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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Warum ich mit Richard Rortys Philosophiebegriff nicht einverstanden bin

 

Anlass für diesen kurzen Text ist das Email eines Lesers meiner Homepage, der meine Rezension zu Rortys Buch Kontingenz, Ironie und Solidarität gelesen und mich überhaupt nicht verstanden hat. Er meinte sogar, mich der Gruppe der analytischen Philosophen zurechnen zu müssen und bezichtigte mich, nicht verstanden zu haben, dass es Rorty um die kreative Phantasie und um den „strong poet“ gehe. Ich verstehe natürlich gar nicht, wie man mich nicht verstehen kann, außer natürlich, man geht mit ziemlich voreingenommenen Vorstellungen in meine Texte hinein und liest sie scheuklappenbewehrt durch, indem man nichts anderes wahrnimmt als diejenigen Themen und wichtigen Punkte, auf die man selber fixiert ist. Insofern musste ich auch meinem Kritiker zum Vorwurf machen, dass er die Ebene überhaupt nicht erwischt hat, auf der sich meine Vision von Rortys Philosophie manifestiert. (Hätte er jedoch ein wenig auf den Seiten meiner Homepage herumgelesen, dann hätte er sie sicher gefunden, denn ich trommle sie ohnehin ununterbrochen, damit sie wahrgenommen werde – es ist das mein philosophischer/erkenntnistheoretischer Individualismus.)

Um ein wenig zu illustrieren, was das bedeuten soll, kommentiere ich im Folgenden einige Textausschnitte aus der Einleitung von Richard Rortys Buch Wahrheit und Fortschritt. Die Einleitung des Buchs genügt tatsächlich, da ich in ihr genau dieselben Argumentationsweisen gefunden habe, die mich in Kontingenz, Ironie und Solidarität auch schon gestört und aufgebracht hatten – und die auf die Einleitung folgenden einzelnen Aufsätze sind ja nur eine genauere Explikation dieser grundsätzlichen Einstellungen Rortys.

Bevor ich allerdings vorbringe, womit ich bei Rorty nicht übereinstimme, sage ich vielleicht erst einmal, womit ich übereinstimme oder womit ich zumindest keine Probleme habe, damit nicht wieder Vorwürfe aus der komplett verkehrten Richtung kommen. Also ich habe kein Problem mit Rortys Grundanliegen, den Begriff der Wahrheit aufzugeben und Erkenntnisse oder neue Theorien als Fortschritte zu beurteilen, wenn sie sich als nützlicher erweisen oder irgendetwas in ihnen als Fortschritt im Vergleich zu einer früheren Theorie oder Überzeugung erscheint. Und das ist ja doch wohl der Hauptpunkt: Denn die analytischen Philosophen Nordamerikas und der größte Teil der kontinentaleuropäischen Philosophen scheint ja zu meinen, dass die Welt zusammenfällt, wenn man das tut. Ich meine das nicht; ich meine, dass wir auf dem Weg zur Wahrheit sind und dass die meisten Menschen eine Vorstellung von der Wahrheit haben, die wohl glaubt, es würden Wunderkerzen angezündet und Feuerwerke brennten ab, wenn wir sie erreichten – anders lässt sich für mich die unwahrscheinliche Anziehungskraft nicht erklären, die der Begriff der Wahrheit auf die meisten Menschen hat.

Zweifellos hätte Rortys Vorschlag des Ablassens von einem unbedingten Wahrheitsbegriff auch positive, erstrebenswerte Folgen, wenn er sich in der Wirklichkeit denn überhaupt durchsetzen lässt. Die „Hackordnung“ z.B. zwischen „harten“ und „weichen“ wissenschaftlichen Fächern, von der Rorty im folgenden Zitat spricht, ist ein ziemlich jämmerliches Zeugnis unserer Zeit. Ich frage mich allerdings, warum Rorty nicht bedenkt, dass derlei Rangeleien und Behauptungen des Vorrangs der eigenen Disziplin gegenüber den anderen heutzutage eher weniger von einem festen Begriff der Wahrheit abhängig sind als von der technischen Produktivität der einzelnen Wissenschaftszweige. Darauf, die unbedingte, absolute Wahrheit zu haben, bestehen doch heute eigentlich nur noch Disziplinen, deren Erkenntnisse sich nicht in technischen Produkten verwerten lassen, wie z.B. die Literaturwissenschaft.

