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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Von den konkreten Nachteilen des Philosophierens

 

Um es gleich klarzumachen, hinterher erkläre ich es dann: Es gibt vor allem zwei Nachteile:

1. Man erringt dadurch keine ökonomischen Vorteile gegenüber anderen Menschen (Mitbewerbern) und
2. man erwirbt sich dadurch nicht die Anerkennung von Institutionen und Organisationen.

Zur Erklärung:

ad 1) Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, warum die meisten Menschen für philosophische Gedanken unerreichbar sind. Bei diesem Nachdenken bin ich immer wieder an der Struktur unserer Marktwirtschaft vorbeigekommen, und zwar insbesondere bei der Entwicklung der letzten ein, zwei Jahrzehnte. Vor dieser Zeit war es möglich gewesen (z.B. in unserem Sozialstaat Österreich) 38 oder 40 Stunden in der Woche zu arbeiten und das Wochenende oder die Freizeit mit Privatbeschäftigungen zu verbringen, z.B. mit Philosophieren. Das hat sich jetzt langsam aufgehört dadurch, dass die einzelnen Volkswirtschaften immer mehr miteinander konkurrieren und das „lebenslange Lernen“ eingeführt wurde. Anders gesagt, heute gibt es keine Freizeit mehr – oder wenn sich jemand Freizeit bewusst nimmt, dann nimmt er einen Wettbewerbsnachteil im Beruf bewusst in Kauf. (Er sollte anstatt dessen einen Abendkurs besuchen und seinen Wert am Arbeitsmarkt steigern.)

Durch diese Ausbreitung der Wirtschaft auch über die privaten Lebensbereiche und die private, freie Zeit, bleibt ohnehin kein Platz mehr zum Philosophieren. Wenn heute jemand philosophiert, dann ist das wie wenn ein Spieler in einem laufenden Fußballspiel sich plötzlich auf einem Büschel Gras niedersetzt und anfängt nachzudenken. Unser Wirtschaftssystem der Marktwirtschaft ist dieses Fußballspiel, und da es auf 24 Stunden täglich mal 7 Tage in der Woche ausgedehnt worden ist (im Grunde hat es schon vorher so funktioniert, die „Fleißigen“ sollen ja schließlich einen Vorteil haben, aber erst jetzt wird das allgemein deutlich), bleibt kein Ort mehr für die Philosophie.

Es geht mir darum, dass das Philosophieren nicht einfach dem Nichtphilosophieren gegenübersteht oder dem Keine-Lust-Haben-zum-Philosophieren (und dann kann man ja auch noch andere Hobbys haben), sondern: Ein jeder, der philosophiert, hätte eigentlich „Besseres“ zu tun – und das gilt vor allem freilich solange dieser Mensch jung ist seinen Platz in der Welt sowie ein einigermaßen sicheres materielles Einkommen erst finden muss. Von daher ist es auch allzu verständlich, wenn die heutigen Menschen keine Lust haben zu philosophieren, die Organisation der Gesellschaft lässt es eigentlich nicht (außer man nimmt persönliche Nachteile in Kauf) zu. Man kann es folglich – das gebe ich zu – nicht einmal guten Gewissens jemandem anraten, sich mit Philosophie zu beschäftigen: Man sollte sich lieber mit etwas beschäftigen, das sich auf dem Arbeitsmarkt als einträglich erweist.

Aber warum ist das Philosophieren eigentlich im ökonomischen Feld ein solcher Flop? Zwei Antwortversuche:
1. Es wird von den Individuen (Konsumenten) nicht nachgefragt, weil es ihnen keine ökonomischen, beruflichen Vorteile bringt. Diesen Punkt habe ich gerade dargestellt, das Wesentliche an diesem Punkt ist: Die Menschen sehen von ihren eigenen Bedürfnissen ab und beurteilen das Philosophieren nach seinem marktwirtschaftlichen Nutzen, den es natürlich nicht hat.
2. Damit man mit Philosophieren in der Marktwirtschaft Erfolg haben könnte, müsste es von den Konsumenten heftig nachgefragt werden; in dem Fall entstünde bald ein Kreis von Anbietern, in welchem ein jeder darum konkurriert, am besten zu philosophieren (= das beste philosophische Angebot zu haben). D.h. das Philosophieren würde in die Marktwirtschaft integriert. Wenn das wirklich geschähe, wozu es derzeit keinerlei Anzeichen gibt (aber es sind ja allerlei Verrücktheiten möglich in unserer Welt), dann würde man nicht länger aus philosophischen Motiven philosophieren, sondern aus ökonomischen, und die philosophieinteressierten Menschen würden sich höchstwahrscheinlich aufteilen in ein paar professionelle Philosophen und eine große Menge von mehr oder weniger passiven Konsumenten, die sich wie vom Fernsehen berieseln lassen. Mit anderen Worten: Eine nach marktwirtschaftlichen Prinzipien funktionierende Philosophie würde aufhören, Philosophie zu sein.

