Nach
der Lektüre von Mario Biagiolis Studie: Galilei.
Der Höfling
Man
hatte mir nach meinem Vortrag beim Workshop „Dr. Jekyll
oder Mr. Hyde“ (im September 2010 in Lausanne; siehe
die: „Analyse der Diskussion nach meinem Vortrag“)
vorgehalten, dass Wissenschaftler „früher“
auch nicht als Menschen ernst genommen wurden, sondern im
Gegenteil die soziale Abhängigkeit und der Druck zur
sozialen Anpassung sogar noch größer gewesen
seien und sich dabei auf Mario Biagiolis Studie
Galilei. Der Höfling. Entdeckungen und Etikette:
Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft. (S. Fischer, Frankfurt/Main
1999) berufen.
Nun
habe ich dieses Buch gelesen und finde darin genau das Gegenteil
von dem, was mir als sein Inhalt angekündigt worden
ist. Und weil das eine Erfahrung ist, die ich immer wieder
mache – dass ich, sobald ich selber eine Sache näher
betrachte, häufig das Gegenteil von dem finde, was
mir andere über sie erzählt haben – möchte
ich hier in einem kurzen Text davon berichten.
Warum
also stimmt das nicht, was die anwesenden KulturwissenschaftlerInnen
beim Workshop in Lausanne behauptet hatten, nämlich
dass Galilei ein gutes Beispiel sei für den Wissenschaftler,
der sich an die soziale Organisation der Wissenschaft anpassen
musste, um überhaupt wissenschaftlich arbeiten zu können?
Da gibt es mehrere Gründe. Hier ist der erste: Durch
die Anstellung am Hofe der Medici konnte Galileo Galilei
der Universität mit ihren fachlichen Hierarchien entkommen,
die sein Fach nicht wertschätzte:
„Durch
eine Stellung bei Hofe hoffte er auch den Zwängen
der fachlichen Hierarchie an der Universität zu
entkommen, einer Hierarchie, in der die Mathematiker
sowohl hinsichtlich der Bezüge als auch hinsichtlich
ihres beruflichen Status den Philosophen untergeordnet
waren. Die Philosophie befaßte sich nach damaliger
Auffassung mit den realen Ursachen der Naturerscheinungen,
während die Mathematik es nur mit deren „akzidentiellen“
oder „zufälligen“, das heißt
in diesem Falle: quantitativen Aspekten zu tun hatte.
Daher war es nicht Aufgabe der Mathematiker, legitime
physikalische Interpretationen der Naturerscheinungen
hervorzubringen. (S.
119) |
Und das ist Galileo offenbar auch gelungen: „Schon
im September 1610 lebte Galilei wieder in Florenz, war frei
von jeder Lehrverpflichtung und erhielt das beachtliche
Gehalt von eintausend Scudi um Jahr. […] Obwohl ein
absoluter Vergleich kaum möglich ist, da die Höflinge
neben ihrem Gehalt meist noch andere Einkünfte besaßen,
scheint Galileis Apanage doch dreimal so hoch gewesen zu
sein wie das Salär der höchstbezahlten Künstler
oder Ingenieure und immer noch um die Hälfte höher
als das Gehalt eines Primo Segretario wie Belisario
Vinta oder Curzio Picchena.“ (S. 118) Das
heißt, es gab in der Frühneuzeit neben dem universitären
noch einen zweiten legitimen wissenschaftlichen Diskurs,
zu dem man Zuflucht nehmen konnte, wenn man an den Universitäten
nicht zum Zug kam, weil veraltete Strukturen das nicht zuließen.
Wo gäbe es heute diesen zweiten Diskurs oder diese
zweite soziale und finanzielle Basis für wissenschaftliches
Arbeiten, auf die man sich retten könnte? Heute gibt
es keinen Gegendiskurs mehr zum akademischen Diskurs der
Wissenschaftlichkeit; Galilei hatte folglich mehr Wahlmöglichkeiten
als ein heutiger Wissenschaftler/eine heutige Wissenschaftlerin.
Das
ist der erste Grund, warum das nicht stimmt, was man in
Lausanne mir gegenüber behauptet hat. Mit diesem Grund
verbunden ist allerdings noch ein Zuordnungsfehler: Wenn
man Wissenschaft, so wie ich, als „soziale Organisation
von Wissenschaft“ versteht, dann müsste man eigentlich
eher den zu Galileis Zeiten an den Universitäten herrschenden
Aristotelismus als „Wissenschaft“ identifizieren,
nicht jedoch das, was Galilei tat. Freilich, man kann mutmaßen,
dass sich in diesem Fehlgriff bei der Zuordnung historischer
Tatbestände in einer Diskussion über theoretische
Vorschläge ganz einfach die heutige Perspektive durchgesetzt
hat: Wenn die KulturwissenschaftlerInnen beim Workshop „Dr.
