Warum
ich mit Richard Rortys Philosophiebegriff nicht einverstanden
bin
Anlass
für diesen kurzen Text ist das Email eines Lesers meiner
Homepage, der meine Rezension zu Rortys Buch Kontingenz,
Ironie und Solidarität gelesen und mich überhaupt
nicht verstanden hat. Er meinte sogar, mich der Gruppe der
analytischen Philosophen zurechnen zu müssen und bezichtigte
mich, nicht verstanden zu haben, dass es Rorty um die kreative
Phantasie und um den „strong poet“ gehe. Ich
verstehe natürlich gar nicht, wie man mich nicht verstehen
kann, außer natürlich, man geht mit ziemlich
voreingenommenen Vorstellungen in meine Texte hinein und
liest sie scheuklappenbewehrt durch, indem man nichts anderes
wahrnimmt als diejenigen Themen und wichtigen Punkte, auf
die man selber fixiert ist. Insofern musste ich auch meinem
Kritiker zum Vorwurf machen, dass er die Ebene überhaupt
nicht erwischt hat, auf der sich meine Vision von Rortys
Philosophie manifestiert. (Hätte er jedoch ein wenig
auf den Seiten meiner Homepage herumgelesen, dann hätte
er sie sicher gefunden, denn ich trommle sie ohnehin ununterbrochen,
damit sie wahrgenommen werde – es ist das mein philosophischer/erkenntnistheoretischer
Individualismus.)
Um
ein wenig zu illustrieren, was das bedeuten soll, kommentiere
ich im Folgenden einige Textausschnitte aus der Einleitung
von Richard Rortys Buch Wahrheit und Fortschritt.
Die Einleitung des Buchs genügt tatsächlich, da
ich in ihr genau dieselben Argumentationsweisen gefunden
habe, die mich in Kontingenz, Ironie und Solidarität
auch schon gestört und aufgebracht hatten – und
die auf die Einleitung folgenden einzelnen Aufsätze
sind ja nur eine genauere Explikation dieser grundsätzlichen
Einstellungen Rortys.
Bevor
ich allerdings vorbringe, womit ich bei Rorty nicht übereinstimme,
sage ich vielleicht erst einmal, womit ich übereinstimme
oder womit ich zumindest keine Probleme habe, damit nicht
wieder Vorwürfe aus der komplett verkehrten Richtung
kommen. Also ich habe kein Problem mit Rortys Grundanliegen,
den Begriff der Wahrheit aufzugeben und Erkenntnisse oder
neue Theorien als Fortschritte zu beurteilen, wenn sie sich
als nützlicher erweisen oder irgendetwas in ihnen als
Fortschritt im Vergleich zu einer früheren Theorie
oder Überzeugung erscheint. Und das ist ja doch wohl
der Hauptpunkt: Denn die analytischen Philosophen Nordamerikas
und der größte Teil der kontinentaleuropäischen
Philosophen scheint ja zu meinen, dass die Welt zusammenfällt,
wenn man das tut. Ich meine das nicht; ich meine, dass wir
auf dem Weg zur Wahrheit sind und dass die meisten Menschen
eine Vorstellung von der Wahrheit haben, die wohl glaubt,
es würden Wunderkerzen angezündet und Feuerwerke
brennten ab, wenn wir sie erreichten – anders lässt
sich für mich die unwahrscheinliche Anziehungskraft
nicht erklären, die der Begriff der Wahrheit auf die
meisten Menschen hat.
Zweifellos
hätte Rortys Vorschlag des Ablassens von einem unbedingten
Wahrheitsbegriff auch positive, erstrebenswerte Folgen,
wenn er sich in der Wirklichkeit denn überhaupt durchsetzen
lässt. Die „Hackordnung“ z.B. zwischen
„harten“ und „weichen“ wissenschaftlichen
Fächern, von der Rorty im folgenden Zitat spricht,
ist ein ziemlich jämmerliches Zeugnis unserer Zeit.
Ich frage mich allerdings, warum Rorty nicht bedenkt, dass
derlei Rangeleien und Behauptungen des Vorrangs der eigenen
Disziplin gegenüber den anderen heutzutage eher weniger
von einem festen Begriff der Wahrheit abhängig sind
als von der technischen Produktivität der einzelnen
Wissenschaftszweige. Darauf, die unbedingte, absolute Wahrheit
zu haben, bestehen doch heute eigentlich nur noch Disziplinen,
deren Erkenntnisse sich nicht in technischen Produkten verwerten
lassen, wie z.B. die Literaturwissenschaft.
