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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Wolfgang Mozart als erfolgloser Arbeits-suchender und gescheitert-er Selbstständiger

Über ein musikalisches Genie in einer Zeit, die nur musikalische Handwerker brauchte

 

Norbert Elias: Mozart. Zur Soziologie eines Genies. Hg. von Michael Schröter. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, 187 Seiten.

Soeben habe ich Norbert Elias‘ Buch über Mozart wieder gelesen, und ich halte es für ein bemerkenswertes Buch. (Ich spreche in diesem Text von „Norbert Elias‘ Mozart-Buch“, weil es sich um seine Texte handelt, die in ihrem Stil unverkennbar sind; doch es handelt sich um ein Buch, das Elias nicht mehr selbst fertiggestellt hat, sondern das von seinem Mitarbeiter/Schüler Michael Schröter aus Originalmanuskripten kompiliert und herausgegeben worden ist.)

Bemerkenswert ist es, weil Norbert Elias Wolfgang Mozart darin als Menschen und Künstler im Zusammenhang mit der Gesellschaft seiner Zeit darstellt – und nicht als musikalisches Genie, das zum Leben weder den Menschen Mozart noch seine Mitmenschen brauchte.

Wie erscheint Mozart in Elias‘ Darstellung? Er erscheint als ein jahrelang erfolglos Arbeitsuchender und als gescheiterter Selbstständiger. Mit 35 Jahren war Mozart (1756-1791) fertig: Sein Leben erschien ihm sinnlos, er gab sich auf und starb.
Mit anderen Wort: Mozart erscheint in Elias‘ Darstellung als Totalversager auf dem Arbeitsmarkt.

„1. Wolfgang Amadeus Mozart starb 1791, im Alter von 35 Jahren, und wurde am 6. Dezember in einem Armengrab beigesetzt. Was immer die akute Krankheit war, die zu seinem frühen Sterben beitrug, Mozart war in der Zeit vor seinem Tode oft der Verzweiflung nah. Er fühlte sich langsam als ein vom Leben geschlagener Mann. Die Schulden häuften sich. Die Familie wechselte immer wieder das Quartier. Der Erfolg in Wien, an dem ihm vielleicht mehr lag als an irgendeinem anderen, blieb aus. Die Wiener gute Gesellschaft wandte sich von ihm ab. Der schnelle Verlauf seiner tödlichen Krankheit hing wohl nicht zuletzt damit zusammen, daß sein Leben für ihn an Wert verloren hatte. Er starb offenbar mit dem Gefühl des Scheiterns seiner sozialen Existenz, also – metaphorisch gesprochen – an der Sinnentleerung seines Lebens, dem totalen Verlust des Glaubens an die Möglichkeit, Erfüllung für das zu finden, was er sich in der Tiefe seines Herzens am meisten wünschte.“ (S. 9)

Nun kann man danach fragen, warum das so war, und hier weiß Elias einige Aspekte von Mozarts Gesellschaft anzugeben, die seinem Erfolg entgegenstanden:

  1. Musik wurde damals nicht der Wert zugemessen, wie das heute der Fall ist. Sie wurde zwar an den Fürstenhöfen als Mittel der Repräsentation benötigt, aber dafür brauchte man keine hervorragende Musik. Musik, die traditionell war und dem herrschenden Geschmack entsprach, eignete sich sogar besser dafür. Mozart konnte sich also nicht durch die Komposition von hervorragender Musik (also durch Leistung) durchsetzen.
  2. Viel eher wurde von Musikern verlangt, dass sie gegenüber ihren Dienstgebern, und überhaupt gegenüber allen Adligen, ein devotes Verhalten an den Tag legten. Zum Erfolg kam man also eher durch Kriechen und Dienstfertigkeit als durch Leistung. Mozart aber konnte das Kriechen nicht ausstehen. Hingegen war er sich seines Werts als Künstler bewusst, was damals von Nachteil war. Dadurch erschien er angesehenen Persönlichkeiten als Frechdachs, Querulant und Freigeist in einem Fach, in dem man sich nicht mehr als solide Handwerksarbeit wünschte.
  3. An all den Fürstenhöfen Europas, an denen Mozart eine Anstellung suchte, gab es bereits Musiker, die keine Freude damit hatten, dass ihnen ein weiterer Konkurrenz machte. Da Mozart sich ihnen gegenüber nicht durch die Qualität seiner Arbeit durchsetzen konnte und er es gewiss nicht vermochte, sie im Wettstreit in kriecherischem oder hoffärtigem Verhalten zu besiegen, hat Norbert Elias wahrscheinlich Recht mit seiner These, dass die Hoffnung der Mozarts, für Wolfgang eine Anstellung an einem größeren Fürstenhof, als jener des Erzbischofs von Salzburg es war, zu finden, eine unrealistische war. Höchstwahrscheinlich gab es ganz einfach keine solche Stelle für Wolfgang Mozart.
  4. Also versuchte sich Mozart in Wien als freier Musiker. Doch dem stand entgegen, dass der Musikmarkt zu der Zeit noch nicht entwickelt war. Es gab keine Musikrechte, aufgrund derer Mozart für eine jede Aufführung seiner Werke Tantiemen erhalten hätte. Das Konzertveranstaltungs- und das Notenpublikationsgeschäft steckten in den Kinderschuhen. Beethoven konnte 15 Jahre nach Mozart schon recht gut als freier Künstler leben, aber zur Zeit von Mozart waren die dafür notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen noch nicht gegeben.
  5. Mozarts berufliche Selbstständigkeit als freier Musiker funktionierte anfangs, doch danach ging es sehr bald immer schlechter. Er dürfte die Gesellschaft seiner Zeit falsch eingeschätzt haben. Die Musikkonsumenten waren damals fast ausschließlich Adlige, und diese waren ein untätiges und in ihren Vorlieben und Sympathien sehr liederliches Volk, das sich für eine neue Sensation jeweils nur sehr kurze Zeit begeistern konnte. Man sagte Mozart auch, dass der Ruhm in Wien nur kurze Zeit dauere. Moderner gesagt, Kundenbindungsprogramme mussten aufgrund der damaligen Gesellschaftsstruktur fehlschlagen.