Jekyll oder Mr. Hyde“ in Lausanne von Galilei sprachen
und ihn als Wissenschaftler einordneten, so erschien das
als ganz natürlich – schließlich gilt er
uns heute eindeutig als ein Wissenschaftler. Aber diese
Zuordnung zeugt eben doch davon, dass die WissenschaftlerInnen
in Lausanne mir bei meinem Vortrag nicht zugehört und
nachher, in der Diskussion, nicht danach gefragt hatten,
was ich denn meine. Hätten sie es getan, wäre
schnell klar geworden, dass die Aspekte der Sklerose und
Versteinerung des Erkennens im Spezialistentum heutiger
Wissenschaft, welche dadurch entstehen, dass Wissenschaft
sich als ein System von Wissen begreift, welches flächendeckend
die Wirklichkeit überzieht und beansprucht, sie auf
der Ebene der Erkenntnis vollständig zu repräsentieren,
viel eher mit dem universitären Aristotelismus zu Galileis
Zeiten, der einen ähnlich umfassenden Welterklärungsanspruch
vertrat, zu vergleichen wäre als mit Galileis wissenschaftlicher
Arbeit. Wir hätten dann sozusagen nicht von vornherein
an den völlig falschen Stellen gesucht.
Nächster
Punkt: Musste Galilei sich am Hofe der Medici also nicht
anpassen, sondern konnte sich dort als Mensch und Wissenschaftler
völlig frei verwirklichen? Nein, das konnte er nicht.
Er musste sich sogar anpassen bis zur „Selbstauslöschung“,
weil das höfische System der Patronage es verlangte,
dass er seine wissenschaftlichen Entdeckungen so präsentierte,
als wären sie nicht seine eigenen Leistungen zustande
gekommen, sondern so als wäre es bloß das Verdienst
des Fürsten, sie ermöglicht zu haben und so als
wäre der Fürst ihr eigentlicher Urheber. Das folgende
Zitat deutet die verqueren Zusammenhänge an, in welche
der Einzelmensch in diesem absurden Sozialsystem der höfischen
Gesellschaft verstrickt war.
„Das
eigentlich interessante Paradoxon in Galileis erfolgreicher
Patronagestrategie ist die Tatsache, daß er seine
Urheberschaft an der Entdeckung auslöschen mußte,
um als Autor, das heißt als Philosoph, größere
Legitimation zu erlangen. Wie wir gesehen haben, gründete
das Ritual der Selbstauslöschung in der Dynamik
der absoluten Macht. Torquato Tasso charakterisierte
den Hof als eine Versammlung, in der Höflinge Ansehen
und Ehre des Fürsten mehrten, weil sie nur auf
diese Weise Ehre für sich selbst erlangen konnten
– wie ein Strom, der von seiner Quelle gespeist
wird. (S.
166) |
Das Absurdeste an diesem Sozialsystem war, dass es ein System
der Mauschelei, also eines von Regeln, die unausgesprochen
bleiben mussten, war. Denn der Fürst konnte mit seinen
Höflingen nicht offen darüber „verhandeln“,
dass sie ihn zu preisen hatten und welche Rekompensation
sie dafür bekommen würden, weil das sein fürstliches
Ansehen untergraben hätte. Also mussten Höflinge
und Fürst eine stillschweigende Komplizenschaft eingehen,
und auch Galilei musste Cosimo II. de Medici seine wissenschaftlichen
Entdeckungen scheinbar ohne äußeren Zwang zu
Füßen werfen in der Hoffnung, dafür vom
Fürstenhofe etwas zurückzubekommen. Leistung wurde
also nicht expliziert und belohnt, und das forschende Individuum
konnte sich daher auch nicht durch Leistung durchsetzen.
Aber
– jetzt kommt das große Aber: Es war den Fürsten
inhaltlich gleichgültig, was ihre Hofwissenschaftler
erforschten. Sie hielten sich ihre Wissenschaftler eher
zum Zwecke wissenschaftlicher Schaukämpfe bei Tisch,
gleichsam als ein geistiges Pendant vielleicht zu Rittertournieren,
und es ging bei diesen Disputen eher um den Sportsgeist,
um ein tolles Spektakel und darum, sich gewandt in der Diskussion
zu schlagen als darum, welche Anschauung sich letzten Endes
wirklich als die wahre erweist.
„Deshalb
interessierten die Schirmherren sich eher für den
„sportlichen Geist“, der in einem „Duell“
zum Ausdruck kam, als für einen blutigen Ausgang.
Das Verhalten des Papstes im Streit zwischen Galilei
und Grassi über die Kometen ist ein gutes Beispiel
dafür. Urban VIII., der sich den Goldwäger
während der Mahlzeiten vorlesen ließ, genoß
weniger die technischen Einzelheiten als den gewitzten
literarischen Stil, den Galilei in der sogenannten „Tonfabel“
entfaltete. Und besonders schätzte er Galileis
beißenden Spott über die dogmatischen Philosophen,
die durch ihre engstirnigen dogmatischen Thesen jede
Freude an der Erforschung der Natur (dem „philosophischen
Sport“) verdarben. Die für Schirmherren typische
Ästhetik des „Sportsgeistes“ zeigt
sich auch im theatralischen Charakter mancher bei Hofe
inszenierten wissenschaftlichen Streitgespräche.