POSITIVE
FOLGEN VON RORTYS VORSCHLAG
S.
15 „Dieser Vorgang [Anm. H. Hofbauer: dass Deweys
Gedanke, dass es mit dem Objektivitätsbegriff
nichts auf sich habe, was über den Gedanken der
intersubjektiven Übereinstimmung hinausgehe,
weithin Anklang fände] würde Bestrebungen
ein Ende machen, durch die eine Hackordnung zwischen
verschiedenen kulturellen Aktivitäten und Teilen
unseres Lebens hergestellt werden soll. Würden
wir uns beispielsweise von der Kantischen Unterscheidung
zwischen den Bereichen der Erkenntnis, der Moral und
der Ästhetik lossagen, hielte das die „harten“
Wissenschaften davon ab, auf die „weichen“
Wissenschaften herabzusehen; es hielte beide davon
ab, die Künste abschätzig zu betrachten;
und es würde mit den Versuchen Schluß machen,
die Philosophie in den sicheren Gang einer Wissenschaft
zu bringen.“
Richard
Rorty: Wahrheit und Fortschritt. Suhrkamp,
Frankfurt/Main 2003.
|
Ein
ebensolches Drama ist die zurzeit herrschende Spaltung der
Philosophie in „analytische“ (in Nordamerika)
und „kontinentaleuropäische“ Philosophie,
welche dazu führt, dass Anwärter mit den entsprechenden
Qualifikationen in der einen Philosophierichtung eine Universitätsprofessur
bekommen, während sie von der anderen Philosophietradition
nicht einmal als wissenschaftlich oder als philosophisch
anerkannt werden. Und dieser Umstand resultiert natürlich
daraus, dass die analytische Philosophie unbedingt auf Wissenschaft
machen will, was man im folgenden Zitat auch aus den Schwerpunkten
der entsprechenden Ausbildung ("an der vordersten "Front"")
herauslesen kann.
ZUSTAND
DER AKADEMISCHEN PHILOSOPHIE
S.
19-20 „Wird man „analytisch“ geschult,
so wird an dazu angehalten, sich auf die in jeweils
aktuellen Zeitschriftenartikeln von bedeutenden analytischen
Philosophen erörterten Probleme an der vordersten
„Front“ der Wissenschaft zu konzentrieren.
Dabei kann es durchaus vorkommen, daß man seine
philosophiegeschichtlichen Seminare – und vielleicht
auch die Übungen in formaler Logik – als
Ablenkung von dieser Ausbildung betrachtet, als Lehrgegenstände,
die zwar vielleicht der Seele dienen, aber nicht der
eigenen Karriere. [S. 20] Von jemandem, der „kontinentaleuropäisch“
geschult wird, wird erwartet, daß er eine Menge
über die Geschichte der Philosophie lernt und
sich aufgrund seiner Kenntnisse zwischen diversen
Darstellungen entscheidet, von denen die Ereignisse
dieser geschichtlichen Entwicklung in narrativer Weise
miteinander verknüpft werden (beispielsweise
zwischen den Darstellungen von Hegel, Heidegger und
Blumenberg). Wer so ausgebildet wird, hat womöglich
nie einen „analytischen“ Philosophen gelesen,
außer vielleicht Wittgenstein.“ |
Noch
besser gefällt mir, dass Rorty die analytische Philosophie
als auf „verfehlten Vorstellungen“ beruhend
auffasste – und dass er das auch noch gesagt, respektive
geschrieben, hat. Das ist durchaus eine Leistung, die würdig
wäre für den Nobelpreis in Philosophie.
ANALYTISCHE
PHILOSOPHIE ALS VERFEHLTE ENTWICKLUNG
S.