„Beethoven wurde 1770 geboren, fast 15 Jahre später als Mozart. Ihm gelang es zwar nicht spielend, aber mit viel geringerer Mühe, was Mozart vergeblich anstrebte: die weitgehende Befreiung von der Angewiesenheit auf höfisch-aristokratische Patronage, so daß es ihm möglich wurde, in seinen Kompositionen mehr seiner eigenen Stimme – oder genauer, der immanenten Folgerichtigkeit der Stimmen – als dem konventionellen Geschmack seiner Abnehmer zu folgen. Beethoven hatte bereits eine erheblich größere Chance, dem musikalischen Publikum seinen Geschmack aufzuoktroyieren. Er konnte sich, im Gegensatz zu Mozart, dem sozialen Zwang entziehen, als Untergeordneter und Bediensteter Musik produzieren zu müssen für einen sozial viel mächtigeren Dienstherren oder Auftraggeber, und statt dessen, wenn nicht ausschließlich, so doch in weit höherem Maße als freier Künstler (wie wir es heute nennen) Musik auch für ein relativ unbekanntes Publikum schaffen.“ (S. 56)

Norbert Elias‘ Darstellung von Mozarts Schicksal ist vor allem deshalb sehr wertvoll, weil man ja heute meint, alles, was gut sei, habe Erfolg, müsse Erfolg haben, und alles, was Erfolg habe, müsse notwendigerweise gut sein. Mozarts Lebenslauf zeigt, dass das absolut nicht der Fall sein muss.

Diese allgemein verbreitete Meinung über den Erfolg gründet wiederum auf einer anderen, noch tiefer liegenden Anschauung, die „wissenschaftlich“ genannt werden kann, weil sie zu Differenzierung und Abstraktion tendiert. So trennt sie etwa den Menschen vom Künstler und das Werk des Künstlers von dessen gesellschaftlichen Herstellungsbedingungen. In der Folge meint man etwa, als musikalisches Genie hätte Mozart seine Werke komponieren müssen, gleich welchen sozialen Bedingungen auch immer er ausgesetzt gewesen wäre. Elias bekämpft in seinem Buch eine solche unkonkrete Anschauungsweise vehement. Mir erscheint es in diesem Zusammenhang als interessant, dass Abstraktion sehr leicht zu Geniekult führt; Geniekult könnte also umgekehrt auch ein Symptom für das Vorherrschen von abstrakten Betrachtungsweisen der Wirklichkeit sein.

Noch ein wichtiges Wort zur Wissenschaft: Norbert Elias hielt sich für einen Soziologen, mithin also für einen Wissenschaftler. Ich bezweifle es sehr, dass er letzten Endes einer war. Den Grund dafür sehe ich in Elias‘ Bestreben, mithilfe von Soziologie den Menschen „das Unverständliche unseres gesellschaftlichen Lebens“ besser verständlich zu machen. Ich zweifle daran, dass Wissenschaft ihre Aufgabe darin sieht, gewöhnlichen Menschen irgendetwas zu erklären und verständlich zu machen. Um Menschen zu helfen, etwas besser zu verstehen, müsste die Wissenschaft die Fragen dieser Menschen über den Forschungsgegenstand beantworten. Aber diese Fragen sind subjektive Fragen, weil es sich um die Fragen einzelner Menschen handelt, und sie sind weder methodologisch gerechtfertigt noch von allgemeinem Interesse.

Mich hat man während meines Studiums an der Universität immer wieder mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zurückgepfiffen, sobald ich versuchte, meine eigenen Fragen an einen Untersuchungsgegenstand zu stellen. Dergestalt, dass ich am Ende den Schluss zog: Unwissenschaftlich ist es, wenn ein Mensch diejenigen Fragen bezüglich einer Sache äußert, die ihn selbst interessieren, und solche Antworten auf seine Fragen erhält, die ihm persönlich weiterhelfen und ihm irgendetwas erhellen, das er bislang nicht verstanden hatte.
Die Gestalt der wissenschaftlichen Texte vieler heutiger Geistes- und Kulturwissenschaftler unterstützen mich in dieser Überzeugung. Sie unterscheiden sich sehr von der Prosa von Norbert Elias, in welcher immer ein starkes Bestreben spürbar ist, seinen Leserinnen und Lesern etwas über die soziale Wirklichkeit zu erklären.

Versucht man, sich selbst oder anderen Menschen etwas zu erklären und verständlich zu machen, so bezeichne ich das als Philosophie. Auch Norbert Elias‘ Mozart-Buch rechne ich daher – ebenso wie seine übrigen Werke – der Philosophie zu.

Tatsächlich ist seine Praxis der Soziologie so eigentümlich, sodass ich sogar daran zweifle, dass es sich dabei um Soziologie handelt. So reduziert Norbert Elias z.B. nicht die Person von Mozart auf gesellschaftliche Strömungen und Kräfteverhältnisse. Doch löst er die Person Mozarts nicht nur nicht im Sozialen auf, sondern er macht sie umgekehrt sogar wieder ganz, indem er den Künstler Mozart zusammen mit dem Menschen sieht und diesen obendrein nicht unabhängig von seiner sozialen Umwelt betrachtet.

Und als ob das alles noch nicht viel wäre, bezieht Elias zudem noch die Sphäre des Psychischen, des Seelenlebens, in seine Untersuchung mit ein. Er stellt die Frage nach der Rolle der Sublimierung in Mozarts Kunstschaffen und erwägt, welche Handlungen und Entwicklungen in seinem Leben Mozart als sinnvoll oder als sinnentleerend erschienen sind.
Mit anderen Worten, hier handelt es sich um eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die Soziologen aufgrund ihrer methodologischen Selbstbeschränkung sicherlich nicht als soziologische Untersuchungsweise akzeptieren können.