Es ist also ziemlich aussichtslos, auf ein Überleben der Philosophie in der Marktwirtschaft zu hoffen. Doch nun noch ein paar Worte darüber, wie dieses Desinteresse der Menschen für Philosophie in der Marktwirtschaft überhaupt funktioniert. Es funktioniert nach der Formel: Die Menschen sehen aus wohlverstandenem Eigeninteresse von ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse ab, um sich um ihr wohlverstandenes Eigeninteresse zu kümmern. Das heißt, die Menschen interessieren sich nicht für ihre eigenen Wünsche, Sorgen und Probleme und beschäftigen sich anstatt dessen mit der Marktwirtschaft, um in ihr irgendeinen Vorteil und ein materielles Einkommen zu erreichen. Sie sehen also von ihrem Eigeninteresse ab, um ihr Eigeninteresse zu befriedigen – und ein jeder von uns weiß, dass das in dem Gesellschaftssystem, in dem wir leben, auch absolut notwendig ist. Die Folgen sehen dann so aus, dass z.B. auch ökonomisch erfolgreiche Menschen mit den Jahren nicht mehr wissen, was sie eigentlich wollen – kein Wunder, sie haben sich ja nie damit beschäftigt. Unser Wirtschaftssystem führt also zu Heteronomie (Fremdbestimmung) der Individuen durch deren Wunsch sich selbst zu bestimmen (respektive: sich die ökonomische Grundlage zu schaffen, um sich selbst bestimmen zu können). Die Marktwirtschaft ist überhaupt ein Gesellschaftssystem, welches davon absieht, dass der Mensch altert bzw. krank werden könnte, sodass die damit verbundenen philosophischen Fragen mit aller Gewalt über den Einzelmenschen hereinbrechen, sobald das geschieht. Aber wie hätte er sich mit ihnen auseinandersetzen können, er war ja damit beschäftigt gewesen, in diesem System der Marktwirtschaft erfolgreich zu sein. Anders gesagt, unser bestehendes Wirtschaftssystem ist selbst eine Art philosophische Weltanschauung (wenn auch eine ziemlich primitive), in welcher wesentliche Dimensionen des Menschseins wie Alter und Krankheit ausgeblendet werden. (Das gilt selbst, wenn man diverse Versicherungen und private Pensions-/Rentenvorsorge miteinbezieht, denn diese versprechen ja: „Wenn du nur vorsorgst, wirst du versorgt sein!“ – D.h. sie beziehen die tragische Dimension des Lebens nicht ein.)

ad 2) Nun bin ich aber selbst auch viel zu lange der irrigen Vorstellung aufgesessen, wir lebten in einer Marktwirtschaft. Aber in einer Marktwirtschaft zu leben, würde ja bedeuten, dass wir alle als Einzelmenschen unsere Güter auf den Markt bringen und mit ihnen handeln. Und so verhält es sich ja nicht, wie ein jeder von uns aus eigener Erfahrung weiß: In Wirklichkeit leben und arbeiten wir als Individuen zwischen vielen Institutionen und Organisationen, die viel größer und mächtiger sind als wir – und mit diesen Riesen als Konkurrenten müssen wir uns auch noch am Markt unseres Wirtschaftssystems herumschlagen. Um das in ein Bild zu fassen: Das ist ein bisschen so, wie ein Meer, auf dem Boote mit nur einer Person darin zwischen riesigen Fracht- und Personenschiffen herumrudern. Allein das Bild verursacht ein Gefühl von Horror und Beklemmung: Wie leicht kann es geschehen, dass so ein kleines Ruderboot in das Kielwasser eines dieser Riesen kommt und von ihm gerammt wird? (Aber warum habe ich immer falsch gedacht: Das kommt daher, dass man uns die Sachen immer falsch erzählt, angefangen von den Lehrern in der Schule, über die Medien usw. – und auch ich bin nicht davor gefeit, grundfalsche Vorstellungen zu entwickeln, die ich erst hinterher wieder mühsam korrigieren muss.)

