Wolfgang
Mozart als erfolgloser Arbeits-suchender und gescheitert-er
Selbstständiger
Über
ein musikalisches Genie in einer Zeit, die nur musikalische
Handwerker brauchte
Norbert
Elias: Mozart. Zur Soziologie eines Genies. Hg.
von Michael Schröter. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993,
187 Seiten.
Soeben
habe ich Norbert Elias‘ Buch über Mozart wieder
gelesen, und ich halte es für ein bemerkenswertes Buch.
(Ich spreche in diesem Text von „Norbert Elias‘
Mozart-Buch“, weil es sich um seine Texte handelt,
die in ihrem Stil unverkennbar sind; doch es handelt sich
um ein Buch, das Elias nicht mehr selbst fertiggestellt
hat, sondern das von seinem Mitarbeiter/Schüler Michael
Schröter aus Originalmanuskripten kompiliert und herausgegeben
worden ist.)
Bemerkenswert
ist es, weil Norbert Elias Wolfgang Mozart darin als Menschen
und Künstler im Zusammenhang mit der Gesellschaft seiner
Zeit darstellt – und nicht als musikalisches Genie,
das zum Leben weder den Menschen Mozart noch seine Mitmenschen
brauchte.
Wie
erscheint Mozart in Elias‘ Darstellung? Er erscheint
als ein jahrelang erfolglos Arbeitsuchender und als gescheiterter
Selbstständiger. Mit 35 Jahren war Mozart (1756-1791)
fertig: Sein Leben erschien ihm sinnlos, er gab sich auf
und starb.
Mit anderen Wort: Mozart erscheint in Elias‘ Darstellung
als Totalversager auf dem Arbeitsmarkt.
„1.
Wolfgang Amadeus Mozart starb 1791, im Alter von 35
Jahren, und wurde am 6. Dezember in einem Armengrab
beigesetzt. Was immer die akute Krankheit war, die
zu seinem frühen Sterben beitrug, Mozart war
in der Zeit vor seinem Tode oft der Verzweiflung nah.
Er fühlte sich langsam als ein vom Leben geschlagener
Mann. Die Schulden häuften sich. Die Familie
wechselte immer wieder das Quartier. Der Erfolg in
Wien, an dem ihm vielleicht mehr lag als an irgendeinem
anderen, blieb aus. Die Wiener gute Gesellschaft wandte
sich von ihm ab. Der schnelle Verlauf seiner tödlichen
Krankheit hing wohl nicht zuletzt damit zusammen,
daß sein Leben für ihn an Wert verloren
hatte. Er starb offenbar mit dem Gefühl des Scheiterns
seiner sozialen Existenz, also – metaphorisch
gesprochen – an der Sinnentleerung seines Lebens,
dem totalen Verlust des Glaubens an die Möglichkeit,
Erfüllung für das zu finden, was er sich
in der Tiefe seines Herzens am meisten wünschte.“
(S. 9) |
Nun
kann man danach fragen, warum das so war, und hier weiß
Elias einige Aspekte von Mozarts Gesellschaft anzugeben,
die seinem Erfolg entgegenstanden:
- Musik
wurde damals nicht der Wert zugemessen, wie das heute
der Fall ist. Sie wurde zwar an den Fürstenhöfen
als Mittel der Repräsentation benötigt, aber
dafür brauchte man keine hervorragende Musik. Musik,
die traditionell war und dem herrschenden Geschmack entsprach,
eignete sich sogar besser dafür. Mozart konnte sich
also nicht durch die Komposition von hervorragender Musik
(also durch Leistung) durchsetzen.
-
Viel eher wurde von Musikern verlangt, dass sie gegenüber
ihren Dienstgebern, und überhaupt gegenüber
allen Adligen, ein devotes Verhalten an den Tag legten.
Zum Erfolg kam man also eher durch Kriechen und Dienstfertigkeit
als durch Leistung. Mozart aber konnte das Kriechen nicht
ausstehen. Hingegen war er sich seines Werts als Künstler
bewusst, was damals von Nachteil war. Dadurch erschien
er angesehenen Persönlichkeiten als Frechdachs, Querulant
und Freigeist in einem Fach, in dem man sich nicht mehr
als solide Handwerksarbeit wünschte.
-
An all den Fürstenhöfen Europas, an denen Mozart
eine Anstellung suchte, gab es bereits Musiker, die keine
Freude damit hatten, dass ihnen ein weiterer Konkurrenz
machte. Da Mozart sich ihnen gegenüber nicht durch
die Qualität seiner Arbeit durchsetzen konnte und
er es gewiss nicht vermochte, sie im Wettstreit in kriecherischem
oder hoffärtigem Verhalten zu besiegen, hat Norbert
Elias wahrscheinlich Recht mit seiner These, dass die
Hoffnung der Mozarts, für Wolfgang eine Anstellung
an einem größeren Fürstenhof, als jener
des Erzbischofs von Salzburg es war, zu finden, eine unrealistische
war. Höchstwahrscheinlich gab es ganz einfach keine
solche Stelle für Wolfgang Mozart.
-
Also versuchte sich Mozart in Wien als freier Musiker.
Doch dem stand entgegen, dass der Musikmarkt zu der Zeit
noch nicht entwickelt war. Es gab keine Musikrechte, aufgrund
derer Mozart für eine jede Aufführung seiner
Werke Tantiemen erhalten hätte. Das Konzertveranstaltungs-
und das Notenpublikationsgeschäft steckten in den
Kinderschuhen. Beethoven konnte 15 Jahre nach Mozart schon
recht gut als freier Künstler leben, aber zur Zeit
von Mozart waren die dafür notwendigen gesellschaftlichen
Bedingungen noch nicht gegeben.
-
Mozarts berufliche Selbstständigkeit als freier Musiker
funktionierte anfangs, doch danach ging es sehr bald immer
schlechter. Er dürfte die Gesellschaft seiner Zeit
falsch eingeschätzt haben. Die Musikkonsumenten waren
damals fast ausschließlich Adlige, und diese waren
ein untätiges und in ihren Vorlieben und Sympathien
sehr liederliches Volk, das sich für eine neue Sensation
jeweils nur sehr kurze Zeit begeistern konnte. Man sagte
Mozart auch, dass der Ruhm in Wien nur kurze Zeit dauere.
Moderner gesagt, Kundenbindungsprogramme mussten aufgrund
der damaligen Gesellschaftsstruktur fehlschlagen.