„Gewöhnlich wird Soziologie als eine destruierende, reduzierende Wissenschaft aufgefaßt. Ich teile diese Auffassung nicht. Für mich ist Soziologie eine Wissenschaft, die uns helfen soll, das Unverständliche unseres gesellschaftlichen Lebens besser zu verstehen, es zu erklären. In diesem Sinne habe ich den scheinbar paradoxen Titel „Zur Soziologie eines Genies“ gewählt. Mein Ziel ist also nicht, das Genie zu destruieren oder zu reduzieren, sondern seine menschliche Situation verständlicher zu machen und vielleicht auch ein wenig zur Klärung der Frage beizutragen, was zu tun wäre, um ein Schicksal wie das von Mozart zu verhindern. Indem man seine Tragödie so darstellt, wie ich es versuche – und das ist nur ein Beispiel für ein allgemeineres Problem -, kann man vielleicht das Bewußtsein der Menschen etwas verstärken, daß sie Neuerern gegenüber vorsichtig sein sollen.“ (S. 22-23, Fußnote)

Norbert Elias‘ Mozart-Buch kann außerdem dazu dienen, um Vergleiche mit der heutigen Zeit anzustellen. Im Grunde hatte Mozart die Wahl zwischen zwei Optionen, die sich jedem Einkommenslosen auch heute in der Form anbieten: entweder in einer Institution Fuß zu fassen oder sich auf dem freien Markt durchzusetzen. Das heißt, eigentlich hatte er diese Wahl nicht, denn er versuchte ja beides hintereinander und scheiterte jedes Mal (aber das stellte sich erst mit der Zeit heraus).

Mehr Alternativen als diese beiden scheint es grundsätzlich nicht zu geben. Sie bilden zwei sehr grundlegende Formen menschlicher Gesellschaftsorganisation.
Sich in einer Institution durchzusetzen bedeutet, dass man Mitglied einer Gemeinschaft wird, die ihre eigenen Regeln und Standards besitzt, und dass man vom Urteil einzelner „Peers“ abhängig ist, die als Türhüter fungieren.

Sich auf dem freien Markt durchzusetzen bedeutet, dass man auf einem im Vergleich zur Institution relativ regellosen, anonymen Markt eine ausreichende Anzahl von Abnehmern für die eigenen Hervorbringungen findet. Deren Zahl muss zumindest so groß sein, dass man mit ihren Zahlungen seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.
Entscheidet man sich für den Weg innerhalb einer Institution, so ist die Bedingung dafür zumeist die, dass man starke Anpassungsleistungen an die Standards der jeweiligen Institution erbringt. Die Konsequenz der von der Institution geforderten Anpassungen ist gewöhnlich die, dass das Innovative und Individuelle der eigenen Hervorbringungen verblasst.

Entscheidet man sich hingegen für den Weg über den Markt, so steht man unter dem dauernden Druck, Seichteres und Gefälligeres hervorzubringen, um eine größere Anzahl von Menschen in unmittelbarer Nähe damit anzusprechen. Das Resultat ist dasselbe wie im ersten Fall: Die Werke verlieren ihre charakteristische Eigenart in dem Maße, in dem sie versuchen, möglichst vielen Menschen zu gefallen.

Aus diesem Dilemma gibt es im Grund nur einen Ausweg, den Elias in seinem Mozart-Buch ebenfalls erwähnt: Der Künstler/die Künstlerin müsste von seinem Publikum aufgrund seines Spezialistenwissens einen Expertenstatus zugeschrieben bekommen. Nur in dem Fall wird das Publikum dazu bereit sein, vom Künstler auch Hervorbringungen entgegenzunehmen, die ihm nicht so gut gefallen, und zwar wird es das deshalb tun, weil sich das Publikum seines eigenen Geschmacks unsicher ist und dem Künstler als Experten vertraut, schon zu wissen, was gut ist. Nur in dieser gesellschaftlichen Machtkonstellation hat der Künstler/die Künstlerin etwas mehr kreative Freiheit.

Diese gesellschaftliche Machtkonstellation ist jedoch von prekärer Natur. Sie hängt einerseits davon ab, dass ein künstlerisches oder intellektuelles Feld nicht zu sehr geordnet und organisiert ist. Ist das nämlich der Fall, so hätte sich das entsprechende Feld bereits in eine Institution verwandelt.

Ist das entsprechende Feld (der Musik, der Literatur, der Philosophie, der Sozialkritik oder sonst noch ein anderes) hingegen zu unstrukturiert, so funktioniert die Strategie des Strebens nach einem Expertenstatus als Künstler oder kreativer Kopf ebenfalls nicht. Es gibt in dem Fall nämlich noch nicht genug Menschen, die die gleiche Orientierung teilen. Es ist aber eine ausreichende Anzahl von MusikkonsumentInnen (beispielsweise) nötig, die einen Musiker als „großen Künstler“ schätzen wollen, damit dieser seine Rolle als „großer Künstler“ spielen kann. Im Grunde war ja genau das Mozarts Problem: Man schätzte Musik zu seiner Zeit nicht genug, um einen Komponisten dafür zu bewundern und anzuhimmeln.

Das bedeutet, die Situation, in welcher eine künstlerische oder intellektuelle Hervorbringung wertgeschätzt wird und ihr Hervorbringer Anerkennung erfährt, setzt bereits eine erste Stufe sozialer Integration voraus. Viele Menschen müssen unabhängig voneinander, aber parallel zueinander, die Idee haben, dass man so etwas wie einen großen Künstler, Musiker, Philosophen, Intellektuellen etc. schätzen will. Ist das nämlich nicht der Fall, so wird der Hervorbringer für seine Hervorbringungen auf dem Markt keinen entsprechenden Preis erzielen können, von dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.

Hierbei handelt es sich um das Problem der Wertbildung auf dem Markt. Ich weiß nicht, ob es dafür in der Ökonomie gute Theorien gibt. Herkömmlich meint man ja, dass die Preise der Produkte am Markt durch die Bedürfnisse der Kunden/Kundinnen bestimmt werden. Die Erfahrung weist jedoch eher darauf hin, dass den Menschen oft gesagt werden muss, welchen Wert einzelne Waren besitzen, oder dass sich dieses Wertbewusstsein in einem sozialen Prozess erst herausbilden muss. So lässt sich beispielsweise, wie die jüngere Geschichte zeigt, der Wert eines süßen Getränks auf dem Markt durch eine große Marketingoffensive etablieren.

