Die Identitätsfalle
Nacht
der Philosophie 2018
Mittwoch, der 23. Mai 2018, 19:00,
Café Vindobona,
Wallensteinplatz 6,
1200 Wien,
1. Stock
Dieses
Jahr möchte ich mit Euch über ein Konzept sprechen,
das Harry Browne in seinem Buch How
I Became Free in an Unfree World
(1973) formulierte: über die "Identitätsfalle"
("the identity trap").
In
die Identitätsfalle stürzt man
zum Beispiel dann, wenn man jemandem etwas erklärt
in der Hoffnung, der andere Mensch wird es am Ende genauso
sehen wie man selber und darauf ebenso reagieren wie man
selber.
Ursache
der Identitätsfalle: Man hat angenommen, der/die
GesprächspartnerIn ist so wie man selber, hat die gleiche
Identität wie man selber. Man hat ignoriert, dass die
Menschen verschieden sind.
Als
Folgerung aus dieser Idee schlägt
Harry Browne vor: Wenn die Menschen in Deiner Umgebung nicht
so sind, dass Du mit ihnen reden kannst, dann versuche nicht,
sie von etwas zu überzeugen, sondern suche Dir andere
Menschen, mit denen Du dich besser verstehst!
Direkte
/ indirekte Alternative: Unter "indirekter
Alternative" versteht Harry Browne, dass man seine
Ziele indirekt zu erreichen sucht, indem man einen anderen
Menschen überzeugt oder überredet. Browne empfiehlt
immer die "direkte Alternative" der indirekten
vorzuziehen: Was kann ich tun, ohne das ich jemand anderen
dafür um Hilfe bitten muss?
Gnadenlose
Ehrlichkeit: Damit man "seine Leute"
findet, muss man sie an den richtigen Orten suchen. Wenn
man Rocker ist, findet man sie nicht im Kirchenchor. Und
man muss gnadenlos ehrlich sein, damit man von denjenigen
Leuten erkannt wird, die einen so schätzen, wie man
ist.
Ich selbst bin mir nicht ganz sicher, was
ich davon halten soll: Auf der einen Seite habe ich die
Erfahrung auch schon gemacht, dass Menschen nicht mit Worten
umzustimmen sind, wenn sie nicht so sind, dass sie das einsehen
können, was ich ihnen sage. Auf der anderen Seite:
Findet man so leicht neue Leute? Was meint Ihr?
Der
Gruppenmensch
Harry
Brownes Vorschlag besteht darin, neue Bekanntschaften zu
suchen, wenn man mit den bestehenden keine gemeinsamen Interessen
hat.
Was
ist das Gegenteil dieser Strategie? Das Gegenteil ist diejenige
Haltung, die ich als das "Gruppenmenschentum"
bezeichnen würde. Die Gruppenmenschenhaltung besteht
darin, nicht zuerst sich ein Hobby und dann die dazugehörigen
Menschen zu suchen, sondern zuerst zu schauen, welche Menschen
in der Nähe vorhanden sind und sich dann ein Hobby
zu wählen - egal ob es einen persönlich begeistert
oder nicht - das den Zweck hat, mit diesen Menschen etwas
gemeinsam machen zu können.
Am
Land ist die Gruppenmenschenhaltung der Normalfall: Man
lebt in einem kleinen Dorf; also geht man zur Blasmusik,
zum Kirchenchor, zum Fußballklub, ganz einfach weil
es gewöhnlich darüber hinaus kein Angebot gibt.
Der
Vorteil der Gruppenmenschenorientierung ist, dass
man Freunde hat; ihr Nachteil, dass man
Freunde hat, die einem nicht dabei helfen, seine persönlichen
Ziele zu erreichen. Aber das macht nichts, weil man als
Gruppenmensch ohnehin nicht versteht, was persönliche
Ziele sind, und weil man, wenn überhaupt, nur ein persönliches
Ziel hat: Freunde zu haben.
Der
philosophische Mensch
Der
Mensch mit Hang zum philosophischen Lebensstil ist besonders
anfällig für die Identitätsfalle.
Denn sein typisches Reaktionsmuster besteht darin, seine
Gedanken und Handlungen den Anderen möglichst gut erklären
zu wollen und sich zu dem Zweck Sätze und Argumente
zurechtzulegen, von denen er glaubt, dass sie für die
Anderen verständlich und einsichtig sind.
Mit
anderen Worten: Die ganze Philosophie ist eigentlich
ein Hereinfallen auf die Identitätsfalle.
Und wenn Harry Browne recht hat, dann könnte es sich
der philosophische Mensch sparen, seine Überzeugungen
und Gedanken anderen Menschen mitteilen zu wollen.
