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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Pierre Bourdieu und die Wissenschaft und die Philosophie

 

Eine Angelegenheit, die mich bei Pierre Bourdieu immer noch irritiert und verwundert, ist sein eigentümliches, verdrehtes Verhältnis zur Wissenschaft und zur Philosophie. (Diesem können, meiner Ansicht nach, nur völlig falsche Vorstellungen, oder Grundkonzepte, von Wissenschaft und Philosophie zugrunde liegen.) Aber vielleicht ist dieses verkehrte Verhältnis Pierre Bourdieus zur Wissenschaft und zur Philosophie gar nicht so eigentümlich, ja vielleicht ist es eben nicht nur sein Verhältnis, sondern das vieler Zeitgenossen – weswegen es sich lohnen würde, sich dieses Thema einmal genauer anzuschauen. Ich leiste eine kleine Vorarbeit dazu, wenn ich einmal festhalte, was mir bei der Wiederlektüre des Interviews „Was anfangen mit der Soziologie?“ in dem Band Die verborgenen Mechanismen der Macht aufgefallen ist:

Pierre Bourdieu: „Was anfangen mit der Soziologie?“ (Interview der Gewerkschaftszeitung CFDT mit Pierre Bourdieu) in: Die verborgenen Mechanismen der Macht. VSA-Verlag, Hamburg 1992. S. 127-148.

Erstens, Pierre Bourdieu führte einen leidenschaftlichen Kampf gegen das, was er den „gesunden Menschenverstand“ nannte. Was er genau darunter verstand, weiß ich nicht, aber er meinte wohl, die Aufgabe der Wissenschaft wäre es, die Überzeugungen dieses gesunden Menschenverstands zu hinterfragen und dahinter eine tiefere Wahrheit zu finden.

„Ja. Die Umfragen sind „eine Wissenschaft ohne Wissenschaftler“: Sie sind ein Instrument des Registrierens, das man für objektiv hält, weil es passiv ist, während die Wissenschaft immer damit beginnt, daß sie mit dem gesunden Menschenverstand, mit den Evidenzen etc. bricht. Doch die Meinungsforscher stellen Fragen des gesunden Menschenverstandes und verstehen es nicht, den tieferen Sinn der Antworten des gesunden Menschenverstandes, die sie enthalten, freizulegen. Sie erzeugen Artefakte, Sachen, die nicht existieren, die sie aus lauter Stücken herstellen.“ (S. 133)

Jetzt einmal ganz abgesehen davon, was Bourdieu da sicherlich ganz Richtiges über das Thema Meinungsumfragen gesagt hat, würde ich mich von meiner Wesensart her eher für den gesunden Menschenverstand aussprechen und mich gegen die Wissenschaft wenden. Warum? Weil Wissenschaft immer Heteronomie ist! Wissenschaft bedeutet ja nicht einfach nur wissenschaftlich zu arbeiten, sondern Wissenschaft bedeutet, dass Experten etwas erforschen, denen ich dann glauben muss. Pierre Bourdieu scheint das, obwohl er Soziologe war, nicht gesehen zu haben: Er scheint nicht gesehen zu haben, dass Wissenschaft nicht in erster Linie darin besteht, dass ein einzelner Wissenschaftler – also z.B. er selber – wissenschaftlich arbeitet, sondern dass Wissenschaft ein großer sozialer Zusammenhang ist, eine große gesellschaftliche Organisation. Wenn aber ich als einzelner Mensch eine Erkenntnis machen will, wenn ich auf das Recht bestehe, eigenständig, autonom Erkenntnisse zu machen, dann muss ich mich auf meinen gesunden Hausverstand berufen, weil ich mich nicht auf die Wissenschaft berufen kann. Ich kann das deshalb nicht, weil eine wissenschaftliche Wahrheit nicht zuerst ein Urteil ist, das wahr ist, sondern ein Urteil, das von der wissenschaftlichen Gemeinschaft (der scientific community), oder eben: von anderen Wissenschaflern, als wahr anerkannt wird. Der Vorwurf, dass der gesunde Hausverstand sich gewöhnlich selbst nicht hinterfragt, ist richtig, aber dann ist es eben kein sehr guter gesunder Hausverstand. Um aber überhaupt etwas hinterfragen zu können, muss ich mein eigenes Denken, als Individuum, für relevant halten können, d.h. ich muss darauf vertrauen können, dass mein Hausverstand, wenn ich ihn gut, analytisch, einsetze, am Schluss gewinnen kann – und nicht von einer anonymen sozialen Organisation wie der Wissenschaft wiederum unterminiert werden kann.