Beeindruckend an dieser gesellschaftlichen Machtkonstellation, die dem Künstler einen relativ großen kreativen Freiraum eröffnet, ist, dass sie sich ihrem Wesen nach einer Marktintransparenz verdankt. Denn sobald versucht wird, den Markt zu organisieren und gemeinsame Kriterien zu etablieren, nach denen die Qualität der Hervorbringungen beurteilt wird, verfestigt sich der Markt zur Institution mit all ihren Eigenschaften der Unausweichlichkeit und ihrer erstickenden Wirkung auf Innovation.

Für das schöpferische Individuum ist es also nicht unbedingt gut, dass die Gesellschaft „besser“ wird, d.h. dass es mehr Ordnung gibt und dass alle Transaktionen transparenter ablaufen. Die Abschaffung des „Dschungels“ in der Gesellschaft geht einher mit dem Verlust kreativen Freiraums für das Individuum.

Gegeben die Existenz eines Marktes, gehört es zu den wesentlichen Voraussetzungen kulturell Schaffender, um erfolgreich zu sein, dass man es schafft, das Publikum dazu zu bringen, diejenigen Kriterien auf die eigenen Werke anzuwenden, die man selbst auf sie angewandt sehen möchte.

Und hierzu ist es nötig, dass man sich gut verkauft. Wie man hört und wie es auch Norbert Elias erwähnt, war Mozart weder gutaussehend noch attraktiv. Wäre er es gewesen, hätte das wahrscheinlich geholfen. Erschwerend kam in seinem Fall hinzu, dass die Struktur seiner Motivation darin bestand, dass er aus Salzburg wegwollte, um sich nicht kriecherisch verhalten zu müssen und um künstlerisch freier zu sein. Daraus folgt, dass ein jedes Zugeständnis an den Publikumsgeschmack Mozarts Freiheit, wie er sie sich vorstellte, in Frage gestellt haben würde. Schließlich war seine künstlerische Freiheit für ihn, da der materielle Erfolg großteils ausblieb, die einzige reale Rekompensation für sein unternehmerisches Risiko und sein hohes Arbeitspensum.

Was ich damit sagen will, ist, dass das gesamte Projekt des Sich-gut-Verkaufens eine negative Dynamik gewinnt, sobald es die Aufgabe miterfüllen muss, etwas zu kompensieren (z.B. die körperliche Unansehnlichkeit) oder wenn sie die Konsequenz einer Flucht ist (hier: die Wendung zum freien Künstlertum, um dem Dienst im Erzbistum von Salzburg zu entkommen).

Gewiss wäre es für Mozart besser gewesen, er wäre bedürfnislos gewesen und vor Glück geradezu übergeflossen. Norbert Elias streicht in seinem Mozart-Buch Mozarts großes Liebesbedürfnis hervor, das sich zuerst auf seinen Vater richtete und später auf seine Frau und auf das Wiener Konzertpublikum.

Mozart war also unschön, unglücklich und liebesbedürftig, wobei ihn seine Liebesbedürftigkeit verletzlich machte. Diese Eigenschaften sind allesamt keine guten Voraussetzungen für Erfolg auf dem freien Markt.

Alle Bedürfnisse und Wünsche dieser Art wirken auf dem freien Markt wie Schulden, die zuerst einmal abgezahlt werden müssen, bevor man sich daranmachen kann, irgendwann einmal vielleicht einen Gewinn zu erwirtschaften. Auf den Markt müsste man kommen wie jemand, der überfließt vor Kraft und Zufriedenheit, sodass es unmöglich erscheint, dass dieser Mensch durch die Ablehnung des Publikums eine seelische Verletzung erfährt.

Mit einem Wort, die Autarkie des menschlichen Individuums scheint die Grundvoraussetzung für dessen Integration in die Marktgesellschaft zu sein, während ihn Bedürftigkeit, die sich an andere Menschen wendet, zu Erfolglosigkeit und Vereinsamung verdammt.

Diese Einsicht ist paradox, würde man doch an sich glauben, dass es die menschlichen Bedürfnisse sind, und hier vor allem die sozialen Bedürfnisse, also jene nach Liebe und Anerkennung durch andere Menschen, welche die menschliche Gemeinschaft zusammenhalten. Im Zusammenhang mit dem Problem des Sich-gut-Verkaufens auf dem freien Markt zeigt sich jedoch, dass dies erfolgreicher durchgeführt werden kann von Menschen, die materiell und emotional unabhängig sind von den anderen. Die Vorbedingung für die Integration in die Gesellschaft ist also die, dass man ein Mensch ist, er die Gesellschaft nicht braucht.

Doch das sind bereits weiterführende Gedanken, die ihre Inspiration den zahlreichen Anregungen durch Elias‘ konkrete und ganzheitliche Darstellung von Wolfgang Mozart im Kontext der Gesellschaft seiner Zeit verdanken.

Norbert Elias hat in seinem Mozart-Buch Wolfgang Mozart so dargestellt, wie er wirklich war, also nicht als einen großen Künstler und als musikalisches Genie, sondern als einen erfolglos Arbeitssuchenden und als gescheiterten Selbstständigen; als jemanden, für den die Gesellschaft seiner Zeit keinen Platz hatte, weil er nicht anpassungswillig genug war und als Querulant erschien; als jemanden, der körperliche, seelische und soziale Bedürfnisse hatte, die er sich aufgrund seiner sozialen Stellung gar nicht leisten konnte; und als jemanden, der sein Leben mit so viel Erfolg bestritten hat, dass er mit 35 Jahren tot und begraben war.

Das war Mozart. Mehr war er nicht. Heutige Frührentner, solche, die nie in ihrem Leben etwas geleistet haben und täglich beim Wirt im Gasthaus sitzen, können sich hoch über Mozart stellen, denn sie haben ihn bei weitem überlebt.

Ja, und dass Mozart der Menschheit „unsterbliche“ Werke hinterlassen hat, das zählt in diesem Kontext eigentlich nicht, denn das ist eine andere Geschichte; eine Geschichte, die erst nach Mozarts Ableben begann und die zum Inhalt hatte, wie man ihn aus der Perspektive der Nachwelt, retrospektiv, sehen wollte.