„Beethoven
wurde 1770 geboren, fast 15 Jahre später als
Mozart. Ihm gelang es zwar nicht spielend, aber mit
viel geringerer Mühe, was Mozart vergeblich anstrebte:
die weitgehende Befreiung von der Angewiesenheit auf
höfisch-aristokratische Patronage, so daß
es ihm möglich wurde, in seinen Kompositionen
mehr seiner eigenen Stimme – oder genauer, der
immanenten Folgerichtigkeit der Stimmen – als
dem konventionellen Geschmack seiner Abnehmer zu folgen.
Beethoven hatte bereits eine erheblich größere
Chance, dem musikalischen Publikum seinen Geschmack
aufzuoktroyieren. Er konnte sich, im Gegensatz zu
Mozart, dem sozialen Zwang entziehen, als Untergeordneter
und Bediensteter Musik produzieren zu müssen
für einen sozial viel mächtigeren Dienstherren
oder Auftraggeber, und statt dessen, wenn nicht ausschließlich,
so doch in weit höherem Maße als freier
Künstler (wie wir es heute nennen) Musik auch
für ein relativ unbekanntes Publikum schaffen.“
(S. 56) |
Norbert
Elias‘ Darstellung von Mozarts Schicksal ist vor allem
deshalb sehr wertvoll, weil man ja heute meint, alles, was
gut sei, habe Erfolg, müsse Erfolg haben, und alles,
was Erfolg habe, müsse notwendigerweise gut sein. Mozarts
Lebenslauf zeigt, dass das absolut nicht der Fall sein muss.
Diese
allgemein verbreitete Meinung über den Erfolg gründet
wiederum auf einer anderen, noch tiefer liegenden Anschauung,
die „wissenschaftlich“ genannt werden kann,
weil sie zu Differenzierung und Abstraktion tendiert. So
trennt sie etwa den Menschen vom Künstler und das Werk
des Künstlers von dessen gesellschaftlichen Herstellungsbedingungen.
In der Folge meint man etwa, als musikalisches Genie hätte
Mozart seine Werke komponieren müssen, gleich welchen
sozialen Bedingungen auch immer er ausgesetzt gewesen wäre.
Elias bekämpft in seinem Buch eine solche unkonkrete
Anschauungsweise vehement. Mir erscheint es in diesem Zusammenhang
als interessant, dass Abstraktion sehr leicht zu Geniekult
führt; Geniekult könnte also umgekehrt auch ein
Symptom für das Vorherrschen von abstrakten Betrachtungsweisen
der Wirklichkeit sein.
Noch
ein wichtiges Wort zur Wissenschaft: Norbert Elias hielt
sich für einen Soziologen, mithin also für einen
Wissenschaftler. Ich bezweifle es sehr, dass er letzten
Endes einer war. Den Grund dafür sehe ich in Elias‘
Bestreben, mithilfe von Soziologie den Menschen „das
Unverständliche unseres gesellschaftlichen Lebens“
besser verständlich zu machen. Ich zweifle daran, dass
Wissenschaft ihre Aufgabe darin sieht, gewöhnlichen
Menschen irgendetwas zu erklären und verständlich
zu machen. Um Menschen zu helfen, etwas besser zu verstehen,
müsste die Wissenschaft die Fragen dieser Menschen
über den Forschungsgegenstand beantworten. Aber diese
Fragen sind subjektive Fragen, weil es sich um die Fragen
einzelner Menschen handelt, und sie sind weder methodologisch
gerechtfertigt noch von allgemeinem Interesse.
Mich
hat man während meines Studiums an der Universität
immer wieder mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit
zurückgepfiffen, sobald ich versuchte, meine eigenen
Fragen an einen Untersuchungsgegenstand zu stellen. Dergestalt,
dass ich am Ende den Schluss zog: Unwissenschaftlich ist
es, wenn ein Mensch diejenigen Fragen bezüglich einer
Sache äußert, die ihn selbst interessieren, und
solche Antworten auf seine Fragen erhält, die ihm persönlich
weiterhelfen und ihm irgendetwas erhellen, das er bislang
nicht verstanden hatte.
Die Gestalt der wissenschaftlichen Texte vieler heutiger
Geistes- und Kulturwissenschaftler unterstützen mich
in dieser Überzeugung. Sie unterscheiden sich sehr
von der Prosa von Norbert Elias, in welcher immer ein starkes
Bestreben spürbar ist, seinen Leserinnen und Lesern
etwas über die soziale Wirklichkeit zu erklären.
Versucht
man, sich selbst oder anderen Menschen etwas zu erklären
und verständlich zu machen, so bezeichne ich das als
Philosophie. Auch Norbert Elias‘ Mozart-Buch rechne
ich daher – ebenso wie seine übrigen Werke –
der Philosophie zu.
Tatsächlich
ist seine Praxis der Soziologie so eigentümlich, sodass
ich sogar daran zweifle, dass es sich dabei um Soziologie
handelt. So reduziert Norbert Elias z.B. nicht die Person
von Mozart auf gesellschaftliche Strömungen und Kräfteverhältnisse.
Doch löst er die Person Mozarts nicht nur nicht im
Sozialen auf, sondern er macht sie umgekehrt sogar wieder
ganz, indem er den Künstler Mozart zusammen mit dem
Menschen sieht und diesen obendrein nicht unabhängig
von seiner sozialen Umwelt betrachtet.
Und
als ob das alles noch nicht viel wäre, bezieht Elias
zudem noch die Sphäre des Psychischen, des Seelenlebens,
in seine Untersuchung mit ein. Er stellt die Frage nach
der Rolle der Sublimierung in Mozarts Kunstschaffen und
erwägt, welche Handlungen und Entwicklungen in seinem
Leben Mozart als sinnvoll oder als sinnentleerend erschienen
sind.
Mit anderen Worten, hier handelt es sich um eine ganzheitliche
Betrachtungsweise, die Soziologen aufgrund ihrer methodologischen
Selbstbeschränkung sicherlich nicht als soziologische
Untersuchungsweise akzeptieren können.
