: „Und wie hoch ist dein „wife bonus“, Honey?“ in: „Die Welt“);
  2. Das könne man doch nicht verallgemeinern (Ginia Bellafante: „A Hobby Anthropologist Dissects the Tribes of the Upper East Side A Hobby Anthropologist Dissects the Tribes of the Upper East Side” in: “New York Times”);
  3. Die Strategie, Martins Beobachtungen zu entwerten, indem man ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit infrage stellt (Ginia Bellafante: ebd.);
  4. Die Strategie zu sagen, es gehe in dem Buch gar nicht um weibliches Verhalten unter wohlhabenden Leuten, sondern darum, dass Martin sich über die Reichen lustig mache (Janet Maslin: „Review: ‘Primates of Park Avenue,’ Making Fun of the Rich“ in: „New York Times“)
  5. Die Strategie zu sagen, alles, was Martin zu sagen habe, sei überhaupt keine Neuigkeit und nicht erwähnenswert. (Carson Griffith: “We Asked 10 Real U.E.S. Mommas (and One Husband) About the Primates of Park Avenue” in: “Vanity Fair”);
  6. Die Strategie, sich auf ein Detail zu stürzen, das man kritisiert, um sich mit dem Rest des Buchs nicht mehr auseinandersetzen zu müssen (in fast allen der berücksichtigten Rezensionen)

Argumente dieser Art kenne ich aus persönlichen Gesprächen mit Freunden, die zumeist Universitätsabsolventen sind. Sie halten es ihrer Intelligenz zugute zu wissen, dass man nicht verallgemeinern und nicht jeder anekdotischen Erfahrung Glauben schenken dürfe und machen sich dabei nicht klar, dass der einzelne Mensch sich selbst dazu verurteilt, keine Erkenntnisse über die Gesellschaft, in der er lebt, machen zu können, wenn er an sie mit höheren erkenntnistheoretischen Ansprüchen herangeht, als es ihr entspricht.

Das Detail, auf das sich alle stürzen und auf das ich in meiner Rezension gar nicht eingegangen bin, ist übrigens, dass Martin behauptet, die Mütter der Upper East Side bekämen, wenn sie ihre Arbeit gut gemacht hätten, einmal im Jahr von ihren Gatten einen „wife bonus“. Mir kommt das nicht bemerkenswert vor, weil die beschriebenen Mütter, wenn sie nicht arbeiten, finanzielle Zuwendungen von ihren Ehemännern bekommen müssen. Da ihre Ehemänner oft Banker und Hedgefondsmanager sind, bekommen diese ebenfalls einmal im Jahr einen größeren Bonus von ihrem Arbeitgeber. Es ist naheliegend, dass sie davon etwas an ihre Frauen weitergeben – und welchen Namen diese Zuwendung hat oder ob sie von Wednesday Martin erfunden ist, erscheint mir eher nebensächlich. Dennoch ist es eben interessant, dass gerade dieser Aspekt der Kritik der Frauen anheimfiel und man fragt sich, welchen „wunden Punkt“ Martin mit dem „wife bonus“ getroffen haben mag.

Sechs der sieben Rezensionen stammen von Frauen, und mein Eindruck ist, dass sie nichts Neues und Bemerkenswertes in Martins Buch gefunden haben, weil sie selbst Frauen sind und dieses Verhalten aus eigener Erfahrung kennen. Es ist erstaunlich, wie der Ton, in welchem die von mir gelesenen Rezensionen, verfasst sind, dazu angetan ist, den Inhalt des Buches in die Bedeutungslosigkeit des Alltäglichen einzuebnen. Denn mir persönlich erscheint der Inhalt von Wednesday Martins Buch erschreckend in einer Weise, dass ich meinen würde, wenn auch nur die Hälfte oder ein Teil von dem, was sie erzählt, stimmt, dann müsste man etwas dagegen unternehmen.

Schluss

Wenn man sich in unserer heutigen Gesellschaft für die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Frauen und Männern interessiert, dann stößt man, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, oft auf heftige Abwehr. Langjährige Freunde werden zornig und entgegnen einem, dass man dieses oder jenes „nicht verallgemeinern dürfe“ und dass es auf manche Männer doch auch zutreffe. Auf diese Weise wehren sie sich dagegen, den Unterschied zwischen Frau und Mann zu machen – und die Folge ist, dass es ihnen auch nicht möglich ist, mithilfe der Unterscheidung zwischen Frau und Mann die Sozialwelt zu beobachten.

Wenn man heute die Unterscheidung zwischen Frau und Mann überhaupt thematisieren darf, dann am ehesten noch unter dem Deckmantel des Humors. Das geschieht in zahllosen Fernsehserien und eben auch im Buch Die Primaten von der Park Avenue von Wednesday Martin. Unabhängig davon, wie genau die Autorin nun wirklich ihre Umwelt beobachtet hat und wie vertrauenswürdig ihre Beobachtungen sein mögen, erscheint es mir plausibel, dass das Buch untergehen wird, weil es nicht ernst genommen wird. Interessant wäre es, alles, was relevant ist in diesem Buch im Hinblick auf frauenspezifisches Verhalten zu exzerpieren, allen Kitsch drumherum wegzulassen und die herausgelösten Inhalte in eine Ordnung zu bringen. Nur wenn man auf die Details achtet, könnte man aus dem Buch etwas lernen.