Die Vorstellung, dass wir in einer Marktwirtschaft leben, ist also, wie auch das folgende Zitat sagt, zu erweitern durch jene, dass wir zugleich in einer Gesellschaft leben, die von Organisationen bestimmt wird.

ÖKONOMIEBEGRIFF ERWEITERN UM DIE ORGANISATIONEN

S 45 „In Bezug auf die Marx’sche Theorie gehen wir vor allem von zwei Grundvorstellungen aus: (1.) Die von Marx entwickelte Theorie der kapitalistischen Produktionsweise enthält verallgemeinerbare Kategorien und Theoreme für die Analyse der Funktionsweise der modernen Gesellschaft. (2.) Im Kapitalverhältnis materialisiert sich eine allgemeinere Grundstruktur, die wir als Organisationsverhältnis bezeichnen. Für die Beschreibung moderner Gesellschaft folgt daraus, dass sie nicht (nur) von ihrer Ökonomie im engeren Sinne her verstanden werden kann, vielmehr ist die Konstitution der Ökonomie als ein eigenständiges gesellschaftliches Feld selbst erst der Effekt umfassender gesellschaftlicher Organisation. Es ist daher notwendig, den Ökonomiebegriff weiter zu fassen, um Organisierung als eine bestimmte Ökonomie gesellschaftlicher Regulation und Herrschaft zu verstehen, d.h. als eine bestimmte Allokations-, Akkumulations- und Distributionsweise gesellschaftlicher Güter im weitesten Sinne. Auf dieser Basis könnte man unseren Ansatz eine „Kritik der Politischen Ökonomie der Organisation“ nennen, und zwar in einem doppelten Sinne: gegen einen a-politischen Ökonomiebegriff, der Organisation als neutrale Instrumente zur Erreichung kollektiver Zwecke fasst und für einen politisch-historisierenden Ökonomiebegriff, der Organisationen als zentralen Modus moderner Herrschaft begreift.“

Klaus Türk, Thomas Lemke, Michael Bruch: Organisation in der modernen Gesellschaft. Eine historische Einführung. 2. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006 (2002).

Das heißt, die Marktwirtschaft, wie wir sie jetzt haben, wäre ohne viele, große und mächtige Organisationen gar nicht möglich. Und das wiederum hat zur Konsequenz: Unsere Gesellschaft funktioniert nicht allein nach marktwirtschaftlichen Regeln – und folglich verhalten auch wir Einzelmenschen uns nicht nur gemäß marktwirtschaftlichen Imperativen. Viele werden diese Erfahrung schon gemacht haben: Wenn man sich innerhalb einer großen und mächtigen Organisation befindet, dann muss man vor allem dieser Organisation gefallen und ihre Regeln befolgen, um selbst ökonomisch abgesichert zu sein – vor der ökonomischen Außenwelt, vor dem Markt hingegen ist man durch die Organisation weitgehend abgeschirmt.