„Gewöhnlich
wird Soziologie als eine destruierende, reduzierende
Wissenschaft aufgefaßt. Ich teile diese Auffassung
nicht. Für mich ist Soziologie eine Wissenschaft,
die uns helfen soll, das Unverständliche unseres
gesellschaftlichen Lebens besser zu verstehen, es
zu erklären. In diesem Sinne habe ich den scheinbar
paradoxen Titel „Zur Soziologie eines Genies“
gewählt. Mein Ziel ist also nicht, das Genie
zu destruieren oder zu reduzieren, sondern seine menschliche
Situation verständlicher zu machen und vielleicht
auch ein wenig zur Klärung der Frage beizutragen,
was zu tun wäre, um ein Schicksal wie das von
Mozart zu verhindern. Indem man seine Tragödie
so darstellt, wie ich es versuche – und das
ist nur ein Beispiel für ein allgemeineres Problem
-, kann man vielleicht das Bewußtsein der Menschen
etwas verstärken, daß sie Neuerern gegenüber
vorsichtig sein sollen.“ (S. 22-23,
Fußnote) |
Norbert
Elias‘ Mozart-Buch kann außerdem dazu dienen,
um Vergleiche mit der heutigen Zeit anzustellen. Im Grunde
hatte Mozart die Wahl zwischen zwei Optionen, die sich jedem
Einkommenslosen auch heute in der Form anbieten: entweder
in einer Institution Fuß zu fassen oder sich auf dem
freien Markt durchzusetzen. Das heißt, eigentlich
hatte er diese Wahl nicht, denn er versuchte ja beides hintereinander
und scheiterte jedes Mal (aber das stellte sich erst mit
der Zeit heraus).
Mehr
Alternativen als diese beiden scheint es grundsätzlich
nicht zu geben. Sie bilden zwei sehr grundlegende Formen
menschlicher Gesellschaftsorganisation.
Sich in einer Institution durchzusetzen bedeutet, dass man
Mitglied einer Gemeinschaft wird, die ihre eigenen Regeln
und Standards besitzt, und dass man vom Urteil einzelner
„Peers“ abhängig ist, die als Türhüter
fungieren.
Sich
auf dem freien Markt durchzusetzen bedeutet, dass man auf
einem im Vergleich zur Institution relativ regellosen, anonymen
Markt eine ausreichende Anzahl von Abnehmern für die
eigenen Hervorbringungen findet. Deren Zahl muss zumindest
so groß sein, dass man mit ihren Zahlungen seinen
Lebensunterhalt bestreiten kann.
Entscheidet man sich für den Weg innerhalb einer Institution,
so ist die Bedingung dafür zumeist die, dass man starke
Anpassungsleistungen an die Standards der jeweiligen Institution
erbringt. Die Konsequenz der von der Institution geforderten
Anpassungen ist gewöhnlich die, dass das Innovative
und Individuelle der eigenen Hervorbringungen verblasst.
Entscheidet
man sich hingegen für den Weg über den Markt,
so steht man unter dem dauernden Druck, Seichteres und Gefälligeres
hervorzubringen, um eine größere Anzahl von Menschen
in unmittelbarer Nähe damit anzusprechen. Das Resultat
ist dasselbe wie im ersten Fall: Die Werke verlieren ihre
charakteristische Eigenart in dem Maße, in dem sie
versuchen, möglichst vielen Menschen zu gefallen.
Aus
diesem Dilemma gibt es im Grund nur einen Ausweg, den Elias
in seinem Mozart-Buch ebenfalls erwähnt: Der Künstler/die
Künstlerin müsste von seinem Publikum aufgrund
seines Spezialistenwissens einen Expertenstatus zugeschrieben
bekommen. Nur in dem Fall wird das Publikum dazu bereit
sein, vom Künstler auch Hervorbringungen entgegenzunehmen,
die ihm nicht so gut gefallen, und zwar wird es das deshalb
tun, weil sich das Publikum seines eigenen Geschmacks unsicher
ist und dem Künstler als Experten vertraut, schon zu
wissen, was gut ist. Nur in dieser gesellschaftlichen Machtkonstellation
hat der Künstler/die Künstlerin etwas mehr kreative
Freiheit.
Diese
gesellschaftliche Machtkonstellation ist jedoch von prekärer
Natur. Sie hängt einerseits davon ab, dass ein künstlerisches
oder intellektuelles Feld nicht zu sehr geordnet und organisiert
ist. Ist das nämlich der Fall, so hätte sich das
entsprechende Feld bereits in eine Institution verwandelt.
Ist
das entsprechende Feld (der Musik, der Literatur, der Philosophie,
der Sozialkritik oder sonst noch ein anderes) hingegen zu
unstrukturiert, so funktioniert die Strategie des Strebens
nach einem Expertenstatus als Künstler oder kreativer
Kopf ebenfalls nicht. Es gibt in dem Fall nämlich noch
nicht genug Menschen, die die gleiche Orientierung teilen.
Es ist aber eine ausreichende Anzahl von MusikkonsumentInnen
(beispielsweise) nötig, die einen Musiker als „großen
Künstler“ schätzen wollen, damit dieser
seine Rolle als „großer Künstler“
spielen kann. Im Grunde war ja genau das Mozarts Problem:
Man schätzte Musik zu seiner Zeit nicht genug, um einen
Komponisten dafür zu bewundern und anzuhimmeln.
Das
bedeutet, die Situation, in welcher eine künstlerische
oder intellektuelle Hervorbringung wertgeschätzt wird
und ihr Hervorbringer Anerkennung erfährt, setzt bereits
eine erste Stufe sozialer Integration voraus. Viele Menschen
müssen unabhängig voneinander, aber parallel zueinander,
die Idee haben, dass man so etwas wie einen großen
Künstler, Musiker, Philosophen, Intellektuellen etc.
schätzen will. Ist das nämlich nicht der Fall,
so wird der Hervorbringer für seine Hervorbringungen
auf dem Markt keinen entsprechenden Preis erzielen können,
von dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.
Hierbei
handelt es sich um das Problem der Wertbildung auf dem Markt.
Ich weiß nicht, ob es dafür in der Ökonomie
gute Theorien gibt. Herkömmlich meint man ja, dass
die Preise der Produkte am Markt durch die Bedürfnisse
der Kunden/Kundinnen bestimmt werden. Die Erfahrung weist
jedoch eher darauf hin, dass den Menschen oft gesagt werden
muss, welchen Wert einzelne Waren besitzen, oder dass sich
dieses Wertbewusstsein in einem sozialen Prozess erst herausbilden
muss. So lässt sich beispielsweise, wie die jüngere
Geschichte zeigt, der Wert eines süßen Getränks
auf dem Markt durch eine große Marketingoffensive
etablieren.