So nahmen die Kardinäle Barberini und Gonzaga persönlich
an dem Streitgespräch über schwimmende Körper
teil, das 1611 am Hof der Medici veranstaltet wurde,
Barberini auf der Seite Galileis, Gonzaga auf der des
Philosophen Papazzoni. Die Berichte über dieses
Streitgespräch befassen sich denn auch in erster
Linie nicht mit dem Wahrheitsgehalt der jeweiligen Thesen,
sondern mit dem Stil, dem Witz und der Eleganz der von
Galilei und Papazzoni gebotenen Vorstellung.“
(S. 90) |
Es
war also Galilei nicht nur erlaubt, sondern es war sogar
erwünscht, dass er mit „beißendem Spott“
argumentierte. Man beachte, wie sehr dazu die Warnungen,
doch „vorsichtig zu sein“, die Siegfried und
Susan nach meinem Vortrag beim Workshop vorbrachten, dazu
im Gegensatz stehen! Zur Vorsicht hätte man zu Galileis
Zeiten doch wohl eher in den Diskursen der vom Aristotelismus
beherrschten Universität geraten, weil dort die Lehre
eines „Urpropheten“ – die des Aristoteles
– dominierte und sicherlich alle Aussagen daraufhin
geprüft wurden, ob sie mit jenen des Aristoteles übereinstimmten.
Das höfische Gesellschaftssystem löschte also
den Einzelmenschen nicht nur aus, sondern es brachte ihn
als Individuum in einer zweiten Bewegung erneut wieder hervor,
denn: Wenn man einen Schaukampf sehen will, dann braucht
man Schaukämpfer – und in der Betrachtung dieser
ist ein Stück „Ecce homo“, also Wahrnehmung
der Individualität des Menschen, wiederum inkludiert.
Das bedeutet: Galilei musste sich nicht nur anpassen, sondern
er durfte auch sehr kratzbürstig sein, und zwar war
das durch den Umstand möglich, dass die Menschen um
1610 herum eine gewisse Distanz zur Tatsachenwahrheit von
Thesen und Gedanken hatten – eine Distanz, die heutigen
WissenschaftlerInnen, wie ich in meiner „Analyse der
Diskussion“ nachgewiesen habe, offenbar fehlt.
Das
ist aber noch nicht alles: Galilei durfte nämlich am
Hofe der Medici nicht nur inhaltlich machen, was er wollte,
weil sich die Schirmherren seiner Zeit für das Inhaltliche
ohnehin nicht interessierten, sondern diese merkwürdige
Soziallogik des Hofes trieb Galilei sogar zusätzlich
noch dazu an, gewagte Standpunkte einzunehmen, Neues zu
präsentieren und Schritte zu tun, die ihn individualisierten
– also in eine Richtung zu gehen, in der er am Ende
allein dastand. Der Grund dafür war wiederum diese
Logik des Schaukampfes: Wenn man schon Schaukämpfe
betrachtet, so möchte man zumindest, dass sie interessant
sind, und dafür ist es nötig, dass die Schaukämpfer
jeweils etwas Besonderes an sich haben, das sie von ihren
Gegnern unterscheidet.
„Wie
die Analyse der für das Patronagesystem typischen
Dynamik der Ehre gezeigt hat, war die Abkehr vom Kopernikanismus
1610 für Galilei schon keine wirkliche Option mehr.
Nicht nur weil er mit der kopernikanischen Astronomie
sympathisierte, sondern auch weil man von ihm angesichts
seiner gerade erst erworbenen Stellung bei Hofe erwartete,
daß er mit neuen philosophischen Thesen hervortrat
und sich auf Debatten über strittige Fragen einließ.
Hätte Galilei den Kopernikanismus fallengelassen,
wäre ihm das als Zaghaftigkeit oder gar als Feigheit
ausgelegt worden – man hätte ihn als „normal“
eingestuft. Eine realistische Interpretation
des kopernikanischen Systems dagegen bot ihm die Chance,
sich jenes Titels als würdig zu erweisen, den er
so entschlossen angestrebt hatte: des Titels eines Philosophen.“
(S.
115) |
Galilei
wurde also durch das absurde Sozialsystem der höfischen
Gesellschaft zum Kopernikanismus, jener astronomischen Anschauung,
welche ihm später die Verurteilung durch die katholische
Kirche einbrachte, geradezu aufgemuntert. Diese Tatsache
belegt meine These, dass die gesellschaftliche Organisation
von Wissenschaft bestimmt, welches Wissen von den WissenschaftlerInnen
hervorgebracht wird. Das Beispiel von Galileis Kopernikanismus
beweist sogar, dass die gesellschaftliche Organisation von
Wissenschaft nicht bloß die Form des hervorgebrachten
Wissens bestimmt, sondern auch darüber entscheidet,
ob es denn hervorgebracht wird oder ob man lieber darauf
verzichtet. Während der universitäre Aristotelismus
zu Galileis Zeiten eine kollektive, hierarchische und rückwärtsgewandte
(also vorhandenes Wissen bloß verwaltende) Struktur
bildete, trieb das Patronagesystem des Hofes die Wissenschaftler
in das Neue, in die Exponierung ihrer Person und in die
Individualisierung hinein.
