Nur
gute Wissenschaft ist Wissenschaft - einige Notizen zu Alan
F. Chalmers Grenzen der Wissenschaft
Alan
F. Chalmers: Grenzen der Wissenschaft. Springer
Verlag, Heidelberg 1999. [Orig: Science and its Fabrication.
Open University Press, Buckingham, Great Britain 1990.]
Nur
gute Wissenschaft ist Wissenschaft
„Es
muß jedoch noch eine weitere Unterscheidung berücksichtigt
werden, bevor die Thematik eindeutig abgegrenzt werden
kann. Es geht, kurz gesagt, um [S. 79] die Unterscheidung
zwischen „guter“ und „schlechter“
Wissenschaft. Traditionelle Gegner der Wissenssoziologie
bestreiten einerseits, daß sich soziologische
Argumente zur Erklärung des kognitiven Gehalts
angemessener beziehungsweise „guter“ Wissenschaft
eignen, sind aber andererseits durchaus bereit zu tolerieren,
dass bei der Erklärung abweichender oder „schlechter“
Wissenschaft externe und gesellschaftlich-soziale Ursachen
herangezogen werden. So werden Traditionalisten nur
allzu bereitwillig akzeptieren, daß die Lyssenko-Affäre
in der Sowjetunion oder der Mißbrauch der Physik
im nationalsozialistischen Deutschland gesellschaftliche
Ursachen hatte. Sie werden jedoch nicht zugeben, dass
es angemessen sei, soziologische Erklärungen zum
Beispiel für die Verdrängung der klassischen
Mechanik durch die Quantenmechanik zu suchen. Die Bereitschaft
der Traditionalisten, eine soziologische Erklärung
für inadäquate Wissenschaft gelten zu lassen,
zeigt sich darin, daß sie anthropologische Deutungen
der fremdartigen Wissenssysteme von Naturvölkern,
wie zum Beispiel des Glaubens der Azande an Hexerei,
weitgehend akzeptieren können, obwohl in diesen
Erklärungen auf die sozialen Verhältnisse
innerhalb des Stammes Bezug genommen wird.“
(S. 78-79) |
Das
ist mir völlig einsichtig.
Man spielt ja auch z.B. nur dann Schach, wenn man gewinnt.
Oder: Kann man davon sprechen, dass jemand Karten gespielt
hat, wenn er schlecht gespielt hat und verloren hat?
Auch von einem Auto kann man eigentlich nicht sprechen,
wenn es unter 100 PS hat.
Gerhard Polt hat diese Auffassung in seinem Dramolett „Die
Garage“ karikiert, in welcher er den Protagonisten
sagen lässt, er baue nur noch einmal in seinem Leben
eine Garage, aber da wolle er dann schon eine Garage bauen,
von der man mit Fug und Recht sagen könne, dass es
sich um eine „Garage“ handle – und dazu
gehören für ihn z.B. die teuersten Fliesen, die
auf dem Markt zu haben sind und eine Fußbodenheizung
bis hinaus zur Auffahrt zur Garage.
Karl Popper hat wenigstens noch zutreffende und unzutreffende
wissenschaftliche Hypothesen als wissenschaftliche Hypothesen
anerkannt (klar, weil man bei einer Hypothese noch nicht
weiß, ob sie sich als zutreffend herausstellen wird);
aber nach der Auffassung, wonach nur gute Wissenschaft,
Wissenschaft sei, dürften eigentlich auch nur zutreffende
Hypothesen wissenschaftliche Hypothesen sein.