Beeindruckend
an dieser gesellschaftlichen Machtkonstellation, die dem
Künstler einen relativ großen kreativen Freiraum
eröffnet, ist, dass sie sich ihrem Wesen nach einer
Marktintransparenz verdankt. Denn sobald versucht wird,
den Markt zu organisieren und gemeinsame Kriterien zu etablieren,
nach denen die Qualität der Hervorbringungen beurteilt
wird, verfestigt sich der Markt zur Institution mit all
ihren Eigenschaften der Unausweichlichkeit und ihrer erstickenden
Wirkung auf Innovation.
Für
das schöpferische Individuum ist es also nicht unbedingt
gut, dass die Gesellschaft „besser“ wird, d.h.
dass es mehr Ordnung gibt und dass alle Transaktionen transparenter
ablaufen. Die Abschaffung des „Dschungels“ in
der Gesellschaft geht einher mit dem Verlust kreativen Freiraums
für das Individuum.
Gegeben
die Existenz eines Marktes, gehört es zu den wesentlichen
Voraussetzungen kulturell Schaffender, um erfolgreich zu
sein, dass man es schafft, das Publikum dazu zu bringen,
diejenigen Kriterien auf die eigenen Werke anzuwenden, die
man selbst auf sie angewandt sehen möchte.
Und
hierzu ist es nötig, dass man sich gut verkauft. Wie
man hört und wie es auch Norbert Elias erwähnt,
war Mozart weder gutaussehend noch attraktiv. Wäre
er es gewesen, hätte das wahrscheinlich geholfen. Erschwerend
kam in seinem Fall hinzu, dass die Struktur seiner Motivation
darin bestand, dass er aus Salzburg wegwollte, um sich nicht
kriecherisch verhalten zu müssen und um künstlerisch
freier zu sein. Daraus folgt, dass ein jedes Zugeständnis
an den Publikumsgeschmack Mozarts Freiheit, wie er sie sich
vorstellte, in Frage gestellt haben würde. Schließlich
war seine künstlerische Freiheit für ihn, da der
materielle Erfolg großteils ausblieb, die einzige
reale Rekompensation für sein unternehmerisches Risiko
und sein hohes Arbeitspensum.
Was
ich damit sagen will, ist, dass das gesamte Projekt des
Sich-gut-Verkaufens eine negative Dynamik gewinnt, sobald
es die Aufgabe miterfüllen muss, etwas zu kompensieren
(z.B. die körperliche Unansehnlichkeit) oder wenn sie
die Konsequenz einer Flucht ist (hier: die Wendung zum freien
Künstlertum, um dem Dienst im Erzbistum von Salzburg
zu entkommen).
Gewiss
wäre es für Mozart besser gewesen, er wäre
bedürfnislos gewesen und vor Glück geradezu übergeflossen.
Norbert Elias streicht in seinem Mozart-Buch Mozarts großes
Liebesbedürfnis hervor, das sich zuerst auf seinen
Vater richtete und später auf seine Frau und auf das
Wiener Konzertpublikum.
Mozart
war also unschön, unglücklich und liebesbedürftig,
wobei ihn seine Liebesbedürftigkeit verletzlich machte.
Diese Eigenschaften sind allesamt keine guten Voraussetzungen
für Erfolg auf dem freien Markt.
Alle
Bedürfnisse und Wünsche dieser Art wirken auf
dem freien Markt wie Schulden, die zuerst einmal abgezahlt
werden müssen, bevor man sich daranmachen kann, irgendwann
einmal vielleicht einen Gewinn zu erwirtschaften. Auf den
Markt müsste man kommen wie jemand, der überfließt
vor Kraft und Zufriedenheit, sodass es unmöglich erscheint,
dass dieser Mensch durch die Ablehnung des Publikums eine
seelische Verletzung erfährt.
Mit
einem Wort, die Autarkie des menschlichen Individuums scheint
die Grundvoraussetzung für dessen Integration in die
Marktgesellschaft zu sein, während ihn Bedürftigkeit,
die sich an andere Menschen wendet, zu Erfolglosigkeit und
Vereinsamung verdammt.
Diese
Einsicht ist paradox, würde man doch an sich glauben,
dass es die menschlichen Bedürfnisse sind, und hier
vor allem die sozialen Bedürfnisse, also jene nach
Liebe und Anerkennung durch andere Menschen, welche die
menschliche Gemeinschaft zusammenhalten. Im Zusammenhang
mit dem Problem des Sich-gut-Verkaufens auf dem freien Markt
zeigt sich jedoch, dass dies erfolgreicher durchgeführt
werden kann von Menschen, die materiell und emotional unabhängig
sind von den anderen. Die Vorbedingung für die Integration
in die Gesellschaft ist also die, dass man ein Mensch ist,
er die Gesellschaft nicht braucht.
Doch
das sind bereits weiterführende Gedanken, die ihre
Inspiration den zahlreichen Anregungen durch Elias‘
konkrete und ganzheitliche Darstellung von Wolfgang Mozart
im Kontext der Gesellschaft seiner Zeit verdanken.
Norbert
Elias hat in seinem Mozart-Buch Wolfgang Mozart so dargestellt,
wie er wirklich war, also nicht als einen großen Künstler
und als musikalisches Genie, sondern als einen erfolglos
Arbeitssuchenden und als gescheiterten Selbstständigen;
als jemanden, für den die Gesellschaft seiner Zeit
keinen Platz hatte, weil er nicht anpassungswillig genug
war und als Querulant erschien; als jemanden, der körperliche,
seelische und soziale Bedürfnisse hatte, die er sich
aufgrund seiner sozialen Stellung gar nicht leisten konnte;
und als jemanden, der sein Leben mit so viel Erfolg bestritten
hat, dass er mit 35 Jahren tot und begraben war.
Das
war Mozart. Mehr war er nicht. Heutige Frührentner,
solche, die nie in ihrem Leben etwas geleistet haben und
täglich beim Wirt im Gasthaus sitzen, können sich
hoch über Mozart stellen, denn sie haben ihn bei weitem
überlebt.
Ja,
und dass Mozart der Menschheit „unsterbliche“
Werke hinterlassen hat, das zählt in diesem Kontext
eigentlich nicht, denn das ist eine andere Geschichte; eine
Geschichte, die erst nach Mozarts Ableben begann und die
zum Inhalt hatte, wie man ihn aus der Perspektive der Nachwelt,
retrospektiv, sehen wollte.
Postskriptum:
über das Geniebedürfnis unserer Zeit
Da
ich Philosophieren so ähnlich sehe wie das Verfassen
von Kurzgeschichten oder Romanen, wird man verstehen, dass
ich Lust habe, an dieser Stelle noch einen Kontrapunkt hineinzukomponieren.
