Vom
konkreten Nutzen der Philosophie
Über
den Nutzen von Philosophie zu sprechen fällt mir schwer,
weil Philosophieren für mich so etwas Ähnliches
ist wie Sehen. Auch beim Sehen könnte ich zwar angeben,
welchen konkreten Nutzen es hat – nämlich dass
ich mich im Raum orientiere und nicht auf die Nase falle
– aber ich bin mir eben doch der Tatsache bewusst,
dass ich auch dann die Augen nicht zumachen würde,
wenn das Sehen diese Vorzüge nicht hätte und zwar
deshalb, weil mir das Sehen Spaß macht.
Philosophieren
macht mir auch Spaß, und es macht mir sogar in ähnlicher
Weise Spaß wie das Sehen: Da Sehen für die meisten
von uns Menschen etwas ziemlich Normales ist, empfinden
wir die Freude, die es uns bereitet, nicht so stark –
wohl aber empfinden wir einen ziemlichen Schrecken davor,
das Augenlicht zu verlieren und nicht mehr sehen zu können.
Ähnlich
geht es mir mit dem Philosophieren: Ich bin nicht ununterbrochen
freudedurchpulst, wenn ich philosophiere; aber die Vorstellung,
mit dem Philosophieren aufhören zu müssen, wäre
für mich vergleichbar mit der, in eine dunkle Kiste
hinein steigen und den Rest meines Lebens in ihr eingesperrt
sein zu müssen.
Das bringe ich einleitend vor um herauszustreichen, wie
absurd es ist, jemanden wie mich nach dem Nutzen von Philosophie
zu fragen: Ich brauche keinen Nutzen, weil mir Philosophieren
Spaß macht und insofern selber schon der Nutzen ist.
Fragt man denn jemanden, was der Nutzen des Genusses von
Schokolade ist? Nach einem Nutzen von Philosophie zu fragen,
setzt ja voraus, dass Philosophieren für jemanden eine
Unannehmlichkeit und ein Übel ist und er oder sie aber
bereit ist, dieses Übel zeitweilig in Kauf zu nehmen,
um dadurch ein größeres Gut (Erfolg, Reichtum,
Glück etc.) zu erreichen. Mit einem Wort: Philosophie
als etwas Nützliches zu präsentieren, ist gleichbedeutend
mit, Philosophie als ein Übel zu präsentieren,
was es aber nicht ist.
Dennoch
ist mir klar, dass man den meisten Menschen einen konkreten
Vorteil des Philosophierens angeben muss, weil sie nämlich
gänzlich keinen Zugang zu dieser Tätigkeit des
Philosophierens haben und sich also auch nicht vorstellen
können, dass sie angenehm sein kann. Ich habe lange
darüber nachgedacht, welcher Nutzen der Philosophie
in dieser Hinsicht der bedeutendste sein könnte (denn
das Philosophieren hat, wie das Sehen, durchaus auch einige
konkrete Arten von Nutzen, die man angeben kann) und bin
schließlich auf folgenden Vorschlag gekommen:
Der
konkrete Nutzen von Philosophie (insbesondere in unserer
heutigen Zeit) besteht darin, dass sie uns hilft, die Gedanken
und gedanklichen Konzepte, die man uns in den Kopf gesetzt
hat, da auch wieder hinaus zu bekommen. Von allen Seiten
redet man uns heute Dinge ein, wo aber ist die Disziplin,
die uns hilft, uns diese Sachen auch wieder auszureden?
Wissenschaftler, Politiker, Journalisten und Berater setzen
uns Dinge in den Kopf, mit denen wir dann jahre- und jahrzehntelang
leben müssen, weil wir sie nicht vergessen und auch
nicht wissen, wie wir sie aus unseren Köpfen wieder
hinausschaffen können. Philosophie hinterfragt solche
Gedanken (wie sie alle Gedanken hinterfragt) und ist dadurch
(potentiell, grundsätzlich) imstande, ihnen die Macht
über uns zu nehmen. Das Hinterfragen ist gewissermaßen
die Grundtätigkeit der Philosophie (und nicht das Aufstellen
von gescheiten Theorien, so wie die meisten Menschen glauben;
sondern das Hinterfragen und Zu-Fall-Bringen von Ideen und
Behauptungen). Freilich darf man sich das nicht so vorstellen,
dass man einen Gedanken oder ein bestimmtes Set von Gedanken
einmal hinterfragt und dann bricht es zusammen wie ein Kartenhaus,
da ist oft jahrelanges Arbeiten an diesen Gedanken und an
sich selbst nötig, um einen besonders hartnäckigen
Gedanken wieder aus dem Kopf hinaus zu bringen. Aber es
funktioniert.
Eigentlich
müsste in einer Zeit wie der unsrigen, in der man uns
soviel einzureden versucht, die Philosophie gewaltigen Zulauf
haben, das Problem ist aber: Wie kann man den Leuten klarmachen,
dass es ein Vorteil ist, etwas wieder loszuwerden, das man
einmal erworben hat? Das würde ja bedeuten, dass man
etwas verliert! Auch tut ein schlechter Gedanke nicht weh
in derselben Weise wie ein schlechter Zahn und wir sind
uns oft lange Zeit dessen nicht bewusst, dass wir ihm leiden
(weil wir überhaupt nicht wissen, woran wir leiden)!
Und dennoch sind diese Dinge miteinander vergleichbar: Ein
Gedanke oder auch ein sprachliches Konzept kann über
Jahre hin determinieren, wie wir die Realität erleben.
Er oder es kann ebenso bestimmen, wie wir uns fühlen
(wie wir uns selber wahrnehmen) wie auch welche Handlungsmöglichkeiten
wir für unsere eigene Person sehen. Ein Gedanke, ein
sprachliches Konzept und ein Weltbild können ein Gefängnis
sein – Einzelhaft, unkommunizierbar (obwohl der nächste
Mensch an genau demselben Weltbild leidet und seinerseits
in ihm in Einzelhaft sitzt). Die Hauptfunktion der Philosophie
sehe ich also in ihrer befreienden Wirkung: Es käme
nun darauf an, den Menschen diese befreiende Wirkung auch
zu zeigen.
Zusammenfassend:
Ich denke mir: Es gibt so viele Instanzen, Institutionen
und Menschen, die mit nichts anderem beschäftigt sind,
als uns Ideen in den Kopf setzen – aber welche Disziplin
ist dazu da, um diese Ideen aus unseren Kopf auch wieder
herauszubekommen? Das ist doch auch eine notwendige Aufgabe,
die erfüllt werden muss, und Philosophie ist in der
Lage, sie zu erfüllen. Aber Vorbedingung ist, dass
wir in der Lage sind, es auch als persönlichen Gewinn
oder Fortschritt ansehen zu können, wenn wir einmal
etwas verlieren.
4. Mai 2009
Von
den konkreten Nachteilen des Philosophierens |