17 „Einer der Vorteile der Befreiung vom Begriff
des inneren Wesens der Realität liegt darin,
daß man sich von der Vorstellung löst,
die Quarks besäßen einen anderen „ontologischen
Rang“ als die Menschenrechte. Dies wiederum
trägt dazu bei, daß man den Vorschlag ablehnen
kann, die Naturwissenschaft solle der übrigen
Kultur als Vorbild dienen und insbesondere bestände
der philosophische Fortschritt darin, daß die
Philosophen immer wissenschaftlicher werden. Diese
zuletzt genannten verfehlten Vorstellungen haben bei
der Entstehung jener geistigen Tradition eine Rolle
gespielt, die heute unter der Bezeichnung „analytische
Philosophie“ bekannt ist.“ |
Anders
wird die Sache aber schon, wenn es um die Frage geht, wie
sich Rorty dieses Ablassen vom traditionellen Wahrheitsbegriff
vorstellt:
AUFHÖREN,
[...] FRAGEN ZU STELLEN
S.
13-14 „Häufig habe ich auch schon folgenden
Ausspruch Deweys angeführt, „daß
Philosophie nichts als Hypothesen anbieten kann, und
[S. 14] daß diese Hypothesen nur von Wert sind,
soweit sie den menschlichen Geist dem ihn umgebenden
Leben gegenüber empfindlicher machen.“
Als Beschreibung jener Tätigkeit, die Männer
wie Platon, Descartes, Kant, Hegel und Dewey selbst
ausgeübt haben, wird diese Kennzeichnung vielleicht
sonderbar. Aber sie wird einleuchtender, sobald man
merkt, daß eine Möglichkeit, für die
Leistungen und Verheißungen der eigenen Zeit
empfänglicher zu werden, darin besteht, daß
man aufhört, in früheren Zeiten formulierte
Fragen zu stellen. Die großen Philosophen des
Abendlands sollte man nicht zu konstruktiven, sondern
zu therapeutischen Zwecken lesen, nämlich als
Autoren, von denen wir erfahren, welche Probleme nicht
erörtert werden sollten: scholastische Probleme
im Fall von Descartes, cartesianische Probleme im
Fall von Kant, kantianische Probleme im Fall von Hegel
und metaphysische Probleme (einschließlich der
durch Hegels Versuch, die innere Geistigkeit der Wirklichkeit
nachzuweisen, aufgeworfenen Probleme) im Fall von
Nietzsche, James und Dewey.“ |
Also
ich lese hier nur eins: Dass man aufhören sollte, Fragen
zu stellen. Genau umkehrt, als wie Rorty es vorschlägt,
wäre es richtig: Die Geschichte der Philosophie können
wir als unerschöpfliches Reservoir betrachten, welche
Fragen man – neben den bekannten, heutigen –
sonst noch stellen kann. Genau darin besteht der Reichtum
der Philosophie und der Vorteil, den sie uns bietet. Wenn
wir alte Fragen nicht mehr stellen, weil wir sie nicht mehr
für zeitgemäß halten, dann büßt
die Philosophie genau den Vorteil ein, den sie eigentlich
anzubieten hätte: Philosophie erweitert den Horizont
– Rorty will ihn im Namen eines angeblichen philosophischen
Fortschritts einschränken. Ärgerlich ist auch,
dass Rorty meint, Philosophen sollte man „zu therapeutischen
Zwecken lesen“ – das würde ja voraussetzen,
dass wir, die wir das tun, krank sind. Wir leiden aber an
keiner anderen „Krankheit“ als am Leben, an
jener „Krankheit“ also, an der ein jeder Mensch
leidet – und Philosophieren ist somit keine Selbsttherapie,
sondern schlicht Auseinandersetzung mit der Welt, die uns
umgibt.
Nächster
Punkt: Ich glaube also auch, dass wir auf dem Weg zur Wahrheit
sind (und keine Ahnung haben, wo sich diese befindet), aber
ich glaube nicht, wie Rorty, dass philosophischer Fortschritt
darin besteht, dass wir die „alten Leitern“
wegwerfen, wie er es im folgenden Zitat insinuiert. Aber:
woher überhaupt diese Fortschrittsfixierung?
WIE
DER FORTSCHRITT IN DER PHILOSOPHIE VONSTATTEN GEHT
S.
14 „Man würde es sich leicht machen, wollte
man behaupten, daß die Aufgabe der Philosophie
darin bestehe, die Menschen davon abzuhalten, mit
Hilfe veralteter und von großen, verstorbenen
Philosophen geerbter Begriffe über die Dinge
nachzudenken, und die Menschen zu überreden,
die unentbehrliche Leiter, auf der unsere Kultur in
der Vergangenheit emporgeklettert ist, wegzuwerfen.