Es ist nämlich der Fall, dass mir der Name Mozarts
erst unlängst einmal wieder begegnete, und zwar in
seiner Geniebedeutung. Wobei der Hintergrund der Geschichte
ein Beispielfall dafür war, dass wir heutzutage geradezu
ein Bedürfnis nach Genies zu haben scheinen, und das
in Gebieten, wo es mit ehrlicher, sauberer Handwerksarbeit,
das sollte man zumindest meinen, besser getan wäre.
Wolfgang
Mozart war ein musikalisches Genie in einer Gesellschaft,
die keine musikalischen Genies brauchte; wir hingegen leben
in einer Zeit, in der wir es an und für sich den Genies
aller Arten durch eine Überzahl von Regeln und Formalvorschriften
schwer machen – aber sollte einmal ein Mensch diese
Hürden überwinden, dann erregen die spektakulärsten
Leistungen von ihm keinen Verdacht, denn dann man meint:
Dieser Mensch sei ein Genie, und Genies müsse man anerkennen.
Am
11. Juni 2014 hörte ich in der Medizinischen Universität
Wien den Vortrag „Grauzonen, Slippery Slopes
und Grenzübertretungen: Zu den Produktionsbedingungen
von Publikationen“ von Prof. Ulrike
Felt.
Ulrike
Felt erzählte in ihrem Vortrag die Geschichte von Jan
Hendrik Schön, der von der Universität
Konstanz in die USA, zu den Bell Labs, kam und dort 1998-2001
die erstaunlichsten wissenschaftlichen Durchbrüche
in den Materialwissenschaften erzielte.
In
dieser kurzen Zeit schrieb Schön 90 wissenschaftliche
Artikel, davon 20 in Topzeitschriften wie „Science“
und „Nature“. Diese Artikel veröffentlichte
er nicht allein, sondern die Namen von insgesamt an die
20 international anerkannten Koautoren zierten sie. Gegen
Ende schrieb Schön ungefähr alle 8 Tag ein Paper,
also einen neuen Aufsatz. Schön erhielt mehrere renommierte
Wissenschaftspreise.
Andere
Forscher konnten Schöns wissenschaftliche Ergebnisse
nicht reproduzieren. Doch das allein reichte nicht aus,
um ihn aufzudecken. Immerhin profitierte die gesamte wissenschaftliche
Branche von ihm durch mehr Beachtung in der Öffentlichkeit
und mehr Fördergelder.
Eine
Kurve, die zu perfekt war, ließ Jan Hendrik Schön
auffliegen: Er hatte bei einer Supraleiterstudie das Hintergrundrauschen
vergessen.
2002
setzte Bell Labs eine Kommission ein. 24 Papers mit 20 Koautoren
wurden überprüft. Schön konnte keine Rohdaten
und kein Laborheft vorweisen. Kein Koautor hatte je Rohdaten
von Schön gezeigt bekommen; dennoch wurden alle Koautoren
für unschuldig erklärt.
An
der Universität Konstanz hat man Schöns Dissertation
überprüft. Man fand, sie habe handwerkliche Fehler,
sei aber für eine Dissertation „im grünen
Bereich“. (Damit ist offenbar jener „grüne
Bereich“ betrifft, was Fälschungen und Plagiate
in der Wissenschaft betrifft.)
Später
erkennt die Universität Konstanz trotzdem Schön
seinen Doktortitel ab, und zwar nicht wegen seiner Dissertation,
sondern weil er mit seinem Verhalten in den USA der Wissenschaft
geschadet habe.
Ulrike
Felt formulierte am Ende ihres Vortrags 6 Thesen:
- Dass
wir in der Wissenschaft alles messen und zählen (Stichwort:
Impactpunkte) sei ein Nährboden für Betrugsfälle;
-
das wissenschaftliche Publikationssystem baue auf Massenproduktion
auf – Prozesse des Aufbaus von Glaubwürdigkeit
würden dadurch strapaziert;
-
quantitative Beurteilungen ersetzen heute komplexere Qualitätsbegriffe
für wissenschaftliche Arbeiten;
- „big
data“, technisch aufwändig produzierte Daten,
werden zu einer neuen Herausforderung;
-
ein weiteres Problem bringt die Tatsache mit sich, dass
Wissenschaft heute zu einem zentralen Player in der Gestaltung
von Gesellschaft geworden ist – es geht oft um die
Frage: Wer kann die besseren Versprechungen für die
Zukunft machen?
-
Institutionen bevorzugen es zu schweigen oder sich auf
Formalismen rauszureden, statt die Dinge aktiv anzusprechen.
In der Diskussion wollte ich wissen, warum die Wissenschaft
es nicht schafft, mit einem Menschen wie Jan Hendrik Schön,
der doch offenbar hochintelligent ist, umzugehen. Unter
direkter Beaufsichtigung hätte Schön, so meine
Annahme, doch wohl hervorragende wissenschaftliche Ergebnisse
generiert.
Zu
meinem Erstaunen lernte ich, dass das Wissenschaftssystem,
bei dem doch angeblich immer das Nachprüfen im Vordergrund
steht, sehr stark auf dem Vertrauensgrundsatz aufbaut. Das
ganze System beruhe darauf, so Ulrike Felt, dass man die
Personen nicht persönlich kenne, auf deren Wissen man
sich verlasse.
In
einem Gespräch auf einer Konferenz oder sonstwo, das
habe ich vergessen, sagte jemand zu Felt, Schön sei
als ein Genie erschienen, wie Mozart, solche Menschen dürfe
man nicht hinterfragen. Das muss wohl in einem Gespräch
gewesen sein, in dem Ulrike Felt zu eruieren versuchte,
warum man bei Schön trotz seines erstaunlich hohen
publikatorischen Outputs nicht misstrauisch wurde.
Dabei
war ich an den Film „A beautiful mind“ über
den amerikanischen Mathematiker John Forbes Nash erinnert,
in welchem dieser am Ende durch ein merkwürdiges Ritual,
dass im Ablegen von Füllfedern vor der zu ehrenden
Person bestand, als von seinen akademischen Kollegen als
Genie anerkannt wurde. Und ich dachte: Offenbar besteht
heutzutage tatsächlich ein Bedürfnis nach Genies!