Interne und externe Erklärungen von Wissenschaft
– vom Essen eines Fußballs
„Die
folgende Analogie soll diesen Standpunkt [„der
zufolge bestimmte Arten soziologischer Erklärungen
des kognitiven Gehalts von Wissenschaft unangebracht
sind“, ebd., Anm.: Hofbauer] verdeutlichen: Angenommen
bei einem Fußballspiel landet der Ball vor den
Füßen eines Spielers, der vor dem unbewachten
Tor der gegnerischen Mannschaft steht. In diesem Zusammenhang
würde man die Konsequenz, daß der Spieler
den Ball ins Tor befördert, wohl kaum für
erklärungsbedürftig halten. Beziehungsweise
würde man gemäß den Fußballregeln
ganz selbstverständlich wissen, daß eine
„interne“ Erklärung vorliegt. Schösse
der Spieler den Ball nun aber nicht ins Tor, sondern
zückte Messer und Gabel und versuchte, ihn zu essen,
wäre dies eine im Rahmen eines Fußballspiels
unsinnige Handlung. In diesem Fall würde man eine
externe Erklärung verlangen, die möglicherweise
auf den geistigen Gesundheitszustand des Spielers Bezug
nähme. Hierbei handelt es sich sicherlich um ein
extremes Beispiel, aber es zeigt deutlich, inwiefern
eine legitime Unterscheidung zwischen internen und externen
Erklärungen möglich ist. Wenn ein Akteur sich
in einem Bereich engagiert, wobei er bestimmte Ziele
verfolgt, dann bedarf es, wenn sein Einsatz zur Erreichung
dieser Ziele beiträgt, keiner über das Wesen
dieses Bereichs hinausgehenden Erklärung. Das soll
natürlich nicht heißen, daß es sich
beim Fußballspiel um eine gottgegebene Tätigkeit
handelt, die nicht erklärbar ist. Eine Vielzahl
von Fragen zu den Anfängen dieses Spiels, seinen
psychologischen und sozialen Funktionen, der wirtschaftlichen
Seite seiner Professionalisierung etc. kann mit Recht
gestellt werden. Sicher gibt es Fälle, in denen
eine soziologische Erklärung des Phänomens
„Fußball“ nötig ist. In Situationen
jedoch, in denen das Spiel selbst und seine Regeln als
gegeben betrachtet werden, lassen sich die Aktionen
der Spieler nur intern erklären, es sei denn, daß
diese Aktionen mit dem Ziel des Spiels nicht in Einklang
gebracht werden können.“ (S. 89) |
Mit
dem Essen von Fußbällen will Alan F. Chalmers
hier verdeutlichen, dass die Soziologie für die Erklärung
von Wissenschaft nicht zuständig ist – und der
Wissenschaftstheorie allein dieses Vorrecht zukommt -, weil
ein Fußballspiel sich ja auch „intern“,
d.h. rein aus seinen Spielregeln heraus verstehen lässt
und keiner äußerlichen Erklärung bedarf.
Das Beispiel mit dem Fußballspiel gefällt mir
ziemlich gut, weil es hinkt, ja sogar ziemlich schief ist.
Kann man sich etwa ein Fußballspiel vorstellen, in
welchem die Spieler keine Dressen in den Farben ihrer Mannschaft
tragen? – Freilich kann man das.
Kann man sich ein Fußballspiel ohne Zuseher und Fans
vorstellen? – Freilich kann man das.
Kann man sich ein Fußballspiel ohne Tournier oder
Ligawettbewerb vorstellen? – Freilich kann man das.
Kann man sich ein Fußballspiel vorstellen, bei dem
kein Eintrittsgeld verlangt wird? – Freilich kann
man das.
Kann man sich ein Fußballspiel ohne Fußballstadion
und ohne Fernsehübertragung vorstellen? – Freilich
kann man das.
Man kann sich also ein Fußballspiel ohne alle diese
Elemente vorstellen, die in unserer Gesellschaft zum Fußballspiel
dazugehören. An welchem Fußballspiel aber wird
nun ein professioneller Spieler teilnehmen? – Am „reinen“
Fußballspiel, welches vielleicht irgendwo auf einem
Dorffußballplatz von meist jungen Burschen aus Spaß
am Fußballspiel gepflegt wird, oder am nationalen
oder internationalen Fußballzirkus?
Die Antwort ist eindeutig. Und das Resultat dieser Analyse
legt die Frage nahe, ob Chalmers die Zuordnung von interner
Erklärung (Erklärung aus dem Spiel selbst heraus)
und externer Erklärung (Erklärung durch externe,
dem Spiel äußerliche Faktoren) nicht falsch zuordnet?
Wenn „Fußballspiel“ in angemessener Weise
(also in der heutigen gesellschaftlichen Realität angemessener
Weise) so verstanden wird, dass der Fußballzirkus
miteinbezogen wird, dann sind soziologische Erklärungen
des Fußballspiels in keiner Weise externe Erklärungen.