Ich
möchte an dieser Stelle kurz darauf eingehen, warum
ich dieses Sozialsystem „absurd“ nenne. Der
Grund dafür ist, dass dieselben Handlungen, die den
Erfolg eines Höflings bewirkten, auch seinen Fall verursachen
konnten. Und Mario Biagioli stellt die Geschichte von Galilei
ja auch so dar, dass seine Verurteilung durch das Heilige
Offizium am Ende seines Lebens nichts anderes als der typische
„Sturz eines Favoriten“ war. Das bedeutet, man
konnte in diesem Gesellschaftssystem eigentlich nichts richtig
machen, indem man sich an die Regeln hielt! Das sei im Übrigen
auch den Vertretern des Fachs Interkulturelle Kommunikation
einmal deutlich gesagt: Kulturen bestehen nicht einfach
aus Regeln, bei deren Einhaltung das Individuum „alles
richtig“ macht und von den anderen Mitgliedern dieser
Kultur akzeptiert wird. Sondern Kulturen sind oft in sich
widersprüchlich. Im Fall der höfischen Gesellschaft
war das etwa so, dass diese Galilei dazu antrieb, sich zu
exponieren, um für die Fürsten ein ergötzliches
Schauspiel zu bieten. (Ein jeder Fürst wollte ja auch
von den anderen Fürsten und hochgestellten Persönlichkeiten
beneidet werden.) Sobald er aber zu exponiert war und durch
die internationale Anerkennung seiner Arbeit auch zu wichtig
geworden war, musste man ihn absägen. Wie ein Ikarus
mit seinen mit Wachs zusammengehaltenen Flügeln glitt
also ein damaliger Höfling in die Höhe hinauf,
um sich der Sonne des Fürsten anzunähern und dessen
Gunst zu gewinnen; kam er jedoch der Sonne zu nahe (worin
der Erfolg eines Höflings bestand), dann schmolz das
Wachs, und er musste abstürzen.
Mit
dieser Tatsache habe ich nun schon ein drittes Argument
gegen die KulturwissenschaftlerInnen in Lausanne herausgearbeitet,
die behauptet hatten, in früheren Zeiten habe sich
ein Wissenschaftler sogar noch mehr an soziale Gegebenheiten
anpassen müssen als heute. Zur Erinnerung wiederhole
ich die bisher vorgebrachten Argumente noch einmal und füge
das neu entwickelte Argument hinzu:
-
Es gab zu Galileis Zeiten an den Fürstenhöfen
einen alternativen Wissenschaftsdiskurs, zu dem man Zuflucht
nehmen konnte, wenn man sich an den universitären
Wissenschaftsdiskurs nicht anpassen wollte oder konnte.
-
Den Fürsten war es inhaltlich gleichgültig,
was ihre Wissenschaftler erforschten; sie wollten nur
schöne Schaukämpfe sehen. Dadurch genossen Wissenschaftler
wie Galilei nicht nur große Freiheit zu Kratzbürstigkeit
und Nichtanpassung, sondern sie wurden durch die Logik
der Schaukämpfe sogar in Nichtanpassung und Individualisierung
hineingetrieben, weil man sich geistige Schaukämpfer
wünschte, die sich durch individuelle Besonderheiten
auszeichneten.
-
Wenn man von Anpassung an soziale Umstände spricht,
dann muss man erklären: die Anpassung woran? Im Fall
der höfischen Gesellschaft war die Anpassung (und
hier gab es freilich viele Regeln der Etikette zu beachten)
zugleich eine Nichtanpassung. Der Grund dafür war,
dass das höfische Gesellschaftssystem ein absurdes
und in sich widersprüchliches Gesellschaftssystem
war, in welchem man durch Einhaltung der Regeln nichts
richtig machen konnte. (Es drängt sich die Frage
auf, ob sich unser heutiges Gesellschaftssystem in diesem
Punkt vom höfischen unterscheidet?)
Mein
nächstes Argument gegen die Behauptung der KulturwissenschaflerInnen
in Lausanne wird sein, dass zudem auch das wissenschaftliche
Wissen, welches die Höflinge zu Galileis Zeiten suchten,
Personenformat haben musste. Man fasste also Wissen nicht
so auf, wie man das heute in der Wissenschaft tut, als ein
großes Wissensfeld, in welchem der einzelne Mensch
sich verlieren muss (weil man eigentlich alles wissen müsste,
um behaupten zu können, etwas zu wissen, das aber nicht
schaffen kann), sondern man suchte wissenschaftliche „Kleinode“,
also Wissensstückchen, die das Individuum bequem in
die Tasche stecken und für den eigenen Gebrauch mitnehmen
konnte.