Andererseits
sind die Menschen mit Hang zur Philosophie aber auch die
perfekte Zielgruppe für Harry Brownes Theorie von der
Identitätsfalle. Denn sie sind gewöhnlich introvertierte
Menschen, die selbst denken. Sobald aber jemand
sich selbst etwas ausgedacht hat, unterscheidet er sich
von der Gruppe und fügt sich nicht mehr widerstandslos
in sie. Gruppenmenschen haben dieses Problem nicht: Sie
entwickeln ihre Individualität nicht, deshalb harmonieren
sie besser mit der Gruppe.
Die
klassische Erzählung vom Philosophen ist,
dass er sich zurückzieht, in der Einsamkeit über
ein Problem na chdenkt und hinterher zurückkommt, um
den anderen Menschen von seinen Einsichten zu erzählen.
Aber wenn man 2+2 zusammenzählt: Wie könnten die
Anderen ihn verstehen? Schließlich hat er sich durch
den Aufenthalt in der Abgeschiedenheit von ihnen entfremdet?
Die
Verzweiflungsfalle ("the despair trap")
Harry
Browne beschreibt in seinem Buch noch andere Fallen, die
aber zum Großteil nur Variationen der Identitätsfalle
sind. Z.B.:
- Die
intellektuelle Falle (= der Glaube, dass
Deine Emotionen sich in einen vorgefassten Standard fügen
sollen);
- Die
emotionale Falle (= der Glaube, dass
Du wichtige Entscheidungen in einem Moment treffen kannst,
in dem Du starke Emotionen fühlst);
- Die
Moralitätsfalle (= der Glaube, dass
du einen Moralcode befolgen sollst, der von jemand anderem
als Dir selber geschaffen worden ist);
- Die
Selbstlosigkeitsfalle (= der Glaube,
dass Du das Glück der Anderen über Dein eigenes
stellen sollst);
- Die
Gruppenfalle (= der Glaube, dass Du mehr
erreichen kannst, wenn du die Verantwortung, die Mühen
und Belohnungen mit anderen teilst als wenn Du allein
handelst)
- Die
Regierungsfalle (= der Glaube, dass es
besser ist, wenn Du Dich mit Deinen Problemen an die Regierung
wendest als dass Du versuchst, sie selbst zu lösen);
- Die
Rechtefalle (= der Glaube, dass Deine
Rechte Dich frei machen werden);
- Die
Utopiefalle (= der Glaube, dass sich
zuerst die Gesellschaft verändern muss, bevor Du
ein freies und glückliches Leben führen kannst);
- Die
brennende Angelegenheiten-Falle (= der
Glaube, dass es dringende soziale Probleme gibt, die Deine
Teilnahme verlangen);
Weitere
Fallen: "the previous-investment trap", "the
box trap" und "the certainty trap".
Am
interessantesten erscheint mir aber in diesem Zusammenhang
die Verzweiflungsfalle ("the despair
trap"). Sie besteht in dem Glauben, dass es
immer falsch ist, egal wie Du es machst, und dass Du Dich
aus dem Grund wie ein Außerirdischer in unserer Welt
fühlst.
Harry
Browne erklärt, dass die Verzweiflungsfalle pure Einbildung
ist. Denn da die Menschen auf unserem Planeten verschieden
sind, ist es unmöglich, dass eine bestimmte
Verhaltensweise in einer bestimmten Situation die Zustimmung
aller findet. Es wird immer Leute geben, die Dich
kritisieren. Du kannst Dich davor nicht schützen, indem
Du versuchst, alles richtig zu machen.
Dazu
würde ich sagen: Wenn Harry Browne recht hat, dann
sind Dir die Reaktionen Deiner Mitmenschen aber auch nicht
hilfreich bei der Entscheidung, ob Du in einer bestimmten
Situation richtig gehandelt hast. Die Last der Entscheidung
ruht dann allein auf Deinen Schultern.
Regeln
für Beziehungen
Ausgehend
von seinem Grundgedanken, dass die Menschen nun mal verschieden
sind, entwickelt Harry Browne drei grundsätzliche Regeln,
an die man sich halten sollte, wenn man Beziehungen zu anderen
Menschen eingeht:
- Denke
nicht von Euch beiden als von einer Gruppe!
Sage niemals "wir"! Behalte immer im Gedächtnis,
dass Ihr zwei verschiedene Menschen seid, dass Ihr nicht
zu einer Einheit verschmelzt und dass Ihr nach wie vor
ein jeder sein eigenes Leben habt!
- Beschränke
Eure Beziehung auf das, was ihr gemeinsam habt! Versuche
also nicht, eure Beziehung auf Euer gesamtes Leben / auf
Euren gesamten Alltag auszuweiten!
- Versuche
nicht, das Fortbestehen einer Beziehung durch einen Vertrag
/ ein Versprechen zu sichern! Eine jede Beziehung
sollte nur solange dauern, als sie vorteilhaft für
beide Parteien ist! (Anmerkung: Regel Nr. 3 ist natürlich
auch gegen die Ehe gerichtet.)