Merkwürdig
ist nur, woher dieses Bedürfnis kommt: In der Wissenschaft
ist an und für sich kein Platz für Genies. Schließlich
ist Wissenschaft keine esoterische Lehre, sondern soll für
andere Wissenschaftler verständlich sein. Außerdem
besteht sie in der Hauptsache in der kleinlichen Arbeit
des Datensammelns und -auswertens und gewährt eher
selten Raum für größere theoretische Würfe.
Nichtsdestotrotz
scheinen wir heute in unserer rationalistischen Kultur ein
manifestes Bedürfnis nach Genies zu haben, während
zu Mozarts Zeit, in welcher genialen Menschen verhältnismäßig
mehr Freiraum zur Entfaltung zur Verfügung stand, ein
solches Bedürfnis offenbar fehlte.
Mir
ist nicht ganz klar, woher dieses heutige Bedürfnis
nach dem genialen Wissenschaftler kommt. Ist es ein Überbleibsel
der Vorstellung vom genialen Künstler aus dem 19. Jahrhundert,
oder stammt es aus den Superheldencomics des 20. Jahrhunderts,
in welchen geniale Wissenschaftler sich in verschiedene
Superhelden oder Superschurken verwandelten?
Wie
auch immer, jedenfalls bleibt in meiner Betrachtung die
Kluft bestehen zwischen dem Genie, das existiert, aber das
man nicht anerkennen will (Mozart) und dem Genie, das man
anerkennen will, das aber am Ende gar nicht wirklich existiert
(Schön): Man braucht sich wohl nicht zu bemühen,
ein Genie zu sein in einer Gesellschaft, die keine Genies
akzeptieren will. In einer Gesellschaft, die ein Bedürfnis
nach Genies verspürt, erscheint man hingegen mit einfacher
ehrlicher Arbeit zumindest als „unsexy“. Hierdurch
geschieht es, dass grundsätzlich anerkennenswerte Leistungen
durch das Geniebedürfnis einer Gesellschaft eine Entwertung
erfahren.
Der
schwerste Schritt beim Philosophieren ist immer der letzte.
Es geht darum, wenn man sich bis an die Grenze zum eigenen
Nichtwissen herangedacht hat, noch einen weiteren Schritt
ins Unbekannte hinauszutun, um auf diese Weise vielleicht
– wenn er gelingt – ein bisschen gescheiter
zu werden. Die Frage, vor der ich jetzt stehe, lautet also:
Woher kommt das Bedürfnis nach Genies in der gegenwärtigen
Wissenschaftskultur?
An
dieser Stelle ist zuerst festzustellen, dass ein Wissenschaftler
den Karriereweg innerhalb einer Institution nimmt –
ebenso wie ihn Mozart nehmen wollte, als er nach einer Anstellung
als Musiker an einem europäischen Fürstenhof suchte.
Ein solcher Karriereweg ist dadurch geprägt, dass es
nicht genügt, viele relativ unwichtige und untereinander
unkoordinierte KonsumentInnen für die eigene Leistung
zu begeistern, sondern wenige wichtige Persönlichkeiten,
die an zentralen Schaltstellen der Macht der jeweiligen
„Branche“ sitzen, als Unterstützer und
Türöffner zu gewinnen.
Wo
aber liegt nun der Unterschied zwischen Wolfgang Mozarts
und Jan Hendrik Schöns Situation? Nun, der Unterschied
liegt darin, dass Mozart, hätte er die von ihm angestrebte
Position an einem europäischen Fürstenhof erhalten,
eine berufliche Position erlangt hätte, in welcher
gewöhnliche und gewohnte Leistungen eines Musikers
für ein entsprechendes regelmäßiges Honorar
von ihm erwartet worden wären. Das bedeutet, für
Mozarts künstlerische Hervorbringungen waren keine
außergewöhnlichen Preise vorgesehen.
Jan
Hendrik Schön hingegen „gewann“ schon allein
dadurch einen ersten „Hauptpreis“, dass er die
Möglichkeit erhielt, von der Universität Konstanz
an die renommierten Bell Labs zu wechseln. Und das trug
sich einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2002 zufolge so
zu:
„Schön
bekam dafür [nämlich für seine Doktorarbeit,
Anm. Hofb.] ein "magna cum laude", eine
Eins - aber keine Eins mit Auszeichnung. Nur durch
einen Zufall erhielt er dennoch die Chance seines
Lebens: Ein Forscherfreund Buchers, der an den Bell-Laboratorien
arbeitende Festkörperphysiker Bertram Batlogg,
suchte für neue Experimente einen Mitarbeiter.
Bucher: "Schön war der Einzige, der zu diesem
Zeitpunkt gerade fertig war, und so habe ich ihn den
Bell Labs vorgeschlagen."
Gegenüber den Bell Labs klang das aber wohl ein
wenig anders. "Bucher hat uns erzählt, Schön
sei sein bester Student überhaupt gewesen, die
Nummer eins", behauptet Forschungsmanagerin Cherry
Murray.“ (Marco Evers, Gerald Traufetter:
„Ikarus der Physik“, in: Der Spiegel 41/2002,
7. 10. 2002, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-25396545.html)
|
Der
Titel des Artikels, „Ikarus der Physik“, weist
schon darauf hin: Da gab es die Möglichkeit, hoch aufzusteigen.
Wodurch gab es diese Möglichkeit? Nun, erstens dadurch,
dass es heute verschiedene Organisationen innerhalb der
Institution der Wissenschaft gibt, die unterschiedlich hohes
Ansehen genießen. Die Bell Labs in den USA genießen
offenbar ein höheres Ansehen als die Universität
Konstanz. Man kann also allein schon dadurch gewinnen, indem
man von einer Organisation zur anderen wechselt. Hätte
Mozart seine Anstellung an einem europäischen Fürstenhof
erhalten, so wäre diese für ihn eine Lebensstellung
gewesen, denn es gab damals keinen Bedarf für einen
Wechsel von talentierteren Musikern zu größeren
und bedeutenderen Fürstenhöfen. Immerhin war die
Arbeit eines Musikers ja auch ihrem beruflichen Rang nach
nicht grundsätzlich wichtiger als die eines Zuckerbäckers.