Postskriptum: über das Geniebedürfnis unserer Zeit

Da ich Philosophieren so ähnlich sehe wie das Verfassen von Kurzgeschichten oder Romanen, wird man verstehen, dass ich Lust habe, an dieser Stelle noch einen Kontrapunkt hineinzukomponieren. Es ist nämlich der Fall, dass mir der Name Mozarts erst unlängst einmal wieder begegnete, und zwar in seiner Geniebedeutung. Wobei der Hintergrund der Geschichte ein Beispielfall dafür war, dass wir heutzutage geradezu ein Bedürfnis nach Genies zu haben scheinen, und das in Gebieten, wo es mit ehrlicher, sauberer Handwerksarbeit, das sollte man zumindest meinen, besser getan wäre.

Wolfgang Mozart war ein musikalisches Genie in einer Gesellschaft, die keine musikalischen Genies brauchte; wir hingegen leben in einer Zeit, in der wir es an und für sich den Genies aller Arten durch eine Überzahl von Regeln und Formalvorschriften schwer machen – aber sollte einmal ein Mensch diese Hürden überwinden, dann erregen die spektakulärsten Leistungen von ihm keinen Verdacht, denn dann man meint: Dieser Mensch sei ein Genie, und Genies müsse man anerkennen.

Am 11. Juni 2014 hörte ich in der Medizinischen Universität Wien den Vortrag „Grauzonen, Slippery Slopes und Grenzübertretungen: Zu den Produktionsbedingungen von Publikationen“ von Prof. Ulrike Felt.

Ulrike Felt erzählte in ihrem Vortrag die Geschichte von Jan Hendrik Schön, der von der Universität Konstanz in die USA, zu den Bell Labs, kam und dort 1998-2001 die erstaunlichsten wissenschaftlichen Durchbrüche in den Materialwissenschaften erzielte.

In dieser kurzen Zeit schrieb Schön 90 wissenschaftliche Artikel, davon 20 in Topzeitschriften wie „Science“ und „Nature“. Diese Artikel veröffentlichte er nicht allein, sondern die Namen von insgesamt an die 20 international anerkannten Koautoren zierten sie. Gegen Ende schrieb Schön ungefähr alle 8 Tag ein Paper, also einen neuen Aufsatz. Schön erhielt mehrere renommierte Wissenschaftspreise.

Andere Forscher konnten Schöns wissenschaftliche Ergebnisse nicht reproduzieren. Doch das allein reichte nicht aus, um ihn aufzudecken. Immerhin profitierte die gesamte wissenschaftliche Branche von ihm durch mehr Beachtung in der Öffentlichkeit und mehr Fördergelder.

Eine Kurve, die zu perfekt war, ließ Jan Hendrik Schön auffliegen: Er hatte bei einer Supraleiterstudie das Hintergrundrauschen vergessen.

2002 setzte Bell Labs eine Kommission ein. 24 Papers mit 20 Koautoren wurden überprüft. Schön konnte keine Rohdaten und kein Laborheft vorweisen. Kein Koautor hatte je Rohdaten von Schön gezeigt bekommen; dennoch wurden alle Koautoren für unschuldig erklärt.

An der Universität Konstanz hat man Schöns Dissertation überprüft. Man fand, sie habe handwerkliche Fehler, sei aber für eine Dissertation „im grünen Bereich“. (Damit ist offenbar jener „grüne Bereich“ betrifft, was Fälschungen und Plagiate in der Wissenschaft betrifft.)

Später erkennt die Universität Konstanz trotzdem Schön seinen Doktortitel ab, und zwar nicht wegen seiner Dissertation, sondern weil er mit seinem Verhalten in den USA der Wissenschaft geschadet habe.

Ulrike Felt formulierte am Ende ihres Vortrags 6 Thesen:

  1. Dass wir in der Wissenschaft alles messen und zählen (Stichwort: Impactpunkte) sei ein Nährboden für Betrugsfälle;
  2. das wissenschaftliche Publikationssystem baue auf Massenproduktion auf – Prozesse des Aufbaus von Glaubwürdigkeit würden dadurch strapaziert;
  3. quantitative Beurteilungen ersetzen heute komplexere Qualitätsbegriffe für wissenschaftliche Arbeiten;
  4. „big data“, technisch aufwändig produzierte Daten, werden zu einer neuen Herausforderung;
  5. ein weiteres Problem bringt die Tatsache mit sich, dass Wissenschaft heute zu einem zentralen Player in der Gestaltung von Gesellschaft geworden ist – es geht oft um die Frage: Wer kann die besseren Versprechungen für die Zukunft machen?
  6. Institutionen bevorzugen es zu schweigen oder sich auf Formalismen rauszureden, statt die Dinge aktiv anzusprechen.
    In der Diskussion wollte ich wissen, warum die Wissenschaft es nicht schafft, mit einem Menschen wie Jan Hendrik Schön, der doch offenbar hochintelligent ist, umzugehen. Unter direkter Beaufsichtigung hätte Schön, so meine Annahme, doch wohl hervorragende wissenschaftliche Ergebnisse generiert.

Zu meinem Erstaunen lernte ich, dass das Wissenschaftssystem, bei dem doch angeblich immer das Nachprüfen im Vordergrund steht, sehr stark auf dem Vertrauensgrundsatz aufbaut. Das ganze System beruhe darauf, so Ulrike Felt, dass man die Personen nicht persönlich kenne, auf deren Wissen man sich verlasse.

In einem Gespräch auf einer Konferenz oder sonstwo, das habe ich vergessen, sagte jemand zu Felt, Schön sei als ein Genie erschienen, wie Mozart, solche Menschen dürfe man nicht hinterfragen. Das muss wohl in einem Gespräch gewesen sein, in dem Ulrike Felt zu eruieren versuchte, warum man bei Schön trotz seines erstaunlich hohen publikatorischen Outputs nicht misstrauisch wurde.

Dabei war ich an den Film „A beautiful mind“ über den amerikanischen Mathematiker John Forbes Nash erinnert, in welchem dieser am Ende durch ein merkwürdiges Ritual, dass im Ablegen von Füllfedern vor der zu ehrenden Person bestand, als von seinen akademischen Kollegen als Genie anerkannt wurde. Und ich dachte: Offenbar besteht heutzutage tatsächlich ein Bedürfnis nach Genies!