In
diesem Zusammenhang ist vor allem Mario Biagiolis Neuinterpretation
von Galileis berühmter Aussage, wonach das „Buch
der Natur“ in der „Sprache der Mathematik“
geschrieben sei, sehr instruktiv: Heute meinen wir ja, darin
drückte sich damals schon Galileis Vorwärtsgewandtheit
aus, welche die Mathematisiertheit heutiger Wissenschaft
vorwegnahm. In Wirklichkeit war es ganz anders: Galilei
sprach die damaligen Höflinge an – und diese
waren als Individualisten (durch ihre Stellung als Höflinge
waren sie zu einem ziemlichen Maß an Individualismus
gezwungen) eher dazu bereit, eine neue Sprache (hier: die
Mathematik) zu lernen, als sich von einem philosophischen
System (dem Aristotelismus) gefangen nehmen zu lassen.
„Höfische
virtuosi schätzten das Neue, weil das
Neue in gewisser Weise ein Sinnbild der geistigen
Freiheit (oder vielmehr ihres Idealbildes) darstellte,
die sie aufgrund ihres Ranges besaßen. Adlige
[S. 328] galten als objektiv, weil sie frei von Interessen
waren, und sie waren frei von Interessen, weil sie
ökonomische Unabhängigkeit besaßen
und daher keine Interessen hinsichtlich der behandelten
Gegenstände vertraten. Aus demselben Grunde konnten
Adlige (und alle, die sich als solche darstellen wollten)
nicht zulassen, daß ihr Geist durch ein philosophisches
System geknechtet wurde. Der philosophische Eklektizismus
war für einen Adligen geradezu natürlich
und fast schon eine Ehrenpflicht. Und als eine eklektische
Sammlung einzelner „Kleinode“ stellte
Galilei das Wissen in seiner Tonfabel dar –
wie später auch Mascardi in seinem Vortrag. Dabei
war es nicht entscheidend, ob es sich bei diesen „Kleinoden“
um empirische Entdeckungen oder um neue Hypothesen
handelte. Entscheidend war ihre Besonderheit und Originalität.
In diesem Kontext müssen wir Galileis berühmtes
Bild vom Buch der Natur verstehen:
Die
Philosophie steht in diesem großen Buch
– dem Universum – geschrieben, das
sich unserem Blick ständig offen darbietet;
doch verstehen kann es nur, wer zunächst
die Sprache und die Schrift lernt, in der es
geschrieben ist. Geschrieben ist es in der Sprache
der Mathematik, und ihre Schriftzeichen sind
Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren,
ohne die es menschenunmöglich wäre,
auch nur ein einziges Wort davon zu verstehen;
ohne sie irrt man nur in einem dunklen Labyrinth
umher. |
Diese
Passage wird meist als eindeutiges Bekenntnis zur
mathematischen Methode (oder sogar zum Platonismus)
interpretiert, aber das trifft allenfalls in einem
übertragenen Sinne zu. Galilei schrieb den Goldwäger
nicht für die Historiker und Philosophen des
zwanzigsten, sondern für Höflinge des frühen
siebzehnten Jahrhunderts. Das Bild des offenen Buchs
der Natur gefiel ihnen, weil es dem Gedanken eines
unmittelbaren Wissens Ausdruck verlieh. Zwar mußte
man erst die Schrift lernen, in der es geschrieben
war, aber eine Sprache zu lernen hieß nicht,
sich in die Knechtschaft eines philosophischen Systems
zu begeben. Hatte man diese sprachliche Fähigkeit
erworben, lag das Buch offen da und ließ sich
frei interpretieren. Ich denke, es war nicht wirklich
[S. 329] bedeutsam, daß die meisten Höflinge
die Schrift wahrscheinlich nicht lesen konnten. Entscheidend
war, daß Galileis Idee des Wissens
ihrer eigenen Vorstellung entsprach. Die Möglichkeit
war wichtiger als die Wirklichkeit.
Und dieser Möglichkeit nach konnten sie es nicht
nur selbst lesen, sie konnten auch aussuchen, welche
Seite und welchen Absatz sie lesen wollten. Wie beim
Goldwäger brauchte man sich nicht erst
ein ganzes philosophisches System anzueignen (oder
zahlreiche Seiten lesen), um zu begreifen, wovon das
Buch handelte. Wie Ciampoli es tat, als er das Buch
dem Papst vorlas, konnten sie es an irgendeiner Seite
aufschlagen und ein kostbares „Kleinod“
finden. Man brauchte nicht erst das ganze Organon
des Aristoteles in der gehörigen Reihenfolge
zu lesen, bevor man in der Philosophie mitreden durfte.
Obwohl es Galilei letztlich um die Legitimation der
mathematischen Methode ging, stützte er sich
nicht auf den mathematischen Realismus oder den Platonismus,
sondern auf das höfische Bedürfnis nach
nichtpedantischem Wissen.“ (S.