Wodurch
nun hat sich die Wissenschaft zu einem Gebiet entwickelt,
in dem es heute „etwas zu gewinnen“ gibt? Nun,
ein Grund dafür ist sicher einmal die Existenz von
Preisen, mit dem Nobelpreis als ihrem höchsten. Schön
hat auch einige von ihnen gewonnen (den Braunschweig Preis
etwa und den Otto-Klung-Weberbank-Preis), und Schöns
Mentor Bertram Batlogg sah sich dem zitierten Spiegel-Artikel
zufolge, gemeinsam mit Schön „auf dem Weg zum
Nobelpreis“. Das bedeutet, es gibt eine Möglichkeit,
durch die ein Wissenschaftler/eine Wissenschaftlerin aus
der Enge der Institution, in der er/sie arbeitet, herausgehoben
wird. Das Vorankommen in Institutionen ist durch Enge gekennzeichnet:
Es gibt immer einige wenige Personen, die als Peers oder
Türhüter fungieren und an denen man vorbeikommen
muss, um den nächsten Karriereschritt zu nehmen. Aber
wenn man natürlich einen wichtigen Wissenschaftspreis
gewinnt (oder gar den Nobelpreis), dann hat man ein bei
weitem bedeutenderes Zeugnis errungen, als es das Urteil
der lokalen Peers darstellt. Man hat sie gleichsam übersprungen
oder rechts überholt.
Das
wäre so gewesen, als hätte der Gefallen, den der
kleine Mozart bei der österreichischen Kaiserin gefunden
hat, ihn als Musiker hoch über alle anderen Musiker
gehoben und ihn beruflich gewissermaßen auf eine andere
Qualifikationsebene gehoben hätte. Das war aber nicht
der Fall. Mozart hat hochgestellten Persönlichkeiten
eine Zeitlang gefallen, und dann haben sie ihn wieder vergessen.
Jan
Hendrik Schön hingegen war aufgrund seiner wissenschaftlichen
Erfolge bereits als junger Wissenschaftler als Direktor
eines Forschungsinstituts der Max-Planck-Gesellschaft im
Gespräch. Wie ist es möglich, dass man heute jungen
Menschen so große Chancen geben will? Ich denke, das
wäre nicht denkbar, wenn es in der Physik nur darum
ginge, Physik zu betreiben, so wie es zu Mozarts Zeit in
der Musik nur darum ging, Musik zu machen und nichts weiter.
Das ist nur dadurch möglich, dass wissenschaftliche
Erfindungen hohe Gewinne infolge ihrer wirtschaftlichen
Ausbeutung versprechen. Also haben wir es schon wieder mit
dem Versprechen von hohen Gewinnen zu tun. Was hat Schön
denn beforscht: Supraleiter, Transistortechnik etc. Er befasste
sich mit der Physik von Materialeigenschaften, die die Aussicht
boten, technische Revolutionen zu ermöglichen.
Worauf
ich mit diesen Überlegungen hinauswill, ist: Wir haben
es heute oft nicht mehr mit reinen innerinstitutionellen
Karrieren zu tun, die reinen Karrieren auf dem freien Markt
gegenüberstehen, sondern merkwürdigen Mischformen
zwischen Institution und Markt. Die Institution Wissenschaft
ist über eine strukturelle Kopplung verbunden mit Wirtschaft
und Markt, wobei die Wirtschaft zugleich als Fördererin
und Verlockerin der Wissenschaft fungiert. Die Wirtschaft
investiert Gelder in Forschung und Entwicklung, lockt aber
auch mit immensen Gewinnen, wenn einer Produktinnovation
Markterfolg beschieden ist. Als Dritte im Bunde spielt die
Politik die Rolle als Förderin der Wirtschaft über
den Weg der Förderung der Wissenschaft: Um Arbeitsplätze
zu schaffen/zu sichern, müsse, so meint man heute allgemein,
in Bildung, Forschung und Entwicklung investiert werden.
Der
hinter den Mauern der Akademia funkelnde Markt lässt
Verhaltensweisen wie großspurige Versprechungen, Aufschneidereien
und das sich Verkaufen bedeutsam werden: Er lockt nicht
nur mit exorbitanten Gewinnen, sondern besteht auch aus
Menschen, welche nicht in der Lage sind, die neuesten wissenschaftlichen
Arbeiten in ihrem Wert und ihrer technisch-wirtschaftlichen
Umsetzbarkeit einzuschätzen.
Somit
erweist sich, dass es Gewinnversprechen sind, welche in
einer historischen Epoche die Möglichkeit der Existenz
von Genies schaffen. Fehlen die exorbitanten Gewinnversprechen
und schätzt man die Arbeit eines Musikers als vergleichbar
ein mit der eines Schneiders, Zuckerbäckers oder Juweliers,
dann gibt es keinen genialen Musiker in der entsprechenden
Gesellschaft. Ist die Gesellschaft hingegen bereit, einzelne
Musiker zu feiern und ihnen einen fast gottgleichen Status
zuzugestehen, dann sind musikalische Genies wie Mozart (aus
der Sicht der Nachwelt) oder Beethoven (aus der Sicht seiner
Zeitgenossen) möglich.
Umgekehrt
ist es nicht die Qualität ihrer Arbeiten, die Mozart
oder Beethoven zu Genies macht. Beethovens Arbeiten verhalfen
ihm zu seiner Zeit zu Geniestatus, Mozarts Arbeiten hingegen
verhalfen ihm in der Gesellschaft seiner Zeit zu keinem
solchen Geniestatus. Ob jemand als Genie gilt, hängt
sehr davon ab, welche Produkte menschlichen Schaffens man
wertschätzen will. Die gesellschaftliche Wertschätzung
hinwiederum hängt mit der Organisation der jeweiligen
Gesellschaft zusammen. Zu Mozarts Zeiten waren weder die
Fürstenhöfe in ausreichendem Maße miteinander
integriert, noch war der freie Musikmarkt ausreichend organisiert,
als dass sich Leistung auf musikalischem Gebiet im Wettstreit
hätte durchsetzen können. Heute hingegen ist die
Barriere zwischen Wissenschaft und Wirtschaft so durchlässig
geworden, dass die Wissenschaft kaum die Gültigkeit
ihrer Regeln im eigenen Feld verteidigen kann.
Das
heißt: Sie kann es schon, und im Normalfall wird ein
Wissenschaftler seine Karriere wohl als eine solche „in
Institutionen“ erleben, d.h. als eine Karriere, die
von der „Enge der Institution“ geprägt
ist, eine Karriere, in der man vom Urteil von Peers und
Türhütern abhängig ist und die insofern auch
Anpassungsleistungen bis hin zu einem devoten Auftreten
nötig machen kann. Aber infolge der strukturellen Kopplung
zwischen Wissenschaft, Markt und Politik existieren für
die WissenschaftlerInnen sowie für die Organisationen,
in denen sie arbeiten, eben auch Verlockungen. Es sind diese
Verlockungen und die mit ihnen verbundenen exorbitanten
Gewinnversprechungen, die dazu führen, dass es heute
Genies gibt, während es zu Mozarts Zeit keine gab.