Wenn man unter „Wissenschaft“ den Wissenschaftsbetrieb
versteht, dann kommen soziologische Erklärungen der
Wissenschaft in keiner Weise von außen.
Es geht also um die Frage, in welcher Weise man richtig
die Grenzen um das Untersuchungsobjekt ziehen soll, das
man erklären will: Ist das Fußballspiel das „reine
Fußballspiel“, das in nichts mehr als in den
Fußballregeln besteht, oder ist das Fußballspiel
der Fußballzirkus?
Chalmers behauptet, dass eine Handlung eines Fußballspielers
wie die, ins Tor zu schießen, wenn er den Ball vor
den Füßen hat und das Tor unbewacht ist, sich
rein aus den Fußballregeln heraus verstehen lässt.
Das trifft sicherlich zu. Aber was würde nun ein Spieler
eines international renommierten Fußballclubs sagen,
wenn er auf einem Dorffußballplatz einen Spieler den
Ball ins leere Tor schießen sehen würde? Abgesehen
davon, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein international
bedeutender Spieler bei einem Dorffußballspiel zugegen
sein wird, wird er wohl sagen, dass es keine Kunst ist,
ins leere Tor zu schießen (und man damit zu keinem
international erfolgreichen Spieler wird); dass es gegen
diese Mannschaft keine Kunst ist, ein Tor zu schießen;
dass es in diesem Spiel (außer man will sich üben),
keinen Sinn hat, sich anzustrengen (denn es findet weder
im Rahmen einer Liga statt, noch sind Beobachter da, die
neue Spieler für ihre Clubs kaufen möchten) und
Ähnliches mehr. Insgesamt hätte er wohl den Eindruck,
dass dieses Fußballspiel hier als Fußballspiel
gar nicht zählt, weil es außerhalb des Fußballzirkus
stattfindet, in welchem er sich engagiert und Fußball
spielt.
Bei der Wissenschaft stellt sich eine vergleichbare Frage:
Wo gibt es denn die Wissenschaft überhaupt außerhalb
der Gestalt ihrer Realisierung in der Sozialwelt? Wo gibt
es denn DIE Wissenschaft oder die „reine“ Wissenschaft,
die nur durch ihre Regeln erklärbar wäre? Gibt
es die irgendwo in der Realität? Die gibt es wohl im
Grunde nur bei jungen StudentInnen, die sich noch mit inhaltlichen
Fragen über das Wesen der Wissenschaft (die Regeln
der Wissenschaft) beschäftigen, bevor sie ihre erste
wissenschaftliche Publikation realisiert haben (und damit
in den Wissenschaftsbetrieb eingetreten sind).
Hinter Chalmers` Argumentationsweise steckt letzten Endes
eine falsche Auffassung von der Fragestellung der Wissenschaftstheorie.
Chalmers scheint nämlich zu meinen, ebenso wie es im
Fußballspiel darum geht, möglichst viele Tore
zu schießen (das erklärt sich aus den Fußballregeln),
gehe es in der Wissenschaft um „die Aufstellung möglichst
allgemeiner Gesetze und Theorien, die auf die Welt anwendbar
sind“ (S. 7). Das ist Chalmers’ Version der
Überzeugung, wonach Wissenschaft Erkenntnis sucht.
In Wirklichkeit geht es im Fußballspiel nicht darum,
möglichst viele Tore zu schießen, sondern darum,
in eine möglichst hohe Liga zu kommen, wo sich das
Tore schießen erst richtig auszahlt und man viel Geld
damit verdient. Ebenso besteht das Ziel des Wissenschaftlers/der
Wissenschaftlerin logischerweise darin, sich in der Wissenschaft
(= im Wissenschaftsbetrieb) durchzusetzen – und nicht
in wahrer Erkenntnis.
Hier wird der nächste Fehler Chalmers’ sichtbar.
Chalmers spricht vom „Ziel der Wissenschaft“
oder dem „Ziel der Physik“ (S. 7). Aber von
diesem Blickpunkt aus wird nichts sichtbar. Freilich kann
man der Wissenschaft irgendwelche Ziele zuschreiben, aber
wenn man auf die Probleme des einzelnen Wissenschaftlers/der
einzelnen Wissenschaftlerin in der Wissenschaft blickt,
dann beschäftigt man sich mit der konkreten Realität.