POSITIVE FOLGEN VON RORTYS VORSCHLAG

S. 15 „Dieser Vorgang [Anm. H. Hofbauer: dass Deweys Gedanke, dass es mit dem Objektivitätsbegriff nichts auf sich habe, was über den Gedanken der intersubjektiven Übereinstimmung hinausgehe, weithin Anklang fände] würde Bestrebungen ein Ende machen, durch die eine Hackordnung zwischen verschiedenen kulturellen Aktivitäten und Teilen unseres Lebens hergestellt werden soll. Würden wir uns beispielsweise von der Kantischen Unterscheidung zwischen den Bereichen der Erkenntnis, der Moral und der Ästhetik lossagen, hielte das die „harten“ Wissenschaften davon ab, auf die „weichen“ Wissenschaften herabzusehen; es hielte beide davon ab, die Künste abschätzig zu betrachten; und es würde mit den Versuchen Schluß machen, die Philosophie in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen.“

Richard Rorty: Wahrheit und Fortschritt. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003.

Ein ebensolches Drama ist die zurzeit herrschende Spaltung der Philosophie in „analytische“ (in Nordamerika) und „kontinentaleuropäische“ Philosophie, welche dazu führt, dass Anwärter mit den entsprechenden Qualifikationen in der einen Philosophierichtung eine Universitätsprofessur bekommen, während sie von der anderen Philosophietradition nicht einmal als wissenschaftlich oder als philosophisch anerkannt werden. Und dieser Umstand resultiert natürlich daraus, dass die analytische Philosophie unbedingt auf Wissenschaft machen will, was man im folgenden Zitat auch aus den Schwerpunkten der entsprechenden Ausbildung ("an der vordersten "Front"") herauslesen kann.

ZUSTAND DER AKADEMISCHEN PHILOSOPHIE

S. 19-20 „Wird man „analytisch“ geschult, so wird an dazu angehalten, sich auf die in jeweils aktuellen Zeitschriftenartikeln von bedeutenden analytischen Philosophen erörterten Probleme an der vordersten „Front“ der Wissenschaft zu konzentrieren. Dabei kann es durchaus vorkommen, daß man seine philosophiegeschichtlichen Seminare – und vielleicht auch die Übungen in formaler Logik – als Ablenkung von dieser Ausbildung betrachtet, als Lehrgegenstände, die zwar vielleicht der Seele dienen, aber nicht der eigenen Karriere. [S. 20] Von jemandem, der „kontinentaleuropäisch“ geschult wird, wird erwartet, daß er eine Menge über die Geschichte der Philosophie lernt und sich aufgrund seiner Kenntnisse zwischen diversen Darstellungen entscheidet, von denen die Ereignisse dieser geschichtlichen Entwicklung in narrativer Weise miteinander verknüpft werden (beispielsweise zwischen den Darstellungen von Hegel, Heidegger und Blumenberg). Wer so ausgebildet wird, hat womöglich nie einen „analytischen“ Philosophen gelesen, außer vielleicht Wittgenstein.“

Noch besser gefällt mir, dass Rorty die analytische Philosophie als auf „verfehlten Vorstellungen“ beruhend auffasste – und dass er das auch noch gesagt, respektive geschrieben, hat. Das ist durchaus eine Leistung, die würdig wäre für den Nobelpreis in Philosophie.