327-329)
|
In
diesem Zitat ist ein aus der Sicht des Individuums, das
sich Wissen aneignen will, sehr wichtiger Punkt enthalten:
Das Wissen muss unmittelbar zugänglich sein. Also:
Es darf nicht sein, dass die komplette Lektüre von
tausend oder mehreren tausenden Seiten irgendeines Kompendiums
zwischen mir und der Position steht, an der ich überhaupt
zum ersten Mal behaupten darf, etwas zu wissen. In diesem
Sinne war das Wissen, welches Galilei hervorbrachte, zu
seiner Zeit ebenso „unphilosophisch“ (gegenüber
dem Aristotelismus) wie es heute als „unwissenschaftlich“
bezeichnet werden müsste: Als Beleg für diese
Behauptung verweise ich auf den Ratschlag, den mir Siegfried
Bodenmann in der Diskussion über meinen Vortrag beim
Workshop gegeben hat, nämlich, zuerst zu lesen, was
andere relevante WissenschaftlerInnen zu diesem Thema geschrieben
haben. Der Zugang zur Sache wird in der heutigen Kulturwissenschaft
also nicht direkt gesucht, sondern über die Vermittlung
von Autoritäten. Man könnte es auch so sagen:
Wissenschaft heute ist kein Gespräch über „die
Sachen selbst“ (Edmund Husserl), sondern besteht vielmehr
gerade im Verzicht, über die Sachen selbst zu reden
zugunsten der Bezugnahme auf andere Wissenschaftler: Man
redet in der Wissenschaft primär über andere WissenschaftlerInnen
und deren Erkenntnisse und Theorien. Und diese wissenschaftliche
„Erkenntnisweise“ blockiert natürlich den
Zugang des Individuums zur Erkenntnis. Sie tut es in ähnlicher
Weise, wie das zu Galileis Zeiten der Aristotelismus tat.
Der handgreifliche „Erfolg“ des Aristotelismus
bestand darin, dass die damaligen Universitätsphilosophen
alles über Aristoteles wussten, aber nichts über
die Welt, in der sie leben. Heute haben sich die Autoritäten
vervielfacht, aber das Schema ist das gleiche geblieben:
Bei den gegenwärtigen KulturwissenschaftlerInnen gilt
ebenso, dass sie etwas von ihrem Fach verstehen, wenn und
weil sie die Forschungen und Meinungen von bekannten und
vielzitierten WissenschaftlerInnen kennen – nicht
aber deswegen, weil sie etwas von den Gegenständen
selbst, die ihr Fach bilden, verstünden.
Zum
Abschluss bringe ich nun noch eine Darstellung von der „Steigerungsstufe“
des Hofs, in welcher auch noch einmal die Logik der Individualisierung,
die in der sozialen Logik des Höflingsdaseins lag,
gesteigert ist. Diese Steigerungsstufe findet sich im römischen
Hof, in jenem des Papstes, mit dem auch Galilei gegen Ende
seines Lebens, nachdem sein Schirmherr Cosimo II. de Medici
gestorben war, immer mehr zu tun hatte. Der Hof des Papstes
unterschied sich von jenem der Medici vor allem dadurch,
dass in ihm nicht eine Adelsfamilie über Generationen
hinweg regierte, sondern immer wieder ein neuer Papst gewählt
wurde, mit dessen Herrschaft sich alles veränderte.
Rom war für die damaligen Höflinge vielleicht
so etwas Ähnliches wie im 20. Jahrhundert die USA,
ein „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“.
Tatsächlich riet man den dortigen Höflingen, sich
mit niemandem schlecht zu stellen, denn schon morgen konnte
der Niedrigstgestellte die unwahrscheinlichste Karriere
machen.
Der
römische Hof war also noch höfischer als der Hof;
er war der Barock-Hof par excellence. Dieser Hof kann uns
nun zu Überlegungen dazu anregen, wie denn die sozialen
Gegebenheiten aussehen müssen, damit in einer Gesellschaft
individualisiertes, personenzentriertes Wissen möglich
ist und nachgefragt wird. Das nachfolgende Zitat scheint
nahezulegen, dass die Unvorhersehbarkeit ihrer Zukunft und
die generelle Unsicherheit des Höflingsschicksals für
die damaligen Höflinge die wesentliche Motivation darstellte,
um nach „kulturellen Kleinoden“ zu suchen anstatt
in philosophischen Systemen Zuflucht zu nehmen. Damit ein
Wissenssystem die Macht haben kann, Zuflucht zu bieten,
muss es nämlich ein ausreichendes Maß an Sicherheit
des Lebens gewähren können. Das war jedoch im
höfischen Gesellschaftssystem, welches alle Höflinge
und auch die Fürsten (inklusive dem Papst) gegeneinander
ausspielte, um auf diese Weise zu einem immer prekären
Machtgleichgewicht zu kommen, nicht der Fall.