Hier noch zwei weitere Beispiele, die Bourdieus Entschlossenheit im Kampf gegen den gesunden Hausverstand belegen:

„Man muß in die dem gesunden Menschenverstand entgegengesetzte Richtung gehen, um alle Untersuchungen dieser Art durchzuführen und zur Kenntnis zu bringen.“ (S. 138)

„Die erste Handlung des Forschers ist, die Fragen des gesunden Menschenverstands und des Journalismus zu destruieren, sie völlig anders neu zu stellen.“ (S. 140)

Zweitens ist da Pierre Bourdieus Vision von der Wissenschaft oder eigentlich: seine Einschätzung ihrer sozialen Bedeutung, welche sich in folgendem Zitat ausdrückt:

„Ja, eines der Probleme liegt da. Es geht darum, der illegitimen, häretischen, heterodoxen Rede ein wenig Kraft zu verleihen. Die Wissenschaft ist per definitionem häretisch, paradox, im Bruch mit der Doxa, d.h. der allgemeinen Meinung und dem Glauben, die die üblichen Debatten in Gang setzen. Dieser häretischen Rede ein wenig soziale Kraft zu verleihen, das ist eine Aktion die ich für militant erachte.“ (S. 136)

Diese Aussage kann ich nur als die völlige Umkehrung aller realen Gegebenheiten auffassen: Was? – Die Wissenschaft soll eine häretische, eine paradoxe, also gegen die herrschende Lehre gerichtete, Rede in der Gesellschaft sein? Da hört sich doch jede Diskussion auf! Wie kann man danach noch weiter diskutieren? Das widerspricht einfach aller Erfahrung! Die Wissenschaft ist doch selbst diese herrschende Lehre, diese Doxa, das weiß jeder, der schon einmal mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit – jener großen Klappe, mit der man kleine Fliegen erschlägt – zum Schweigen gebracht worden ist. In so einer Situation (in so einer Diskussionssituation) macht man dann die Erfahrung, dass man als Einzelner der Wissenschaft als einem großen gesellschaftlichen Apparat gegenübersitzt: Auf der eigenen Seite hat man ein paar Fakten und die logische Argumentation, die man für sich sprechen lassen kann, während auf der anderen Seite die Autorität sitzt, die Autorität von wissenschaftlicher Anerkennung und Professorentitel (jene Identität der „gesellschaftlich anerkannte[n] Definition der legitimen Kompetenz“ (S. 128), die Bourdieu selber untersucht hat) – und die plötzlich viel mehr Gewicht hat als logische Argumentation und selbst als Fakten. Pierre Bourdieu tut ja hier in diesem Zitat so, als wären die Wissenschaftler in der Minderheit gegenüber der ihnen entgegengesetzten herrschenden Meinung – genau das Gegenteil ist der Fall, zumal noch in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit, in der sofort für jedes Problem ein wissenschaftlicher Experte gesucht wird, der das entscheidende Urteil aussprechen darf! Aber Bourdieu scheint mir da noch etwas viel Grundsätzlicheres nicht verstanden zu haben, nämlich dass er als Wissenschaftler einer sozialen Organisation angehörte, ganz ähnlich wie ein Priester der Kirche angehört und deshalb niemals allein ist, während alle jene, die im Namen ihres ganz persönlichen Hausverstands sprechen – und nicht im Namen der Wissenschaft – ganz allein sind, denn sie können ihre Meinung nur im eigenen Namen vorbringen! Pierre Bourdieu dagegen hatte eine Lobby, eine mächtige Lobby, es erschauern ja heute bereits alle Menschen im Vorhinein, wenn einer sich anschickt, im Namen der Wissenschaft zu sprechen, die Förderungstöpfe des Staates öffnen sich, wenn etwas nach Wissenschaft klingt, Bourdieu aber tat so, als wäre es das größte Wagnis, mit dieser mächtigen Lobby im Hintergrund auf Einzelne loszugehen, die in keines anderen Namen sprechen können, sondern nur in ihrem eigenen.

Drittens, gibt es da in diesem Interview zwei Stellen, in welchen Bourdieu auf Sokrates Bezug nimmt, und zwar in recht sonderbarer Weise, indem er nämlich die Person des Philosophen Sokrates für sich selber, scheint es, vereinnahmen wollte, um seine eigene Position im intellektuellen Feld und in der Gesellschaft überhaupt darzustellen; fast sieht es so aus, als hätte sich Pierre Bourdieu mit dem Philosophen Sokrates identifiziert, wobei er allerdings aus Sokrates einen Wissenschaftler machte, der, nach Bourdieus Vorbild, alles ganz genau untersucht:

„Die Leute, die die Debatte über diesen Gegenstand [über das Tragen des Schleiers an den französischen Schulen, in den 80er Jahren; Anm. H.H.] vom Zaun gebrochen haben, haben gemeinsam, daß sie nichts über die Probleme wissen, von denen sie reden, daß sie Probleme auf das Terrain der großen Prinzipien rücken, deren Wirklichkeit man nur unter der Bedingung erkennen kann, daß man sie von ganz nah betrachtet und registriert, bescheiden und methodisch beobachtet. All diese Medienphilosophen möchte ich daran erinnern, daß Sokrates auf die Straße ging und mit einem kleinen Sklaven diskutierte. Man weiß, wo heute die kleinen Sklaven sind, die man befragen, anhören, verstehen, interpretieren muß…“ (S. 135)

„Platon sagt irgendwo über Sokrates, daß er atopos ist, ohne Ort, ortlos, freischwebend, ohne Heim und Herd, ich hätte Lust hinzuzufügen: ohne Glauben und Gesetz (er ist wegen Gottlosigkeit verurteilt worden, das darf man nicht vergessen). Ich fühle mich auch oft genug freischwebend, ohne Verankerung, in einer instabilen Situation. Das ist nicht immer angenehm.“ (S. 146)

Das letzte Zitat ist wieder so eine Verkehrung aller realen Gegebenheiten, wenn Pierre Bourdieu, geborgen im Schoße der Wissenschaft, sich mit Sokrates als einer freischwebenden Figur identifiziert. Ich weiß nun schon, dass die Wissenschaft keine angenehme Organisation ist, jedenfalls für die, die sich noch nicht etabliert haben und sich nach oben durchkämpfen müssen, aber so, wie es hier steht, ist Bourdieus Aussage nicht akzeptabel, denn der Philosophierende ist im Gegensatz zum Wissenschaftler wirklich allein: Er kann sich auf keine höhere Instanz berufen, so wie der Wissenschaftler sich auf die Wissenschaft berufen kann, welche noch dazu in der Bevölkerung eine Akzeptanz hat, die an bedingungslose Folgsamkeit erinnert, sodass der Wissenschaftler also nichts mehr tun muss, um den Boden aufzubereiten, auf dem er seinen Diskurs vorbringen kann, weil alles schon vorbereitet ist, die entsprechenden Räume dafür hergerrichtet und die Zuhörer schon lauschen.

Schlussbetrachtung

Mit meiner Herangehensweise, so wie ich sie hier ausgebreitet habe, lässt sich nun nicht verstehen, was Pierre Bourdieu vielleicht meinte, zu entgegengesetzt ist sie seiner. Aber sie ermöglicht es vielleicht gerade erst durch die Kontraste und die Widersprüchlichkeiten, die sie aufzeigt, sich gehörig über Bourdieus Verhältnis zu Wissenschaft und Philosophie zu wundern – und über dasjenige anderer Zeitgenossen, die von Pierre Bourdieu gelernt haben. Wie kommt es eigentlich, dass ein Soziologe, der in Frankreich ja wirklich die wissenschaftliche Hierarchie bis ganz zu den höchsten Posten hinaufgestiegen ist, dem keine Anerkennung verwehrt geblieben ist und der die höchste Autorität genossen hat, sich „freischwebend“ und „ohne Verankerung“ fühlte, in einer unangenehmen Situation? Wie kommt es, dass ein Soziologe auf den „gesunden Hausverstand“ in den Meinungsumfragen losgeht, wenn alle Meinungsumfragen heute versuchen, sich wissenschaftlich zu geben? (Warum ging er nicht anstatt dessen auf ihre vorgebliche Wissenschaftlichkeit los und kritisierte sie durch eine wirkliche?) Wie kommt es schließlich, dass ein Soziologe, der über symbolische Autorität in der Gesellschaft doch wirklich gut Bescheid wusste, meinte, es hätte weniger gesellschaftliche Kraft, im Namen der Wissenschaft zu sprechen als ohne die Wissenschaft und nur im eigenen Namen etwas zu sagen? Hier liegen für mich unauflösbare Rätsel verborgen, die man wahrscheinlich nur beantworten kann, wenn man die Person Pierre Bourdieus selbst einer soziologischen Analyse unterzieht und seine Biographie ganz genau daraufhin untersucht, wie und unter welchen Umständen seine wesentlichen Überzeugungen sich formten und festigten.
Ich weiß nicht, wie es anderen damit geht, mich wundern halt alle diese Verkehrtheiten. Oder, um bei der Figur von Sokrates zu bleiben: Sokrates hat man auch deshalb verurteilt, weil er angeblich die schwächere Sache (durch seine Geschicklichkeit im Argumentieren) zur stärkeren gemacht haben soll, Pierre Bourdieu scheint mir hingegen die stärkere Sache (die Wissenschaft) für die schwächere ausgeben zu wollen.

 

20. 1. 2008

 

© helmut hofbauer 2008