ANALYTISCHE PHILOSOPHIE ALS VERFEHLTE ENTWICKLUNG

S. 17 „Einer der Vorteile der Befreiung vom Begriff des inneren Wesens der Realität liegt darin, daß man sich von der Vorstellung löst, die Quarks besäßen einen anderen „ontologischen Rang“ als die Menschenrechte. Dies wiederum trägt dazu bei, daß man den Vorschlag ablehnen kann, die Naturwissenschaft solle der übrigen Kultur als Vorbild dienen und insbesondere bestände der philosophische Fortschritt darin, daß die Philosophen immer wissenschaftlicher werden. Diese zuletzt genannten verfehlten Vorstellungen haben bei der Entstehung jener geistigen Tradition eine Rolle gespielt, die heute unter der Bezeichnung „analytische Philosophie“ bekannt ist.“

Anders wird die Sache aber schon, wenn es um die Frage geht, wie sich Rorty dieses Ablassen vom traditionellen Wahrheitsbegriff vorstellt:

AUFHÖREN, [...] FRAGEN ZU STELLEN

S. 13-14 „Häufig habe ich auch schon folgenden Ausspruch Deweys angeführt, „daß Philosophie nichts als Hypothesen anbieten kann, und [S. 14] daß diese Hypothesen nur von Wert sind, soweit sie den menschlichen Geist dem ihn umgebenden Leben gegenüber empfindlicher machen.“
Als Beschreibung jener Tätigkeit, die Männer wie Platon, Descartes, Kant, Hegel und Dewey selbst ausgeübt haben, wird diese Kennzeichnung vielleicht sonderbar. Aber sie wird einleuchtender, sobald man merkt, daß eine Möglichkeit, für die Leistungen und Verheißungen der eigenen Zeit empfänglicher zu werden, darin besteht, daß man aufhört, in früheren Zeiten formulierte Fragen zu stellen. Die großen Philosophen des Abendlands sollte man nicht zu konstruktiven, sondern zu therapeutischen Zwecken lesen, nämlich als Autoren, von denen wir erfahren, welche Probleme nicht erörtert werden sollten: scholastische Probleme im Fall von Descartes, cartesianische Probleme im Fall von Kant, kantianische Probleme im Fall von Hegel und metaphysische Probleme (einschließlich der durch Hegels Versuch, die innere Geistigkeit der Wirklichkeit nachzuweisen, aufgeworfenen Probleme) im Fall von Nietzsche, James und Dewey.“

Also ich lese hier nur eins: Dass man aufhören sollte, Fragen zu stellen. Genau umkehrt, als wie Rorty es vorschlägt, wäre es richtig: Die Geschichte der Philosophie können wir als unerschöpfliches Reservoir betrachten, welche Fragen man – neben den bekannten, heutigen – sonst noch stellen kann. Genau darin besteht der Reichtum der Philosophie und der Vorteil, den sie uns bietet. Wenn wir alte Fragen nicht mehr stellen, weil wir sie nicht mehr für zeitgemäß halten, dann büßt die Philosophie genau den Vorteil ein, den sie eigentlich anzubieten hätte: Philosophie erweitert den Horizont – Rorty will ihn im Namen eines angeblichen philosophischen Fortschritts einschränken. Ärgerlich ist auch, dass Rorty meint, Philosophen sollte man „zu therapeutischen Zwecken lesen“ – das würde ja voraussetzen, dass wir, die wir das tun, krank sind. Wir leiden aber an keiner anderen „Krankheit“ als am Leben, an jener „Krankheit“ also, an der ein jeder Mensch leidet – und Philosophieren ist somit keine Selbsttherapie, sondern schlicht Auseinandersetzung mit der Welt, die uns umgibt.

Nächster Punkt: Ich glaube also auch, dass wir auf dem Weg zur Wahrheit sind (und keine Ahnung haben, wo sich diese befindet), aber ich glaube nicht, wie Rorty, dass philosophischer Fortschritt darin besteht, dass wir die „alten Leitern“ wegwerfen, wie er es im folgenden Zitat insinuiert. Aber: woher überhaupt diese Fortschrittsfixierung?