„Möglicherweise
besteht ein Zusammenhang zwischen der Veränderlichkeit
der römischen Machtverhältnisse, dem Fehlen
einer zentralen, vom Fürsten manipulierten dynastischen
Mythologie und jener Vorliebe für Eklektisches,
Ephemeres und geistreich Literarisches, die man vor
allem in Rom, der Hauptstadt des Barock, [S. 283] antreffen
konnte. Zwar war der kulturelle Eklektizismus wegen
der Symbiose mit dem Diskurs des Absolutismus typisch
für alle Fürstenhöfe des Barock (und
auch wegen der Kultur des Nichtengagements, die mit
den Doktrinen der Staatsräson einherging), doch
in Rom war er wegen des Fehlens dynastischer Mythologien
und eines relativ stabilen kulturellen Rahmens besonders
extrem ausgeprägt. Wenn die römischen Höflinge
einzigartigen „kulturellen Kleinoden“ den
Vorzug gegenüber komplexen und möglichst kohärenten
Programmen oder philosophischen Systemen gaben, so kam
darin wahrscheinlich ihre eigene Identität zum
Ausdruck. In gewisser Weise glichen erfolgreiche Höflinge
selbst „Kleinoden“, das heißt atomisierten
Individuen, die auf der sozialen Stufenleiter aufzusteigen
versuchten, indem sie ihre Besonderheit und Einzigartigkeit
in ständig und unvorhersehbar wechselnden Szenarien
vor Augen führten. Wenn der Systemgedanke der römischen
Kultur fremd war, so auch wegen des Zufallscharakters,
der dem Leben der Höflinge, ihrer Karriere und
ihrer Identität anhaftete. Es dürfte kein
Zufall sein, daß in Rom das Barock seine reichste
Nische fand.“ (S.
282-283) |
Was
ich mit diesem Zitat zum Ausdruck bringen möchte, ist
jedoch nicht der Wunsch nach einer Gesellschaft, in der
sich alle Menschen unsicher fühlen müssen. Ich
liebe die Unsicherheit nicht und möchte mich nicht
zum Anwalt der höfischen Gesellschaftsordnung machen.
Es ist auch nicht die Unsicherheit selbst, die in diesem
Zitat dominiert und als Hauptursache dafür erscheint,
dass die Höflinge nach Wissen in der Gestalt von „kulturellen
Kleinoden“ suchten, sondern daneben scheint darin
noch ein anderer Aspekt durch: Es hat sich damals offenbar
um eine Gesellschaft gehandelt, in welcher ein jeder Mensch
auch Anlass hatte, den Anderen als Individuum und Person
wahrzunehmen. Er hatte Anlass dazu, weil er wusste, dass
der Andere prinzipiell ebenso alleingelassen und schutzbedürftig
war wie er selber. Es war gleichsam so wie auf einer Bergwanderung,
wo uns auch die Individualität des anderen Menschen
auffällt, weil seine Körperlichkeit eine wichtige
Rolle spielt und die Verletzlichkeit dieser Körperlichkeit.
Und so wie es bei einer Bergwanderung wichtig ist, die menschliche
Körperlichkeit durch die individuell richtige Ausrüstung
– passende Schuhe, Regenkleidung, Proviant –
zu schützen, machte es auch in der Bergsteigergesellschaft
des sozialen Aufstiegs, welche die Höflingsgesellschaft
war, Sinn nach individuell brauchbaren Wissensstücken
zu suchen, die sich als Ausrüstungsgegenstände
oder als Proviant auf die gefährliche Wanderung mitnehmen
ließen. Ich will meinen zentralen Gedanken vielleicht
so zum Ausdruck bringen: Ein Konzept von Wissen als Proviant
für den eigenen Lebensweg kann sich in einer Gesellschaft
wahrscheinlich nur dann durchsetzen, wenn man sich dessen
gewiss sein kann, dass auch die anderen Menschen individualisiert
sind und geistigen Proviants bedürfen – so wie
sie auf einer Bergwanderung ihrer Bergschuhe, ihres Rucksacks
und ihrer Tafel Schokolade bedürfen. Ist es hingegen
in einer Gesellschaft so, dass der Status, den eine Person
genießt, vollkommen von der Institution, für
die diese Person tätig ist, gesichert wird, dann tritt
sie als Person eigentlich nicht mehr in Erscheinung –
und das hat zur Folge, dass das Konzept von Wissen als Proviant,
also Wissen als Helfer, um in Lebenssituationen zu bestehen,
in dieser Gesellschaft verlorengeht. Anstatt dessen wird
Wissen in einer solchen Gesellschaft wohl eher darin bestehen,
sich durch die Aneignung von für den eigenen Gebrauch
zum Großteil recht unnützen Wissens zum Hohepriester
der Institution zu machen, in welcher man steckt und von
der das eigene Leben abhängt; also so ähnlich
wie die Universitätsprofessoren des Aristotelismus
den Aristotelismus zu vertreten hatten, weil er die Einheit
darstellte, die ihnen ihr Brot und Einkommen gewährte.