Dennoch macht das bestimmt einen großen Teil
der philosophischen Aufgabe aus.“ |
Im
nächsten Zitat geht es nun schon ums Eingemachte meiner
Differenz zu Rortys Philosophiebegriff. Rorty macht damit
nämlich die Ebene klar, auf der sich sein philosophischer
Fortschrittsbegriff bewegt. Es ist das die kollektive Ebene:
Newton ist besser als Aristoteles, wahrscheinlich weil er
der Menschheit einen Erkenntnisfortschritt gebracht hat,
und die athenische Polis ist besser als die persische Monarchie,
weil sie in moralischer und politischer Hinsicht fortgeschrittener
ist als jene. Was mich hier verwundert, ist, dass Rorty
so eine Art Hegelschen Geschichtsoptimismus pflegt, nur
eben ohne den Begriff der Wahrheit, der für Hegel schon
noch wichtig gewesen ist. Also gewissermaßen nach
dem Motto: Die Wahrheit gibt es nicht mehr, aber wichtig
ist, dass wir alle gemeinsam dort hinkommen.
HEGELS
GESCHICHTSOPTIMISMUS OHNE DEM ZIEL DER WAHRHEIT
S.
16 „Will man diese Vorschläge Deweys weiterführen,
ist es hilfreich, den Fortschritt in der von Thomas
Kuhn betonten Weise aufzufassen und ihn im Sinne der
Fähigkeit zu begreifen, nicht nur die Probleme
unserer Vorfahren zu lösen, sondern auch ein
paar neue Probleme. Nach dieser Erklärung hat
Newton Fortschritte gegenüber Aristoteles erzielt
und Einstein gegenüber Newton, aber keiner von
ihnen ist der Wahrheit oder der eigentlichen Beschaffenheit
der Wirklichkeit nähergekommen als die anderen.
[...] Dementsprechend ist die athenische Polis in
moralischer und politischer Hinsicht fortgeschrittener
als die persische Monarchie, die die Sklaverei abschaffenden
Nationalstaaten im Europa des neunzehnten Jahrhunderts
sind fortgeschrittener als die athenische Polis, und
die Sozialdemokraten der Moderne sind fortgeschrittener
als ihre das Proletariat ins Elend stürzenden
Vorgängerstaaten im neunzehnten Jahrhundert.
Aber keine dieser Gesellschaften ist der FORDERUNG
DER MORALITÄT nähergekommen.“ |
Aus
meiner Sicht hat Rorty im letzten Zitat einfach Gesellschaften
miteinander verglichen, die sich nicht vergleichen lassen:
Man kann nicht eine Welt mit 100 Millionen menschlichen
Bewohnern vergleichen mit einer mit 6 Milliarden Bewohnern
– und auch nicht eine, die meint, dass die Welt flach
sei und bald einmal mit einem großen Wasserfall ende,
mit einer, die Computer und Internet kennt. Da lässt
sich schnell einmal wo ein „Fortschritt“ herauslesen,
wo wir es in Wirklichkeit nur mit veränderten Umständen
der Gesellschaftsorganisation zu tun haben.
Aber
das sind alles nur Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was
jetzt kommt: Rorty meint nämlich, dass Philosophieren
nur die Angelegenheit von ein paar Wenigen ist:
DER
PHILOSOPHISCHE FORTSCHRITT WIRD NUR DURCH WENIGE ERZIELT
S.
18 „Nach der in diesem Band dargelegten Auffassung
von philosophischem Fortschritt schreitet die Philosophie
nicht durch zunehmende wissenschaftliche Strenge voran,
sondern durch mehr Phantasie. Erzielt wird der Fortschritt
auf diesem Gebiet nur von wenigen Generationsangehörigen,
die eine bisher unerkannt gebliebene Möglichkeit
erspähen. Frege und Mill, Russell und Heidegger,
Dewey und Habermas, Davidson und Derrida sind Personen
dieses Schlages. Wir übrigen – die Handlanger,
denen es obliegt, das, was von diesen phantasiebegabten
Bahnbrechern als Abfall erkannt wurde, fortzukehren
und zu entsorgen – erfüllen eine nützliche
soziale Funktion. Wir erledigen die Schmutzarbeit.“ |
Wie
anfangs schon gesagt, ich habe nichts dagegen, dass man
sagt, die Philosophie schreite durch mehr Phantasie voran.