Merkwürdig ist nur, woher dieses Bedürfnis kommt: In der Wissenschaft ist an und für sich kein Platz für Genies. Schließlich ist Wissenschaft keine esoterische Lehre, sondern soll für andere Wissenschaftler verständlich sein. Außerdem besteht sie in der Hauptsache in der kleinlichen Arbeit des Datensammelns und -auswertens und gewährt eher selten Raum für größere theoretische Würfe.

Nichtsdestotrotz scheinen wir heute in unserer rationalistischen Kultur ein manifestes Bedürfnis nach Genies zu haben, während zu Mozarts Zeit, in welcher genialen Menschen verhältnismäßig mehr Freiraum zur Entfaltung zur Verfügung stand, ein solches Bedürfnis offenbar fehlte.

Mir ist nicht ganz klar, woher dieses heutige Bedürfnis nach dem genialen Wissenschaftler kommt. Ist es ein Überbleibsel der Vorstellung vom genialen Künstler aus dem 19. Jahrhundert, oder stammt es aus den Superheldencomics des 20. Jahrhunderts, in welchen geniale Wissenschaftler sich in verschiedene Superhelden oder Superschurken verwandelten?

Wie auch immer, jedenfalls bleibt in meiner Betrachtung die Kluft bestehen zwischen dem Genie, das existiert, aber das man nicht anerkennen will (Mozart) und dem Genie, das man anerkennen will, das aber am Ende gar nicht wirklich existiert (Schön): Man braucht sich wohl nicht zu bemühen, ein Genie zu sein in einer Gesellschaft, die keine Genies akzeptieren will. In einer Gesellschaft, die ein Bedürfnis nach Genies verspürt, erscheint man hingegen mit einfacher ehrlicher Arbeit zumindest als „unsexy“. Hierdurch geschieht es, dass grundsätzlich anerkennenswerte Leistungen durch das Geniebedürfnis einer Gesellschaft eine Entwertung erfahren.

Der schwerste Schritt beim Philosophieren ist immer der letzte. Es geht darum, wenn man sich bis an die Grenze zum eigenen Nichtwissen herangedacht hat, noch einen weiteren Schritt ins Unbekannte hinauszutun, um auf diese Weise vielleicht – wenn er gelingt – ein bisschen gescheiter zu werden. Die Frage, vor der ich jetzt stehe, lautet also: Woher kommt das Bedürfnis nach Genies in der gegenwärtigen Wissenschaftskultur?

An dieser Stelle ist zuerst festzustellen, dass ein Wissenschaftler den Karriereweg innerhalb einer Institution nimmt – ebenso wie ihn Mozart nehmen wollte, als er nach einer Anstellung als Musiker an einem europäischen Fürstenhof suchte. Ein solcher Karriereweg ist dadurch geprägt, dass es nicht genügt, viele relativ unwichtige und untereinander unkoordinierte KonsumentInnen für die eigene Leistung zu begeistern, sondern wenige wichtige Persönlichkeiten, die an zentralen Schaltstellen der Macht der jeweiligen „Branche“ sitzen, als Unterstützer und Türöffner zu gewinnen.

Wo aber liegt nun der Unterschied zwischen Wolfgang Mozarts und Jan Hendrik Schöns Situation? Nun, der Unterschied liegt darin, dass Mozart, hätte er die von ihm angestrebte Position an einem europäischen Fürstenhof erhalten, eine berufliche Position erlangt hätte, in welcher gewöhnliche und gewohnte Leistungen eines Musikers für ein entsprechendes regelmäßiges Honorar von ihm erwartet worden wären. Das bedeutet, für Mozarts künstlerische Hervorbringungen waren keine außergewöhnlichen Preise vorgesehen.

Jan Hendrik Schön hingegen „gewann“ schon allein dadurch einen ersten „Hauptpreis“, dass er die Möglichkeit erhielt, von der Universität Konstanz an die renommierten Bell Labs zu wechseln. Und das trug sich einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2002 zufolge so zu:

„Schön bekam dafür [nämlich für seine Doktorarbeit, Anm. Hofb.] ein "magna cum laude", eine Eins - aber keine Eins mit Auszeichnung. Nur durch einen Zufall erhielt er dennoch die Chance seines Lebens: Ein Forscherfreund Buchers, der an den Bell-Laboratorien arbeitende Festkörperphysiker Bertram Batlogg, suchte für neue Experimente einen Mitarbeiter. Bucher: "Schön war der Einzige, der zu diesem Zeitpunkt gerade fertig war, und so habe ich ihn den Bell Labs vorgeschlagen."
Gegenüber den Bell Labs klang das aber wohl ein wenig anders. "Bucher hat uns erzählt, Schön sei sein bester Student überhaupt gewesen, die Nummer eins", behauptet Forschungsmanagerin Cherry Murray.“
(Marco Evers, Gerald Traufetter: „Ikarus der Physik“, in: Der Spiegel 41/2002, 7. 10. 2002, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-25396545.html)

Der Titel des Artikels, „Ikarus der Physik“, weist schon darauf hin: Da gab es die Möglichkeit, hoch aufzusteigen. Wodurch gab es diese Möglichkeit? Nun, erstens dadurch, dass es heute verschiedene Organisationen innerhalb der Institution der Wissenschaft gibt, die unterschiedlich hohes Ansehen genießen. Die Bell Labs in den USA genießen offenbar ein höheres Ansehen als die Universität Konstanz. Man kann also allein schon dadurch gewinnen, indem man von einer Organisation zur anderen wechselt. Hätte Mozart seine Anstellung an einem europäischen Fürstenhof erhalten, so wäre diese für ihn eine Lebensstellung gewesen, denn es gab damals keinen Bedarf für einen Wechsel von talentierteren Musikern zu größeren und bedeutenderen Fürstenhöfen. Immerhin war die Arbeit eines Musikers ja auch ihrem beruflichen Rang nach nicht grundsätzlich wichtiger als die eines Zuckerbäckers.