Da geht es dann beispielsweise darum, Methoden zu lernen,
um akademische Arbeiten abzuschließen; auf Kongresse
zu fahren, um fachrelevante Personen kennen zu lernen; zu
publizieren, um damit einmal eine Anstellung an einer Universität
zu erhalten – und eine Anstellung, um überhaupt
weiter wissenschaftlich arbeiten zu können. Mit einem
Wort, wenn man die einzelne Person in der Wissenschaft betrachtet,
dann zeigt sich viel besser, worum es IN der Wissenschaft
geht, als wenn man versucht, sich ein Ziel DER Wissenschaft
vorzustellen.
Worum es eigentlich geht: Vorstellungen von Rationalität
und Fortschritt
„Für Lakatos hatte die Wissenschaft
einen sehr hohen Stellenwert. Das gleiche gilt für
Karl Popper, dem sich Lakatos verpflichtet fühlte.
Popper erklärt seine Verteidigung der Rationalität
im allgemeinen und der Wissenschaft im besonderen als
Versuch, dem „intellektuellen und moralischen
Relativismus“ entgegenzutreten, den er als „die
philosophische Hauptkrankheit unserer Zeit“ betrachtet
(Popper, 1992, S. 460). Es ist nicht ungewöhnlich,
daß diejenigen, die den besonderen Status der
Wissenschaft verteidigen, sich gleichzeitig als Verteidiger
der Rationalität, der Freiheit und der westlichen
Lebensanschauung sehen, denn schließlich „geht
es um nicht weniger, als um den zukünftigen Fortschritt
unserer Zivilisation“ (Theocharis & Psimopoulos,
1987, S. 597).“ (S. 2) |
Es
ist bei der Lektüre von Büchern immer wieder gut,
zu den Vorwörtern oder Einleitungen zurückzukehren,
um nach dem zu suchen, wovon das Buch wirklich handelt.
In einem Buch über Wissenschaftstheorie würde
man annehmen, dass es um die Wissenschaft geht und wenn
es zudem im Buchinneren fortwährend um das Zutreffen
von Erkenntnisurteilen und die Absicherung derselben durch
wissenschaftliche Methoden zu gehen scheint, dann muss man
unausweichlich den Eindruck gewinnen, dass bei der Wissenschaftstheorie
genau diese Fragen im Zentrum stehen.
Umso überraschender ist dieser Absatz über Lakatos,
Popper und Theocharis & Psimopoulos, der eine Haltung
zum Ausdruck bringt, der auch Chalmers zuzustimmen scheint,
obwohl er das nicht ausdrücklich sagt und obwohl er
es ebenfalls für richtig hält, „einen Großteil
der orthodoxen Wissenschaftsphilosophie zu verwerfen“
(S. 3). Aber insofern er es eben doch für notwendig
hält, die Wissenschaft gegen den „radikalen Relativismus“
„in gewissem Rahmen zu verteidigen“ (ebd.) und
dabei die „Anteile der traditionellen Auffassung von
objektiver und wertfreier Wissenschaft“ zu betonen
(ebd.), fragt man sich eben doch, aus welcher Motivation
heraus er das macht.
Und so haben wir es mit einem Mal mit der merkwürdigen
Situation zu tun, dass ein Buch, das über Wissenschaftstheorie
zu handeln scheint, in Wirklichkeit eine Verteidigung der
Rationalität sein will und von Freiheit, westlicher
Lebensanschauung und Fortschritt handelt. (Um wie viel offener
könnte man diskutieren, wenn das ganze Buch diese Themen
behandelte und man nicht anstatt dessen mit Scheingefechten
über Fragen über das Zutreffen oder Nichtzutreffen
wissenschaftlicher Erkenntnisse beschäftigt wäre?)
Darf
ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass uns mit
diesen Themen nun Chalmers selbst aus dem begrenzten Feld
des Spiels der Wissenschaft in eine soziale Dimension hinausgeführt
hat, die mit Argumentationsmitteln aus der wissenschaftsinternen
Sichtweise nicht mehr bewältigt werden kann?