Aus meiner Konzeption von Philosophie heraus habe ich aber
große Probleme damit, dass man sagt, sie werde nur
von ein paar Wenigen in jeder Generation erledigt (und die
Übrigen seien bestenfalls Handlanger, wenn sie so klug
wie Rorty sind, oder bloße Philosophiekonsumenten,
wenn sie nicht so klug wie Rorty sind). Dabei hängt
hier natürlich alles zusammen: Im vorigen Zitat schien
Rorty davon auszugehen, dass die Aufgabe der Philosophie
darin bestünde, die Probleme der Menschheit zu lösen
und eine gerechte, moralische Gesellschaft hervorzubringen.
Deshalb beschrieb er den historischen Fortschritt auch in
der Weise, wie er das tat. Nun sucht er große Männer
(oder Frauen), die diesen historischen, gesellschaftsweiten
Fortschritt durch die Philosophie auch herbeiführen
können. Da ist es klar, dass das jeweils nur ein paar
Wenige pro Generation sein können.
Mein
Philosophieverständnis ist ein anderes: Ich glaube
nicht, dass Philosophie dazu gut ist, um der Menschheit
einen Fortschritt zu bringen, sondern Philosophieren tut
man, um selber nicht zu verzweifeln. Philosophie stellt
auf Lebensweisheit ab und ist deshalb unabdingbar an die
individuelle Perspektive gebunden. Somit definiere ich Philosophie
auch als individuelle Welterkenntnis im Gegensatz zur Wissenschaft,
die eine kollektive Welterkenntnis ist. Das entwürdigt
die Philosophie nicht, denn Leuten, die behaupten würden,
man nehme der Philosophie ihre Würde, wenn man sie
nicht mehr allgemeingültige Wahrheit (oder, im Fall
von Rorty, allgemeingültigen Fortschritt) produzieren
lasse, würde ich den Gegenvorwurf entgegenschleudern,
dass man die Menschheit nicht ehrt, wenn man sie nicht in
einem jeden einzelnen Menschen ehrt. Daraus folgt, dass
für die Philosophie die Probleme der Menschheit tatsächlich
um nichts wichtiger sind als diejenigen des einzelnen Menschen
– und es ist Albert Camus zuzustimmen, wenn er zu
Beginn seines Buchs Der Mythos von Sisyphos, meinte,
das größte philosophische Problem sei die Frage,
warum man sich nicht umbringen solle. Letzten Endes philosophiert
man ja nicht darum, um die Welt zu retten, sondern darum,
um sich nicht täglich ansaufen zu müssen.
Nun
glaube ich, mit diesen Ausführungen schon einen Hinweis
darauf gegeben zu haben, warum mir Rorty, bei meiner Konzeption
von Philosophie, wenig weiterhilft: Er redet andauernd von
den falschen Sachen, legt Wert auf die falschen Punkte,
bewegt sich fortwährend auf der kollektiven Ebene und
berührt die individuelle Ebene nicht einmal. Doch nun
wird es noch dramatischer: Beim folgenden Zitat habe ich
mir notiert: „Warum UNS alles in einem neuen Blickwinkel
sehen zu lassen?“
UNS
EINEN NEUEN BLICKWINKEL ERÖFFNEN
S.
20-21 „Aber auch der erfolgreichste Synkretismus
[Anm. H. Hofbauer: Rorty bezeichnet damit seine eigene
Tätigkeit] kann nicht hoffen, es den wahrhaft
heroischen philosophischen Leistungen gleichzutun,
denen es gelingt, uns alles aus einem neuen Blickwinkel
sehen zu lassen und einen Gestaltwechsel auszulösen.
Einen solchen Wechsel herbeizuführen, ist die
schwierigste und [S. 21] seltenste philosophische
Errungenschaft.“ |
Philosophie
besteht nämlich meiner Ansicht nach nicht darin, uns
etwas in einem neuen Blickwinkel zu zeigen, sondern mir.