Der Aspekt, der mir in diesem Buch am interessantesten erschien, ist, dass Frauen offenbar einen Trieb zum sozialen Aufstieg ausleben, den sie selbst aber nicht als Trieb zum sozialen Aufstieg wahrnehmen. Anstatt dessen interpretieren sie ihn um, indem sie ihn so ausformulieren: „Ich will ja nur zur Gruppe dazugehören.“ Diese Einstellung verwandelt den sozialen Aufstieg in etwas Unschuldiges, denn man ist ja nicht gierig, man hat auch keinen Geltungsdrang, man lässt auch niemanden hinter sich zurück, sondern will nur den „sozialen Anforderungen entsprechen“. Nebenbei äußert sich der weibliche Trieb zum sozialen Aufstieg natürlich dennoch in verletzenden Verhaltensweisen gegenüber anderen Frauen (Nichtgrüßen, sie übersehen, sie aus der Gruppe ausschließen und mit Handtaschen rempeln), aber die Frau, solche Handlungsweisen ausübt, erscheint nicht als Täterin, sondern als Opfer des gesellschaftlichen Drucks.

Meiner Rezension habe ich den Titel gegeben: „Weibliche Triebe unter Bedingungen ökologischer Entlastung in beschleunigtem Leerlauf“, weil es in Wednesday Martins Buch so erscheint, als ob die Triebe zum sozialen Aufstieg, die unter Bedingungen ökologischer Entlastung eigentlich keinen Sinn mehr haben, weil diese Frauen und Mütter ohnehin schon ein bequemes Leben führen und alles haben, was sie zum Leben brauchen, das Einzige sind, woran sie sich halten können, weil sich weigern, nach individuellen Lebenskonzepten zu leben. Anstatt dass sie also täten, worauf sie Lust haben, sind sie noch versessener darauf, sich im sozialen Statuskampf mit anderen Frauen zu messen, weil die finanziellen Mittel und die freie Zeit für dieses soziale Spiel haben. Sie werden durch den Wohlstand also nicht frei zur Selbstverwirklichung, sondern zum Statuskampf.

Schließlich: Wir leben in einer Gesellschaft, in der dem Einzelnen – selbst von seinen besten Freunden – immer wieder der Ratschlag gegeben wird, sich mehr an die Gesellschaft anzupassen. Diese gutwilligen Ratschläge folgen der Logik, wonach ein Autofahrer, der auf der Autobahn als einziger in die entgegengesetzte Richtung fährt, ein Geisterfahrer ist, weshalb ein Lemming, der als einziger Lemming nicht mit den anderen mitläuft, um sich ins Meer zu stürzen, ein Geisterlemming sein muss. Mir kommt vor, die Meinung, der Einzelne müsse sich an die Gesellschaft anpassen, hat auch deshalb so viel Kraft, weil wir nicht darüber aufgeklärt werden, wie die Gesellschaft ist, vor allem: wie verrückt die Gesellschaft ist. Wednesday Martin gibt ein schönes Bild von der Verrücktheit der Gesellschaft, die uns Verhaltensweisen als vernünftig erscheinen lässt, die es nicht sind.

Die Ansicht ist weitverbreitet, dass das Soziale das Gute sei, das Individuelle hingegen das Böse, und der Einzelmensch, der sich von der Gemeinschaft zurückzieht, gilt als eigenbrötlerisch. Viel richtiger erscheint es, wie Martin das, eine andere Upper East Side-Mutter zitierend, in ziemlich zurückhaltender Weise formuliert: „Viele dieser knallharten, wettbewerbsorientierten, aufstiegsbewussten Mamis und Papis können unter vier Augen total nett sein. Aber die Gruppendynamik macht einige von ihnen einfach unerträglich.“ (S. 172) Es scheint also so zu sein, als müsse man den einzelnen Menschen zuerst einmal aus der Gesellschaft oder Gemeinschaft herauslösen, um vernünftig mit ihm reden zu können. Aber wahrscheinlich dauern solche „Urlaube vom Sozialen“ nur für die Dauer eines Gesprächs an, und dann fallen die Menschen in ihre gesellschaftlichen Rollen zurück und werden erneut unerträglich.

Auch die Ansicht, dass reiche Leute trotz all dem, was sie haben, nicht glücklich sind, ist weitverbreitet. Im Lichte der Primaten von der Park Avenue erweist sie sich als falsch. Sie müsste lauten: Reiche Leute sind nicht glücklich, weil sie alles haben. Martins Buch zeigt auf, wie es funktioniert, dass sie nicht glücklich sind und wie ihr Unglück im Einzelnen aussieht. Aber natürlich ist nicht ihr Reichtum an ihrem Unglück schuld, sondern sie selbst sind es, und sie könnten auch wählen, glücklich zu sein, nur müssten sie dann auf einiges verzichten, in erster Linie auf soziale Anerkennung durch Leute, die ihren Wert durch arrogantes Auftreten kundtun.

(Wien, 16.11.2018)

© helmut hofbauer 2018