Aber da wir bei diesen Themen nun endlich angelangt sind,
ein paar Worte darüber: Es scheint mir ein Widerspruch
darin zu liegen, dass mit der wissenschaftlichen Rationalität
unsere Freiheit verteidigt werde. Denn wissenschaftliche
Rationalität bedeutet doch, dass diese uns sagt, was
wir zu denken haben. Wir dürfen nicht anders denken
als das wissenschaftliche Richtige, weil wir ja sonst falsch
denken würden. Also geht dieses Unternehmen eigentlich
gegen unsere Freiheit – und nicht für sie.
Ebenso scheint es mir falsch zu sein, dass mit der Verteidigung
der wissenschaftlichen Rationalität unsere Rationalität
verteidigt wird. Wissenschaftliche Rationalität besteht
ja darin, uns zu sagen, was wir zu denken haben –
welchen Sinn macht es dann noch für den Menschen, selbst
zu denken? Wenn die WissenschaftlerInnen die Rationalität
usurpieren, ist das zweifellos das Ende aller Rationalität
für NichtwissenschaftlerInnen.
Was schließlich den Fortschritt unserer westlichen
Zivilisation betrifft, hier gebe ich Chalmers (oder Theorachis
& Primopoulos) Recht. Aber was steht auf dem Spiel,
wenn der Fortschritt unserer westlichen Zivilisation auf
dem Spiel steht? Der Fortschritt der westlichen Zivilisation
besteht nämlich nicht im Fortschritt der westlichen
Zivilisation (also darin, dass sich diese Zivilisation fortentwickeln
würde), sondern im Fortschritt der Technik. Und womöglich
würden tatsächlich weniger technische Erfindungen
gemacht werden, wenn die Wissenschaft ihre zentrale Stellung
in der heutigen Gesellschaft verlöre. Aber hier ist
auf einen wichtigen Unterschied zu achten: Um ihre Umsetzung
in Technik, um ihre so genannte „Nützlichkeit“
geht es Wissenschaft aus der Perspektive der Wissenschaftstheorie
eigentlich gerade nicht. Wenn man zugibt, dass es Wissenschaft
nicht in erster Linie um zuverlässige Erkenntnis, sondern
um deren technische Umsetzung und um ihre wirtschaftliche
Nützlichkeit geht, dann können wir dieses Argument
akzeptieren und weiter diskutieren.
Übrigens wäre Letzteres sehr in meinem Sinne,
denn ich glaube eigentlich nicht, dass es in der Wissenschaft
heute noch um die Erlangung von zuverlässigem Wissen
geht; die Erlangung von Erkenntnis und Einsicht wäre
aus Sicht heutiger staatlicher und privater Wissenschaftsförderung
„interessant“, aber nicht „förderwürdig“.
Relativismus – ein Widerspruch in sich
„Entweder gibt es absolute Maßstäbe
eines universellen Wissenschaftsverständnisses
oder skeptischen Relativismus, womit die Wahl zwischen
Evolutions- und Schöpfungstheorie zu einer Geschmacks-
beziehungsweise Glaubensfrage wird.“ (S. 7) |
Chalmers
resümiert hier das Resultat einer Kritik von Barry
Gower (1988) an seinen, Chalmers’, Überlegungen,
die den traditionalistischen WissenschaftlerInnen bereits
zu freizügig sind und stellt deren Haltung folgendermaßen
dar:
„Aus
der typischen Reaktion auf jene Wissenschaftsphilosophen
und –soziologen, die in Abrede stellen, daß
die Existenz von universellen, ahistorischen wissenschaftlichen
Methoden und Maßstäben Grundlage wissenschaftlichen
Arbeitens sei, läßt sich ableiten, wie weit
verbreitet und tief verwurzelt die Ansicht ist, die
Verteidigung von Wissenschaft müsse dem positivistischen
Ansatz folgen. Diese Reaktion scheint von der Annahme
herzurühren, daß eine Absage an die Universalität
wissenschaftlicher Methoden und Maßstäbe
mit einem radikalen Skeptizismus gegenüber der
Wissenschaft einhergeht, im Rahmen dessen argumentiert
wird, daß keine Wissenschaftstheorie einer anderen
überlegen sei, Wissenschaft erkenntnistheoretisch
auf einer Stufe mit Astrologie und Voodoo stehe und
die Beurteilung wissenschaftlicher Theorien lediglich
eine Ansichts- oder Geschmackssache sei…“
(S. 5) |
„Relativismus“
– ich selbst habe in den letzten Jahren wenig über
diesen Begriff nachgedacht, bevor mich Chalmers wieder an
ihn erinnert hat; und der Grund liegt sicher darin, dass
mir dieser Begriff schon immer uneinsichtig erschienen ist.