Aber der Grund, warum ich das so sehr betone, ist, dass
wir hier schon auf dem Weg zu Rortys Geniekult sind. Dieser
ist gewissermaßen die andere Seite seines erkenntnistheoretischen
Kollektivismus: Einige große Männer (oder Frauen)
lassen uns alles aus einem anderen Blickwinkel sehen. Eine
solche Vorstellung zeugt doch auch viel davon, wie man sich
das Wesen und die Aufgabe der Philosophie vorstellt: Für
meine individualistische Philosophiekonzeption gilt als
einer der obersten Grundsätze: Philosophieren kann
man nicht delegieren! Ich habe nämlich nichts davon,
wenn mir anderer, ein großer Philosoph, die Welt in
einem anderen Licht zeigt, wenn ich seine Gedanken nicht
nachvollziehe. Wenn ich sie aber nachvollziehe, dann habe
ich selber philosophiert und bin ein ebenso großer
Philosoph wie er. Das ist aber nicht der wahrscheinlichste
Fall: Der wahrscheinlichste Fall ist, dass ich die Ideen
von Kant beispielsweise durchaus schon verstehen könnte,
dass ich aber sehr schnell bemerke, dass sie nicht die Antworten
auf meine Fragen darstellen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit,
selber zu philosophieren. Beziehungsweise ergibt sich daraus
meine Frage: Wie schafft es Rorty sich vorzustellen, dass
einzelne Philosophen eine große philosophische Leistung
für den Rest der Menschheit vollbringen und dass dieser
Rest der Menschheit diese große philosophische Leistung
gleichsam passiv übernimmt, aufnimmt, lernt oder zur
Kenntnis nimmt? Die Wahrheit ist die umgekehrte: Wenn ein
großer Philosoph eine großartige neue Philosophie
vorlegt, dann lässt uns diese nicht die Welt aus einem
neuen Blickwinkel sehen, sondern dann geschieht genau nichts
– denn es ist ja nur das Werk da, und solang sich
niemand lesend, reflektierend daran abmüht, geschieht
exakt nichts.
RORTYS
GENIEKULT
S.
21 „Wer die Vorstellung fallen
läßt, die Philosophie steuere auf die Wahrheit
zu, und sich der Deutung Deweys anschließt,
schätzt die Phantasie höher als die Fähigkeit
zu argumentativer Auseinandersetzung und gibt dem
Genie Vorrang vor der professionellen Arbeit.“
|
Mit
diesem Zitat sind wir nun tatsächlich bei Rortys Geniekult
angekommen, welcher wirklich der schlimmste Aspekt seiner
Philosophiekonzeption für mich ist. Denn aus der Sicht
meiner Philosophiekonzeption ist die Bewunderung des Genies
das Absolute Ende des Philosophierens. In dem Fall denke
ich nämlich, dass ich zu schlecht bin für das
Philosophieren, weil das ein anderer besser kann, und dass
ich es ihm aus diesem Grund überlassen soll. Und dann
höre ich auf zu philosophieren. Es ist also das Aufhören,
das absolute Ende der Philosophie. Denn, wie ich schon angedeutet
habe, aus der Sicht einer individuellen Philosophiekonzeption
ist nichts philosophiert, das ich nicht selber philosophiert
habe. Und es ist nur dadurch philosophiert, dass ich es
selber philosophiert habe. Ob ich es gut mache oder nicht,
tut dabei nichts zur Sache, denn ich werde ohnehin mit den
Ergebnissen meines Philosophierens leben müssen. Umgekehrt
kann niemand für mich philosophieren. Rorty hingegen
ersetzt das eigenständige Philosophieren durch die
romantische Bewunderung der großen Philosophen. Dabei
spricht er doch die ganze Zeit vom „Fortschritt“
– soll er doch zurückgehen in die Romantik, ins
19. Jahrhundert, in dem der Geniekult entstanden ist.
Das
folgende Zitat Rortys gehört bereits zu jenem Teil,
in welchem er die einzelnen Aufsätze des Bandes beschreibt.
Irritierend in ihm ist das Ziel der angekündigten Aufsatzgruppe,
nämlich dasjenige, „andere davon abzuhalten“,
sich mit dem Thema Wahrheit zu beschäftigen. Das ist
ein im höchsten Grade unphilosophisches Anliegen. Man
kann durchaus nachweisen wollen, dass ein anderer Philosoph
Unrecht hat – das tue ich auch die ganze Zeit (und
das ist auch immer wieder notwendig, denn oft muss man sich
einfach gegen die Gedanken anderer Menschen wehren, um selber
denken zu können; aber man tut das nicht, um damit
zu sagen, diese Gedanken seien an und für sich und
für die ganze Menschheit nichts wert) -, aber das macht
seine Gedanken nicht weniger interessant und nicht weniger
wert, sich mit ihnen zu beschäftigen. Philosophisch
wäre es immer, die Sinnhaftigkeit der Auseinandersetzung
mit den Fragen anderer Philosophen zu erklären, auch
wenn es sich um alte philosophische Fragen handelt; unphilosophisch
ist es, die Leute vom Denken abzuhalten.