D.h. es gibt an und für sich keine Genies, es gibt
nur hohe Gewinnversprechungen.
So
erklärt sich das erstaunliche Paradoxon, dass wir heute
Wolfgang Mozart als Genie ansehen, obwohl es zu seiner Zeit
gar keine musikalischen Genies gab, während wir einen
talentierten Jungphysiker als Genie betrachten wollten,
bei dem sich am Ende herausstellte, dass er leider keines
war. Das Paradoxon liegt ganz einfach darin, dass unsere
heutige rationale und wissenschaftliche Zeit eine Geniezeit
ist, obwohl sie auf den ersten Blick nicht nach einer solchen
aussieht. Als aufgeklärte Menschen glauben wir heute
weniger an die Existenz von Wundern und magischen Fähigkeiten
von Personen als das die Menschen zu Mozarts Lebenszeit
noch getan haben, aber auf der anderen Seite haben wir als
Gesellschaft heute einfach ein bestimmtes Kontingent an
Genieplätzen frei, und diese müssen besetzt werden.
Die Nobelpreise werden schließlich jährlich vergeben,
auch wenn in einem Jahr einmal nicht so besonders große
Leistungen zu würdigen wären.
In
Summe führt das dazu, dass unsere Zeit mehr an „Wunderkinder“
glaubt als eine frühere, wundergläubigere Zeit.
Wolfgang Mozart hätte aus dem Grund vielleicht besser
in unsere Zeit gepasst als in seine eigene. Andererseits
erscheint es mir auch unangenehm und unmenschlich, wenn
es so sein sollte, dass wir von unseren Mitmenschen zumindest
Genieleistungen erwarten, damit wir überhaupt bereit
sind, sie in ihren Leistungen wahrzunehmen und anzuerkennen.
Wenn
es Norbert Elias in seinem Mozart-Buch darum ging, uns davor
zu warnen, Neuerern gegenüber verständnislos aufzutreten,
denn es könnte sein, dass sie von späteren Zeiten
als Genies angesehen werden, dann ist das ein schönes
Ziel, das natürlich auch noch heute seine Berechtigung
behält. Demgegenüber erscheint es mir in einer
geniegläubigen Zeit wie der unseren aber auch angebracht,
daran zu erinnern, was ein Genie eigentlich ist: Das soziale
Konstrukt des Genies ist im Grunde nichts anderes als die
Missachtung aller Menschen, die keine Genies sind.
Es
gibt dann noch ein bemerkenswertes Phänomen bei unserer
gegenwärtigen Geniesuche, welches mich an Hegels Aufsatz
„Wer denkt abstrakt?“ (http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr91.htm)
erinnert. Es geht darum, dass die Anzahl an Geniepositionen
in unserer Gesellschaft oder auch die Bemühung, möglichst
große Bevölkerungsgruppen in den Wettstreit um
die verfügbaren Genieposten miteinbeziehen, dazu geführt
hat, dass in zahlreichen Ländern Talenteshows entstanden
sind, die im Fernsehen übertragen werden. Diese eigentümlichen
Veranstaltungen haben gleichermaßen Showcharakter
wie auch den Charakter einer peinlichen Prüfung. Bisweilen
kommt es in ihnen vor, dass wir zu Tränen gerührt
werden, wenn wir bemerken, dass eine dicke oder nicht dem
gesellschaftlichen Schönheitsideal entsprechende Frau
gut singen kann, dass eine ältere Person gut tanzen
kann und Ähnliches. Eben diese unsere Reaktion erinnert
mich an Hegels Aufsatz, in welchem Hegel meint, dass es
die einfachsten und ungebildetsten Menschen seien, die abstrakt
denken, weswegen sie es zum Beispiel unmöglich finden,
dass ein Mörder schön sein kann. Das abstrakte
Denken meint, ein Mörder sei moralisch abstoßend
– also, so schließt es, müsse alles an
ihm abstoßend und hässlich sein, auch seine körperliche
Erscheinung.
Ebenso
verhalten wir uns oft bei unseren Stars und Genies. Es genügt
uns nicht, dass ein Mensch gescheite Gedanken hat, wir fordern
oft auch noch, dass er sie sprachlich geschliffen und mit
angenehmer Stimme auf elegante Weise vor einer großen
Menge von Menschen vortragen kann. Wir akzeptieren eigentlich
kein Genie, wenn es nicht von Vornherein unserem Gesamtbild
von einem Genie entspricht.
Doch
die Stars und Genies in den Talenteshows entsprechen unseren
Genievorstellungen oft nicht. Wir erleben sie dann als normale
Menschen, die eben zufällig besonders gut singen, tanzen
oder sonst etwas können. Und die Tränen rinnen
uns über die Wangen, weil wir nun den Beweis vor uns
haben, dass gewöhnliche Menschen manchmal auch etwas
besonders gut können. Mir scheint, wir weinen dann
weniger deshalb, weil wir von der Leistung des Menschen
auf der Bühne beeindruckt sind, sondern wir weinen
dann über uns selber. Wir beweinen dann unsere Verachtung
für den gewöhnlichen Menschen, die unseren Alltag
prägt.
Was geht hier vor sich? Mir will oft scheinen, dass ihre
Mitmenschen ohne die Präsentation dieses Talents im
Fernsehen, mit Showcharakter, in einem Theater voller Menschen
und mit einer Jury aus Profis aus dem Musik- und Unterhaltungsbusiness
wohl nie bemerkt hätten, dass diese dickliche Frau
gut singt oder jene ältere Person gut tanzt. Wir erkennen
keine Perlen, denen wir auf der Straße begegnen.
Was
Wolfgang Mozart betrifft, so wissen wir, dass er auch nicht
besonders schön war. Doch lässt der Mangel an
authentischen Darstellungen seiner Person unserer Phantasie
viel Raum und uns die Möglichkeit, auch weiterhin das
Wunderkind in ihm zu sehen. Wer weiß, vielleicht erschiene
er uns sonst so wie das Überraschungstalent in einer
unserer Talenteshows: als eine Person, die zwar gut komponieren
und Klavierspielen kann, aber aufgrund des Fehlens weiterer
Talente und physischer Eigenschaften für die öffentliche
Rolle eines Stars oder Genies ungeeignet ist?
1.
September 2014
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