Genauer, ich habe in diesem Begriff immer schon einen Widerspruch
in sich wahrgenommen.
Der Widerspruch liegt darin, dass in diesem Begriff das
Relative und das Universelle zugleich drinstecken: Einerseits
steckt der Wortteil „Relativ“ in Relativismus,
andererseits ist da aber auch das „-mus“, welches
das Relative verallgemeinert und dadurch zu etwas Universellem
macht. Das „-mus“ in Relativismus ist immer
noch von einem erhöhten, universellen Blickpunkt ausgesprochen,
von dem aus resignierend zur Kenntnis genommen wird, dass
alles relativ ist.
Eingebaut in die Geschichte, die Chalmers über die
tradionalistischen WissenschaftsphilosophInnen erzählt,
würde dieser Widerspruch also nun folgendermaßen
aussehen: Wenn es keine universellen, ahistorischen wissenschaftlichen
Methoden und Maßstäbe gibt, sagen die Traditionalisten
und die Positivisten, dann versinke alles im skeptischen
Relativismus. Ja, aber wenn es keine universellen und ahistorischen
wissenschaftlichen Methoden gibt, würde ich darauf
sagen, dann verliert ihr doch genau jenen erhöhten,
universellen Blickpunkt, von dem aus ihr urteilen könnt,
dass alles relativistisch ist. Dann ist alles bestenfalls
noch relativ, aber nicht relativistisch; denn „relativistisch“
ist ja die Universalisierung des Relativen – und die
kann es nicht geben, wenn die verschiedenen Auffassungen
wirklich relativ sind.
Wie sieht das nun aus, wenn die verschiedenen Auffassungen
relativ sind? Sind sie dann tatsächlich relativ in
dem Sinne, dass – wie das Schreckgespenst der traditionalistischen
Wissenschaftsphilosophen aussieht – alles nur noch
Ansichts- und Geschmackssache ist?
Nun, in Bezug auf die Ansicht, also in Bezug auf die Perspektive,
von der aus eine Sache gesehen und beurteilt wird, ist das
Relative sicherlich relativ. „Relativ“ bedeutet
ja „bezogen“, also dass es auf eine Perspektive
bezogen ist. Aber innerhalb dieser Perspektive ist das Relative
sicherlich weit mehr als relativ: Es ist diejenige Auffassung,
welche die beste ist, die diese Perspektive bis dato zu
erreichen und sich zu erarbeiten imstande war und mit der
sie leben muss.
Insofern ist das Relative innerhalb einer relativen Perspektive
absolut.
Wenn auch die relative Perspektive ihre Auffassung der Dinge
selbst für relativ hält, dann deshalb, weil sie
erkannt hat, dass diese nur den derzeitigen Erkenntnisstand
der Dinge repräsentiert und verbesserungsfähig
ist. Mit anderen Worten, es zeigt sich ein Phänomen
der Bescheidenheit, wenn eine relative Perspektive, dasjenige,
von dem ihr Leben abhängt und das für sie deshalb
absolute Bedeutung hat, dennoch als relativ ansieht.
Wie man sieht, versinkt nichts in Relativismus, wenn alles
relativ wird; in Relativismus versinkt alles eigentlich
nur dann, wenn man die absolute Perspektive nicht aufgeben
will und den Absolutismus (der in der völlig unrealistischen
Forderung nach ahistorischen wissenschaftlichen Methoden
und Maßstäben liegt, was impliziert, dass wissenschaftliche
Methoden und Maßstäbe sich nicht entwickeln dürften)
gegen die Übermacht der Kritik nicht halten kann.
15.
April 2012 |