WIE DER FORTSCHRITT IN DER PHILOSOPHIE VONSTATTEN GEHT

S. 14 „Man würde es sich leicht machen, wollte man behaupten, daß die Aufgabe der Philosophie darin bestehe, die Menschen davon abzuhalten, mit Hilfe veralteter und von großen, verstorbenen Philosophen geerbter Begriffe über die Dinge nachzudenken, und die Menschen zu überreden, die unentbehrliche Leiter, auf der unsere Kultur in der Vergangenheit emporgeklettert ist, wegzuwerfen. Dennoch macht das bestimmt einen großen Teil der philosophischen Aufgabe aus.“

Im nächsten Zitat geht es nun schon ums Eingemachte meiner Differenz zu Rortys Philosophiebegriff. Rorty macht damit nämlich die Ebene klar, auf der sich sein philosophischer Fortschrittsbegriff bewegt. Es ist das die kollektive Ebene: Newton ist besser als Aristoteles, wahrscheinlich weil er der Menschheit einen Erkenntnisfortschritt gebracht hat, und die athenische Polis ist besser als die persische Monarchie, weil sie in moralischer und politischer Hinsicht fortgeschrittener ist als jene. Was mich hier verwundert, ist, dass Rorty so eine Art Hegelschen Geschichtsoptimismus pflegt, nur eben ohne den Begriff der Wahrheit, der für Hegel schon noch wichtig gewesen ist. Also gewissermaßen nach dem Motto: Die Wahrheit gibt es nicht mehr, aber wichtig ist, dass wir alle gemeinsam dort hinkommen.

HEGELS GESCHICHTSOPTIMISMUS OHNE DEM ZIEL DER WAHRHEIT

S. 16 „Will man diese Vorschläge Deweys weiterführen, ist es hilfreich, den Fortschritt in der von Thomas Kuhn betonten Weise aufzufassen und ihn im Sinne der Fähigkeit zu begreifen, nicht nur die Probleme unserer Vorfahren zu lösen, sondern auch ein paar neue Probleme. Nach dieser Erklärung hat Newton Fortschritte gegenüber Aristoteles erzielt und Einstein gegenüber Newton, aber keiner von ihnen ist der Wahrheit oder der eigentlichen Beschaffenheit der Wirklichkeit nähergekommen als die anderen. [...] Dementsprechend ist die athenische Polis in moralischer und politischer Hinsicht fortgeschrittener als die persische Monarchie, die die Sklaverei abschaffenden Nationalstaaten im Europa des neunzehnten Jahrhunderts sind fortgeschrittener als die athenische Polis, und die Sozialdemokraten der Moderne sind fortgeschrittener als ihre das Proletariat ins Elend stürzenden Vorgängerstaaten im neunzehnten Jahrhundert. Aber keine dieser Gesellschaften ist der FORDERUNG DER MORALITÄT nähergekommen.“

 

Aus meiner Sicht hat Rorty im letzten Zitat einfach Gesellschaften miteinander verglichen, die sich nicht vergleichen lassen: Man kann nicht eine Welt mit 100 Millionen menschlichen Bewohnern vergleichen mit einer mit 6 Milliarden Bewohnern – und auch nicht eine, die meint, dass die Welt flach sei und bald einmal mit einem großen Wasserfall ende, mit einer, die Computer und Internet kennt. Da lässt sich schnell einmal wo ein „Fortschritt“ herauslesen, wo wir es in Wirklichkeit nur mit veränderten Umständen der Gesellschaftsorganisation zu tun haben.