Wodurch nun hat sich die Wissenschaft zu einem Gebiet entwickelt, in dem es heute „etwas zu gewinnen“ gibt? Nun, ein Grund dafür ist sicher einmal die Existenz von Preisen, mit dem Nobelpreis als ihrem höchsten. Schön hat auch einige von ihnen gewonnen (den Braunschweig Preis etwa und den Otto-Klung-Weberbank-Preis), und Schöns Mentor Bertram Batlogg sah sich dem zitierten Spiegel-Artikel zufolge, gemeinsam mit Schön „auf dem Weg zum Nobelpreis“. Das bedeutet, es gibt eine Möglichkeit, durch die ein Wissenschaftler/eine Wissenschaftlerin aus der Enge der Institution, in der er/sie arbeitet, herausgehoben wird. Das Vorankommen in Institutionen ist durch Enge gekennzeichnet: Es gibt immer einige wenige Personen, die als Peers oder Türhüter fungieren und an denen man vorbeikommen muss, um den nächsten Karriereschritt zu nehmen. Aber wenn man natürlich einen wichtigen Wissenschaftspreis gewinnt (oder gar den Nobelpreis), dann hat man ein bei weitem bedeutenderes Zeugnis errungen, als es das Urteil der lokalen Peers darstellt. Man hat sie gleichsam übersprungen oder rechts überholt.

Das wäre so gewesen, als hätte der Gefallen, den der kleine Mozart bei der österreichischen Kaiserin gefunden hat, ihn als Musiker hoch über alle anderen Musiker gehoben und ihn beruflich gewissermaßen auf eine andere Qualifikationsebene gehoben hätte. Das war aber nicht der Fall. Mozart hat hochgestellten Persönlichkeiten eine Zeitlang gefallen, und dann haben sie ihn wieder vergessen.

Jan Hendrik Schön hingegen war aufgrund seiner wissenschaftlichen Erfolge bereits als junger Wissenschaftler als Direktor eines Forschungsinstituts der Max-Planck-Gesellschaft im Gespräch. Wie ist es möglich, dass man heute jungen Menschen so große Chancen geben will? Ich denke, das wäre nicht denkbar, wenn es in der Physik nur darum ginge, Physik zu betreiben, so wie es zu Mozarts Zeit in der Musik nur darum ging, Musik zu machen und nichts weiter. Das ist nur dadurch möglich, dass wissenschaftliche Erfindungen hohe Gewinne infolge ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung versprechen. Also haben wir es schon wieder mit dem Versprechen von hohen Gewinnen zu tun. Was hat Schön denn beforscht: Supraleiter, Transistortechnik etc. Er befasste sich mit der Physik von Materialeigenschaften, die die Aussicht boten, technische Revolutionen zu ermöglichen.

Worauf ich mit diesen Überlegungen hinauswill, ist: Wir haben es heute oft nicht mehr mit reinen innerinstitutionellen Karrieren zu tun, die reinen Karrieren auf dem freien Markt gegenüberstehen, sondern merkwürdigen Mischformen zwischen Institution und Markt. Die Institution Wissenschaft ist über eine strukturelle Kopplung verbunden mit Wirtschaft und Markt, wobei die Wirtschaft zugleich als Fördererin und Verlockerin der Wissenschaft fungiert. Die Wirtschaft investiert Gelder in Forschung und Entwicklung, lockt aber auch mit immensen Gewinnen, wenn einer Produktinnovation Markterfolg beschieden ist. Als Dritte im Bunde spielt die Politik die Rolle als Förderin der Wirtschaft über den Weg der Förderung der Wissenschaft: Um Arbeitsplätze zu schaffen/zu sichern, müsse, so meint man heute allgemein, in Bildung, Forschung und Entwicklung investiert werden.

Der hinter den Mauern der Akademia funkelnde Markt lässt Verhaltensweisen wie großspurige Versprechungen, Aufschneidereien und das sich Verkaufen bedeutsam werden: Er lockt nicht nur mit exorbitanten Gewinnen, sondern besteht auch aus Menschen, welche nicht in der Lage sind, die neuesten wissenschaftlichen Arbeiten in ihrem Wert und ihrer technisch-wirtschaftlichen Umsetzbarkeit einzuschätzen.

Somit erweist sich, dass es Gewinnversprechen sind, welche in einer historischen Epoche die Möglichkeit der Existenz von Genies schaffen. Fehlen die exorbitanten Gewinnversprechen und schätzt man die Arbeit eines Musikers als vergleichbar ein mit der eines Schneiders, Zuckerbäckers oder Juweliers, dann gibt es keinen genialen Musiker in der entsprechenden Gesellschaft. Ist die Gesellschaft hingegen bereit, einzelne Musiker zu feiern und ihnen einen fast gottgleichen Status zuzugestehen, dann sind musikalische Genies wie Mozart (aus der Sicht der Nachwelt) oder Beethoven (aus der Sicht seiner Zeitgenossen) möglich.

Umgekehrt ist es nicht die Qualität ihrer Arbeiten, die Mozart oder Beethoven zu Genies macht. Beethovens Arbeiten verhalfen ihm zu seiner Zeit zu Geniestatus, Mozarts Arbeiten hingegen verhalfen ihm in der Gesellschaft seiner Zeit zu keinem solchen Geniestatus. Ob jemand als Genie gilt, hängt sehr davon ab, welche Produkte menschlichen Schaffens man wertschätzen will. Die gesellschaftliche Wertschätzung hinwiederum hängt mit der Organisation der jeweiligen Gesellschaft zusammen. Zu Mozarts Zeiten waren weder die Fürstenhöfe in ausreichendem Maße miteinander integriert, noch war der freie Musikmarkt ausreichend organisiert, als dass sich Leistung auf musikalischem Gebiet im Wettstreit hätte durchsetzen können. Heute hingegen ist die Barriere zwischen Wissenschaft und Wirtschaft so durchlässig geworden, dass die Wissenschaft kaum die Gültigkeit ihrer Regeln im eigenen Feld verteidigen kann.

Das heißt: Sie kann es schon, und im Normalfall wird ein Wissenschaftler seine Karriere wohl als eine solche „in Institutionen“ erleben, d.h. als eine Karriere, die von der „Enge der Institution“ geprägt ist, eine Karriere, in der man vom Urteil von Peers und Türhütern abhängig ist und die insofern auch Anpassungsleistungen bis hin zu einem devoten Auftreten nötig machen kann. Aber infolge der strukturellen Kopplung zwischen Wissenschaft, Markt und Politik existieren für die WissenschaftlerInnen sowie für die Organisationen, in denen sie arbeiten, eben auch Verlockungen. Es sind diese Verlockungen und die mit ihnen verbundenen exorbitanten Gewinnversprechungen, die dazu führen, dass es heute Genies gibt, während es zu Mozarts Zeit keine gab. D.h. es gibt an und für sich keine Genies, es gibt nur hohe Gewinnversprechungen.