Es würde also auch genügen, wenn man ein Versager auf dem Gebiet der Wirtschaft ist, ein Profi auf dem der Organisationen zu sein, um in unserer Gesellschaft zu überleben. Leider verhilft Philosophieren auch dazu nicht. Man kann durch Philosophieren (in unserer heutigen Zeit) nämlich nicht die Anerkennung von Institutionen und Organisationen erringen. Aber wodurch kann man sich denn die Anerkennung von Institutionen und Organisationen erwerben:
1. indem man diesen Institutionen und Organisationen zu ökonomischem Erfolg verhilft (das gilt allgemein, nicht nur für wirtschaftliche Unternehmen, sondern auch darüber hinaus);
2. durch wissenschaftliche Kompetenzen und Leistungen (die dann oft wiederum in ökonomischen Erfolg für die Organisation transformiert werden, womit wir wieder beim allgemeinen Untergrund alles unseres heutigen Handelns angekommen wären; aber grundsätzlich gilt es noch, dass man mit wissenschaftlicher Leistung allein, auch wenn sie sich nicht in verkaufbare technische Produkte umwandeln lässt, bei manchen heutigen Institutionen und Organisationen noch Anerkennung gewinnen kann.
3. Durch Anerkennung von anderen Organisationen. Das ist ein verblüffendes und eigenartiges Phänomen in unserer heutigen Welt: Institutionen und Organisationen tendieren dazu, Menschen Anerkennung zu zollen, die von anderen Institutionen und Organisationen schon Anerkennung erhalten haben. Sie ersparen sich dadurch, diese Menschen selber beurteilen zu müssen. Gleichzeitig wird dadurch deutlich, dass Institutionen und Organisationen vor allem mit anderen Institutionen und Organisationen umgehen – und nicht mit Menschen.
4. Durch Ausbildung (was heute nur noch bei bestimmten Studienfächern funktioniert, denn wir haben bereits viele hochgebildete Akademiker, die auf dem Arbeitsmarkt denselben Status haben wie ungebildete Arbeiter) – aber das ist eigentlich nur eine Mischung aus den Punkten 1-3: Zum einen erhofft sich die Organisation, die einen Menschen mit gediegener Ausbildung einstellt, durch ihn ökonomische Vorteile, zum anderen erkennt sie dadurch eine andere Institution oder Organisation an, nämlich jene, welche ihm seinen Bildungstitel oder sein Diplom verliehen hat.

Wie nun sollte sich die Philosophie, der es darum geht, drängende Lebensfragen tatsächlich zu beantworten, schlagen auf einem Feld, in dem es eigentlich gar nicht mehr darum geht, irgendwelche Fragen noch überhaupt zu beantworten, sondern nur noch darum, irgendwelche bedruckten und gestempelten Bögen Papier zu erwerben (Titel und Diplome), um sich dadurch die Anerkennung von Institutionen und Organisationen zu erringen. Man sieht, das geht nicht.

Was mich aber noch mehr interessiert: Wie soll es die Philosophie anstellen, Anhänger zu finden bei Menschen, die von Institutionen und Organisationen geformt wurden – und das sind z.B. in Österreich oder Deutschland 80-90% der arbeitenden Bevölkerung. Man wird zu der Antwort tendieren: „Ja, aber in Institutionen arbeiten doch auch Menschen, und die Personen, die diese Institutionen oder Organisationen leiten, das sind doch auch Menschen!“ – Ja, das sind sie schon, aber es sind Menschen, die gelernt haben zu denken wie Organisationen, d.h. die aufgehört haben, etwas nach ihrem eigenen Maßstab zu bewerten und die nur noch dasjenige hochschätzen, was auch eine Organisation hochschätzen würde.

Gleich wie im Falle jener Menschen, die sagen, Philosophieren sei zu nichts gut, weil ihnen keinen marktwirtschaftlichen Vorteil bringe, ist aber auch für die organisationsorientierten Menschen Verständnis aufzubringen, denn sie müssen ja von irgendetwas leben. Diese Menschen verhalten sich unmittelbar vernünftig, wenn sie sich mehr für ihren persönlichen Wert auf dem Arbeitsmarkt oder für die Organisationen, mit denen sie Umgang haben, interessieren, als für ihre unmittelbaren (philosophischen) Lebensinteressen. Sie riskieren damit gewiss Selbstentfremdung, Konsumsucht und die Notwendigkeit einer Psychotherapie, aber wenigstens nicht unmittelbar materielle Armut.

Insgesamt: Das bedeutet also, dass Philosophieren heute nur auf der Wertschätzung von Individuen beruht. Das ist allerdings ein reichlich schwaches Fundament. Denn es stellt sich die Frage, ob heutige Individuen überhaupt in der Lage sind (= selbstbewusst genug sind), etwas wertzuschätzen, das von Institutionen nicht wertgeschätzt wird.

Schlussbemerkung

Eine Schlussbemerkung zur Verdeutlichung der Reichweite dessen, wovon hier die Rede ist. Organisationen gab es nicht einfach immer schon, sondern sie begannen um das Jahr 1800 herum zu sprießen und sich heftig zu vermehren. Dieser Prozess heftigen Organisationenwachstums hielt an bis etwa zum Jahr 1900 (womit der Organisationenbildungsprozess aber nicht abgeschlossen ist), seit diesem Zeitpunkt könnte man behaupten, dass unsere Gesellschaft von Organisationen beherrscht wird.