Der Mensch als Individuum hört zu existieren auf, wenn
er sich einer Institution ganz anheimgibt. Und ein Konzept
von Wissen als individuellem Wissen kann in einer Gesellschaft
nur funktionieren, wenn man weiß: Ich bin ein Individuum,
du bist ein Individuum – und deshalb hast auch du
prinzipiell an derselben Form von Wissen Bedarf, die auch
ich brauche. Denn in einer Gesellschaft, in welcher individuell
brauchbares Wissen auf das Unverständnis jener stößt,
für die Wissen bloß das Sich-Auskennen in einer
Institution bedeutet, verliert sich gewiss ziemlich schnell
der Anreiz und die Lust, individuell brauchbares Wissen,
also Wissen als Proviant, darzustellen und es den Anderen
zu kommunizieren. Aber das sind bereits weiterführende
Gedanken.
Zusammenfassung
Die
Behauptung der KulturwissenschaftlerInnen in Lausanne, wonach
die Abhängigkeit von Wissenschaftlern „früher“
sozialen Umständen gegenüber sogar noch größer
gewesen sei als heute, stimmt in der Weise nicht. Und auch
das Buch von Mario Biagoli scheint eher meine Thesen zu
unterstützen als ihre Sichtweise der Wissenschaftsgeschichte.
Denn das höfische Gesellschaftssystem war, bei aller
Anpassung an die Etikette, zu der es auch zwang, zugleich
wesentlich davon abhängig, dass Individuen sich exponierten
und dadurch als Individuen, also als Personen oder als „Menschen“
(mit eigener Persönlichkeit) sichtbar wurden. Damit
verbunden sind notwendigerweise: bis zu einem gewissen Grad
eine Vorstellung vom Menschen als Person (als eigenständiges
Individuum) und, zweitens, eine Vorstellung von der Gestalt
wissenschaftlichen Wissens in einer Größeneinheit,
welche es erlaubte, dass das Individuum dieses Wissen aufnahm
und es sich aneignen konnte (Wissen in Personenformat).
Das
Gegenkonzept zu dieser Vorstellung vom Wissen ist das organisierte
Wissen, wie es sich uns heute im akademischen Fächerkanon
mit seinem Spezialisten oder zu Galileis Zeiten im universitären
Aristotelismus zeigte. Aus Wissenssystemen kann der einzelne
Mensch sich eigentlich keine Erkenntnis herausnehmen, ohne
sich am System zu versündigen. Nimmt er sich diese
Freiheit, sich etwas herauszunehmen, wird man ihm immer
vorwerfen, er habe das Wissen im Sinne des Wissenssystems
falsch verstanden (wobei: es im Sinne des Systems richtig
zu verstehen, eigentlich von vornherein gar nicht seine
Absicht gewesen war). Will in einem Wissenssystem ein Mensch
behaupten, etwas zu wissen, so muss er mit dem System verschmelzen
– und weil dieses in seiner Größe und Fülle
für den Einzelmenschen unassimilierbar ist, muss er
zum Spezialisten werden. Als Spezialist verweist sein Wissen
aber immer noch auf das umfassendere Wissenssystem, welches
durch seine Größe und Dignität für
die Richtigkeit des Spezialistenwissens bürgt. Wollten
wir uns wieder ein Konzept von einem durch Individuen aneigenbaren
Wissens machen, so müsste es sich um ein Wissen handeln,
das straflos aus der Wissenschaft herausgelöst werden
dürfte, ohne dass die umstehenden KulturwissenschaftlerInnen
dabei Zeter und Mordio schreien.
Ein
solches für das Individuum aneigenbares Wissen existierte
zu Galileis Zeiten im Konzept der „kulturellen Kleinode“,
von denen Mario Biagioli in seiner Studie spricht. Das soll
heißen: Zu Galileis Zeiten existierte immerhin noch
die Idee vom Einzelmenschen, welcher sich Wissen aneignet,
während sie heute nicht einmal mehr zu existieren scheint,
weil man davon ausgeht, dass das forschende Individuum im
System des heutigen wissenschaftlichen Wissens seine Grenzen
aufzulösen und in diesem System restlos aufzugehen
habe. Der Fall Galileis erweist sich damit als ein denkbar
schlechtes Beispiel für die These, wonach „früher“
der soziale Anpassungsdruck auf WissenschaftlerInnen größer
gewesen sei als heute. In Wirklichkeit hätte uns eine
genauere Bezugnahme auf die Studie von Mario Biagioli mit
der Nase auf die Probleme gestoßen, über die
ich in meinem Vortrag sprach. Aber damit das möglich
gewesen wäre, hätten die anwesenden KulturwissenschaftlerInnen
beim Workshop in Lausanne danach fragen müssen, welche
Art der Anpassung mir vorschwebt und an welche Entität
– doch dafür waren sie zuwenig individualisiert,
und es fehlte ihnen eine Vorstellung von Wissen als Personenwissen,
also von einem Wissen, das nicht einfach das „Wissen
der Wissenschaft“ ist, sondern welches sich Personen
aneignen (können), um sich damit auf ihrem eigenen
Lebensweg zu orientieren.
2.
November 2010
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