So erklärt sich das erstaunliche Paradoxon, dass wir heute Wolfgang Mozart als Genie ansehen, obwohl es zu seiner Zeit gar keine musikalischen Genies gab, während wir einen talentierten Jungphysiker als Genie betrachten wollten, bei dem sich am Ende herausstellte, dass er leider keines war. Das Paradoxon liegt ganz einfach darin, dass unsere heutige rationale und wissenschaftliche Zeit eine Geniezeit ist, obwohl sie auf den ersten Blick nicht nach einer solchen aussieht. Als aufgeklärte Menschen glauben wir heute weniger an die Existenz von Wundern und magischen Fähigkeiten von Personen als das die Menschen zu Mozarts Lebenszeit noch getan haben, aber auf der anderen Seite haben wir als Gesellschaft heute einfach ein bestimmtes Kontingent an Genieplätzen frei, und diese müssen besetzt werden. Die Nobelpreise werden schließlich jährlich vergeben, auch wenn in einem Jahr einmal nicht so besonders große Leistungen zu würdigen wären.

In Summe führt das dazu, dass unsere Zeit mehr an „Wunderkinder“ glaubt als eine frühere, wundergläubigere Zeit. Wolfgang Mozart hätte aus dem Grund vielleicht besser in unsere Zeit gepasst als in seine eigene. Andererseits erscheint es mir auch unangenehm und unmenschlich, wenn es so sein sollte, dass wir von unseren Mitmenschen zumindest Genieleistungen erwarten, damit wir überhaupt bereit sind, sie in ihren Leistungen wahrzunehmen und anzuerkennen.

Wenn es Norbert Elias in seinem Mozart-Buch darum ging, uns davor zu warnen, Neuerern gegenüber verständnislos aufzutreten, denn es könnte sein, dass sie von späteren Zeiten als Genies angesehen werden, dann ist das ein schönes Ziel, das natürlich auch noch heute seine Berechtigung behält. Demgegenüber erscheint es mir in einer geniegläubigen Zeit wie der unseren aber auch angebracht, daran zu erinnern, was ein Genie eigentlich ist: Das soziale Konstrukt des Genies ist im Grunde nichts anderes als die Missachtung aller Menschen, die keine Genies sind.

Es gibt dann noch ein bemerkenswertes Phänomen bei unserer gegenwärtigen Geniesuche, welches mich an Hegels Aufsatz „Wer denkt abstrakt?“ (http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr91.htm) erinnert. Es geht darum, dass die Anzahl an Geniepositionen in unserer Gesellschaft oder auch die Bemühung, möglichst große Bevölkerungsgruppen in den Wettstreit um die verfügbaren Genieposten miteinbeziehen, dazu geführt hat, dass in zahlreichen Ländern Talenteshows entstanden sind, die im Fernsehen übertragen werden. Diese eigentümlichen Veranstaltungen haben gleichermaßen Showcharakter wie auch den Charakter einer peinlichen Prüfung. Bisweilen kommt es in ihnen vor, dass wir zu Tränen gerührt werden, wenn wir bemerken, dass eine dicke oder nicht dem gesellschaftlichen Schönheitsideal entsprechende Frau gut singen kann, dass eine ältere Person gut tanzen kann und Ähnliches. Eben diese unsere Reaktion erinnert mich an Hegels Aufsatz, in welchem Hegel meint, dass es die einfachsten und ungebildetsten Menschen seien, die abstrakt denken, weswegen sie es zum Beispiel unmöglich finden, dass ein Mörder schön sein kann. Das abstrakte Denken meint, ein Mörder sei moralisch abstoßend – also, so schließt es, müsse alles an ihm abstoßend und hässlich sein, auch seine körperliche Erscheinung.

Ebenso verhalten wir uns oft bei unseren Stars und Genies. Es genügt uns nicht, dass ein Mensch gescheite Gedanken hat, wir fordern oft auch noch, dass er sie sprachlich geschliffen und mit angenehmer Stimme auf elegante Weise vor einer großen Menge von Menschen vortragen kann. Wir akzeptieren eigentlich kein Genie, wenn es nicht von Vornherein unserem Gesamtbild von einem Genie entspricht.

Doch die Stars und Genies in den Talenteshows entsprechen unseren Genievorstellungen oft nicht. Wir erleben sie dann als normale Menschen, die eben zufällig besonders gut singen, tanzen oder sonst etwas können. Und die Tränen rinnen uns über die Wangen, weil wir nun den Beweis vor uns haben, dass gewöhnliche Menschen manchmal auch etwas besonders gut können. Mir scheint, wir weinen dann weniger deshalb, weil wir von der Leistung des Menschen auf der Bühne beeindruckt sind, sondern wir weinen dann über uns selber. Wir beweinen dann unsere Verachtung für den gewöhnlichen Menschen, die unseren Alltag prägt.
Was geht hier vor sich? Mir will oft scheinen, dass ihre Mitmenschen ohne die Präsentation dieses Talents im Fernsehen, mit Showcharakter, in einem Theater voller Menschen und mit einer Jury aus Profis aus dem Musik- und Unterhaltungsbusiness wohl nie bemerkt hätten, dass diese dickliche Frau gut singt oder jene ältere Person gut tanzt. Wir erkennen keine Perlen, denen wir auf der Straße begegnen.

Was Wolfgang Mozart betrifft, so wissen wir, dass er auch nicht besonders schön war. Doch lässt der Mangel an authentischen Darstellungen seiner Person unserer Phantasie viel Raum und uns die Möglichkeit, auch weiterhin das Wunderkind in ihm zu sehen. Wer weiß, vielleicht erschiene er uns sonst so wie das Überraschungstalent in einer unserer Talenteshows: als eine Person, die zwar gut komponieren und Klavierspielen kann, aber aufgrund des Fehlens weiterer Talente und physischer Eigenschaften für die öffentliche Rolle eines Stars oder Genies ungeeignet ist?

1. September 2014



© helmut hofbauer 2014