Welche Ursachen hat dieses Organisationenwachstum? Allgemein kann man sagen, dass Organisationen Organisationen nach sich ziehen, sei es dass eine ähnliche Organisation gegründet wird wie eine schon bestehende, um ihr Konkurrenz zu machen, sei es, dass es sich um Gegengründungen handelt (wenn es eine Arbeiterkammer gibt, muss es eine Wirtschaftskammer auch geben), um Dachverbandsgründungen (einzelne Organisationen sind zur Durchsetzung politischer Interessen zu schwach, deshalb braucht es Dachorganisationen, die viele kleinere Organisationen vereinen und vertreten) oder sei es darum, dass Organisationen Probleme schaffen (soziale Probleme, Umweltprobleme...) zu deren Behebung oder Bearbeitung es wiederum (andere) Organisationen braucht.

So in etwa könnte man sich erklären, warum es heute so viele Organisationen gibt. Nun aber der relevante Aspekt für die Philosophie: Eine jede dieser Organisation vertritt die Interessen einer bestimmten Gruppe von Menschen. Die Geprägtheit oder Organisiertheit unserer Gesellschaft durch Organisationen geht dabei soweit, dass man behaupten kann, ein Interesse, das nicht organisierbar ist, also das kein Heim in einer Organisation finden kann, existiert in und für unsere Gesellschaft gar nicht:

WAS SICH NICHT ORGANISIEREN LÄSST, BLEIBT AUF DER STRECKE

S. 137 „Vereine, Verbände und seit den 1860er Jahren dann auch die Parteien werden in dieser Epoche zu den bedeutendsten Medien der gesellschaftlichen Beobachtung, Selektion und Artikulation von Forderungen und Strategien, zur Sammlung von Menschen mit ähnlichen Interessen, zur Differenzierung der Gesellschaft nach organisationalen Zielrichtungen und Binnenstrukturen. Das, was nun öffentlich formulierbar und politisch vertretbar ist, muss durch Form und Medium der Organisation hindurch; was sich nicht organisieren lässt, bleibt von vornherein auf der Strecke, was sich aber organisieren lässt, ist damit noch lange nicht durchsetzbar. Es bildet sich eine organisationale „Superstruktur“, die sich vom sonstigen „materiellen Leben (Braudel 1986b, S. 11. ff.) löst und es durch Strukturvorgaben beherrscht.“

Klaus Türk, Thomas Lemke, Michael Bruch: Organisation in der modernen Gesellschaft. Eine historische Einführung.

Das aber bedeutet unmögliche Bedingungen für die Philosophie, weil Philosophie nicht organisierbar ist. Philosophie ist deshalb nicht organisierbar, weil es ihr um die Interessen und Fragen des Menschen als Menschen geht, Organisationen jedoch kümmern sich immer nur um die Interessen einer bestimmten, durch ein äußerliches oder jedenfalls deutliches Merkmal von anderen Menschen unterschiedenen Menschen (also z.B. Arbeitnehmer, Bauern, Frauen, Homosexuelle, Schachspieler etc.) Philosophie ist somit zu allgemein (die Interessen des Menschen als Menschen) und zugleich zu individualistisch (Menschen existieren als Individuen, will man den Menschen als Menschen wahrnehmen, trifft man als erstes auf das Merkmal der Individualität), um organisierbar zu sein und in Organisationen ihren Platz finden zu können.

Man muss versuchen, sich diesen Gedanken in seiner ganzen Tragweite zu Bewusstsein zu führen: Die Interessen und Bedürfnisse des Menschen als Menschen kommen in der heutigen Gesellschaft gar nicht vor – sie sind durch die Existenz der Organisationen aus der gesellschaftlichen und öffentlichen Realität ausgeschlossen worden. Das bedeutet auch: Wir heutigen Menschen haben tatsächlich gar keinen Bezug zu uns selber, spüren uns nicht, nehmen uns selber nicht wahr. Wir sind höchstens imstande, uns als Mitglieder bestimmter Gruppen oder Träger bestimmter Eigenschaften wahrzunehmen (z.B. Christ, Patient, Schwuler, Rentner etc.) – zu dieser Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung der anderen Menschen hat uns die durch Organisationen geprägte soziale Realität, in der wir unser Leben zubringen, erzogen.


20. Okt. 2009


 

© helmut hofbauer 2009