ZIEL:
ANDERE DAVON ABZUHALTEN...
S.
21-22 „Im ersten Teil dieses Bandes („Wahrheit:
Einige Philosophen“) gehe [S. 22] ich auf einige
Äußerungen heutiger Philosophen zum Thema
Wahrheit ein. [...] Der Ton dieser Aufsätze ist
nicht konstruktiv, sondern despektierlich: Verworfen
werden diverse Fragestellungen und Auseinandersetzungen,
da sie zu keinem Ziel führen. Es wird kein philosophisches
Forschungsprogramm vorgeschlagen, sondern statt dessen
werden verschiedene Forschungsprogramme kritisiert,
weil sie einer verfehlten Konzeption entspringen.
Die Äußerungen einiger Philosophen zum
Thema Wahrheit werden in der Hoffnung aufgegriffen,
andere davon abzuhalten, diesem recht unersprießlichen
Thema weiter Aufmerksamkeit zu schenken.“ |
Am
Schluss wieder ein Punkt, bei dem ich mit Rorty doch teilweise
übereinstimmen kann. Auch ich halte Romane für
gute Hilfsmittel in der moralischen Bildung der Menschen.
Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das aus dem gleichen
Grund tue wie Rorty. Sicherlich ist es richtig, dass Romane
die menschliche Handlungsphantasie entwickeln helfen, aber
warum oder wie tun sie es? Meine Antwort auf diese Frage
wäre, dass Romane ganz einfach einen viel größeren
Reichtum an Beobachtungen und Inhaltsebenen enthalten als
moralphilosophische Traktate. Das könnte man sicherlich
auch am Reichtum des Vokabulars nachweisen. In moralphilosophischen
Traktaten z.B. kommen gewöhnlich all die Dinge, die
man im Haushalt verwendet, gar nicht vor. Der Traktatschreiber
würde auch meinen, dass sie gar nicht relevant sind.
Sind sie aber, es kommt nämlich bei der Moral drauf
an, wie man sie ins tatsächlich gelebte Leben integriert.
Darüber sagen moralphilosophische Traktate fast gar
nichts, und Romane reden von nichts anderem, selbst wenn
sie Ethik oder Moral gar nicht ausdrücklich thematisieren.
In dem Zusammenhang würde ich aber einen weiteren Schluss
ziehen wollen: Daraus ergibt sich, dass die allermeisten
philosophischen Bücher über Moral schlecht geschrieben
sind, dass sie ihr Thema schlecht erzählen. Ein gutes
philosophisches Buch sollte nämlich wie ein Roman sein
oder wie eine Erzählung: Es sollte uns wie ein literarisches
Werk alle sinnlichen Inhalte und solche des alltäglichen
Lebens anbieten, die es uns ermöglichen, die Verbindung
zwischen allgemeinen Ideen und unserem eigenen Handeln und
Verhalten herzustellen.
ROMANE
ALS NÜTZLICHSTE HILFSMITTEL ZUR MORALISCHEN BILDUNG
S.
23 „In anderen Aufsätzen (über Feminismus
und über kulturelle Verschiedenheit) nenne ich
Argumente dafür, daß es keine deutlichere
Vorstellung von unseren moralischen Verpflichtungen,
sondern die Phantasie ist, die am meisten zur Schaffung
und zur Stabilität solcher Gemeinschaften beiträgt.
Diese letztere These steht völlig im Einklang
mit meiner in früheren Schriften zum Ausdruck
gebrachten Anschauung, Romane – und nicht moralphilosophische
Abhandlungen – seien die nützlichsten Hilfsmittel
der moralischen Bildung.“ |
Man
sieht hier, wie Rorty aus seiner kollektiven Fortschrittskonzeption
heraus, die Philosophie gegenüber der Literatur abwertet;
ich aus meiner individuellen Philosophiekonzeption heraus
würde die Literatur gegenüber der Philosophie
aufwerten.
13. Oktober 2009
|