Unsympathische
Menschen
Wenn
ich aber so vorgehe, wie Harry Browne es vorschlägt,
dass ich sage: "Wenn einem Menschen mein Verhalten
nicht passt, dann suche ich mir halt einen anderen Menschen."
- dann bleiben mir keine Verhaltensregeln, an denen ich
mich orientieren kann.
Andererseits
ist es so, dass die eigene Lebenserfahrung zeigt, dass die
"Kindergartenregeln" von der Art: "Wenn du
nett zu anderen Menschen bist, wirst du Freunde haben."
- so auch nicht gelten: Ich habe immer wieder die Erfahrung
gemacht, dass es in den Augen der anderen Menschen nicht
unbedingt gegen ihn spricht, wenn ein Mensch unsympathisch
ist.
Im
Gegenteil, wer freundlich ist, wird von den Anderen ebendeshalb
oft für schwach gehalten. Bei einer Biografie von Steve
Jobs habe ich mir mal gedacht: "Wow, das muss ein unsympathischer
Mensch gewesen sein!" Und bei den gegenwärtigen
Staatsoberhäuptern von einigen europäischen Staaten
denke ich mir bisweilen: "Es scheint so, dass sie,
je unsympathischer sie sich zeigen, desto mehr von ihren
Wählern geliebt werden."
Es
scheint bei der Unsympathizität überhaupt nur
eine Regel zu geben: Man muss sie ganz und überzeugend
und bis zu Ende zu spielen. Denn wenn man nur so ein bisschen,
dann wirkt das ungeschickt. Auch sollte man die Person sein,
um sie spielen zu können: Wer zu wenig laut, aggressiv
oder mächtig ist, um auf den Tisch zu hauen, wird nicht
ernst genommen, wenn er es mal tut.
Dale
Carnegie: Wie man Freunde gewinnt
Ich
habe zu dem Thema ein Fachbuch zur Hand genommen und darin
folgende Geschichte gefunden:
Dale
Carnegie erzählt im Kapitel "Beim Streiten kann
man nur verlieren", wie ihm in London bei einem Bankett
eine "wichtige Lehre erteilt wurde". Er saß
bei dieser Veranstaltung neben einem Herren, der ihm eine
Geschichte erzählte, die sich um das Zitat "...
und das lehr' uns, daß eine Gottheit unsere Zwecke
formt, wie wir sie auch entwerfen." Von diesem Zitat
glaubte der Tischnachbar, dass es auch der Bibel stammt,
aber Carnegie sagte ihm, dass es von Shakespeare ist. Der
Tischnachbar hielt an seiner Meinung fest, worauf sich Carnegie
zu seinem Tischnachbarn auf der anderen Seite wandte, von
dem er wusste, dass er ein Shakespeareexperte war und ihn
bat, dem ersten Tischnachbarn zu bestätigen, dass das
Zitat von Shakespeare sei. Zu seiner Überraschung sagte
der Shakespearexperte: "Dale, du irrst dich. Der Herr
hat recht: Das Zitat stammt aus der Bibel."
Auf
dem Nachhauseweg sagte der Shakepeareexperte zu Carnegie,
dass das Zitat von Shakepeare stammt, Hamlet, fünfter
Akt, zweite Szene, aber dass Carnegie vergessen habe, "dass
wir als Gäste zu diesem Essen eingeladen waren"
und es keinen Sinn mache, "diesem Mann zu beweisen,
dass er im Unrecht ist".
(Siehe:
Dale Carnegie: Wie man Freunde gewinnt. Die Kunst, beliebt
und einflußreich zu werden. Deutscher Bücherbund
GmbH & Co., Stuttgart o.J. S. 143-4.)
Dale
Carnegies Strategie ist anscheinend das genaue Gegenteil
der Strategie von Harry Browne: Man stellt sich nicht selbst
in den Mittelpunkt und schaut, welche Menschen trotzdem
dableiben und einen ertragen wollen, sondern man nimmt sich
zurück und versucht sich an die Anderen anzupassen,
indem man ihnen nach dem Mund redet.
Meine
eigene Erfahrung ist, dass Carnegies Strategie zwar funktioniert,
wenn man sich beliebt machen will, aber
- man
steht dann zwar bei anderen Leuten in Ansehen, aber nicht
als der, der man ist; denn man hat sich ja zurückgehalten;
- es
funktioniert auch nur so lange, als man sich unter Kontrolle
hat und eine Rolle spielt; sobald einem in einem Augenblick
der Müdigkeit oder Unkonzentriertheit einmal auskommt,
was man wirklich denkt, ist die Bekanntschaft zu Ende
- und man bemerkt, wie viel Zeit und Energie man investiert
hat, um eine Beziehung zum Harmonieren zu bringen, die
von allein nicht harmoniert.
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