Aber das sind alles nur Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was jetzt kommt: Rorty meint nämlich, dass Philosophieren nur die Angelegenheit von ein paar Wenigen ist:

DER PHILOSOPHISCHE FORTSCHRITT WIRD NUR DURCH WENIGE ERZIELT

S. 18 „Nach der in diesem Band dargelegten Auffassung von philosophischem Fortschritt schreitet die Philosophie nicht durch zunehmende wissenschaftliche Strenge voran, sondern durch mehr Phantasie. Erzielt wird der Fortschritt auf diesem Gebiet nur von wenigen Generationsangehörigen, die eine bisher unerkannt gebliebene Möglichkeit erspähen. Frege und Mill, Russell und Heidegger, Dewey und Habermas, Davidson und Derrida sind Personen dieses Schlages. Wir übrigen – die Handlanger, denen es obliegt, das, was von diesen phantasiebegabten Bahnbrechern als Abfall erkannt wurde, fortzukehren und zu entsorgen – erfüllen eine nützliche soziale Funktion. Wir erledigen die Schmutzarbeit.“

Wie anfangs schon gesagt, ich habe nichts dagegen, dass man sagt, die Philosophie schreite durch mehr Phantasie voran. Aus meiner Konzeption von Philosophie heraus habe ich aber große Probleme damit, dass man sagt, sie werde nur von ein paar Wenigen in jeder Generation erledigt (und die Übrigen seien bestenfalls Handlanger, wenn sie so klug wie Rorty sind, oder bloße Philosophiekonsumenten, wenn sie nicht so klug wie Rorty sind). Dabei hängt hier natürlich alles zusammen: Im vorigen Zitat schien Rorty davon auszugehen, dass die Aufgabe der Philosophie darin bestünde, die Probleme der Menschheit zu lösen und eine gerechte, moralische Gesellschaft hervorzubringen. Deshalb beschrieb er den historischen Fortschritt auch in der Weise, wie er das tat. Nun sucht er große Männer (oder Frauen), die diesen historischen, gesellschaftsweiten Fortschritt durch die Philosophie auch herbeiführen können. Da ist es klar, dass das jeweils nur ein paar Wenige pro Generation sein können.

Mein Philosophieverständnis ist ein anderes: Ich glaube nicht, dass Philosophie dazu gut ist, um der Menschheit einen Fortschritt zu bringen, sondern Philosophieren tut man, um selber nicht zu verzweifeln. Philosophie stellt auf Lebensweisheit ab und ist deshalb unabdingbar an die individuelle Perspektive gebunden. Somit definiere ich Philosophie auch als individuelle Welterkenntnis im Gegensatz zur Wissenschaft, die eine kollektive Welterkenntnis ist. Das entwürdigt die Philosophie nicht, denn Leuten, die behaupten würden, man nehme der Philosophie ihre Würde, wenn man sie nicht mehr allgemeingültige Wahrheit (oder, im Fall von Rorty, allgemeingültigen Fortschritt) produzieren lasse, würde ich den Gegenvorwurf entgegenschleudern, dass man die Menschheit nicht ehrt, wenn man sie nicht in einem jeden einzelnen Menschen ehrt. Daraus folgt, dass für die Philosophie die Probleme der Menschheit tatsächlich um nichts wichtiger sind als diejenigen des einzelnen Menschen – und es ist Albert Camus zuzustimmen, wenn er zu Beginn seines Buchs Der Mythos von Sisyphos, meinte, das größte philosophische Problem sei die Frage, warum man sich nicht umbringen solle. Letzten Endes philosophiert man ja nicht darum, um die Welt zu retten, sondern darum, um sich nicht täglich ansaufen zu müssen.

Nun glaube ich, mit diesen Ausführungen schon einen Hinweis darauf gegeben zu haben, warum mir Rorty, bei meiner Konzeption von Philosophie, wenig weiterhilft: Er redet andauernd von den falschen Sachen, legt Wert auf die falschen Punkte, bewegt sich fortwährend auf der kollektiven Ebene und berührt die individuelle Ebene nicht einmal. Doch nun wird es noch dramatischer: Beim folgenden Zitat habe ich mir notiert: „Warum UNS alles in einem neuen Blickwinkel sehen zu lassen?“

UNS EINEN NEUEN BLICKWINKEL ERÖFFNEN

S. 20-21 „Aber auch der erfolgreichste Synkretismus [Anm. H. Hofbauer: Rorty bezeichnet damit seine eigene Tätigkeit] kann nicht hoffen, es den wahrhaft heroischen philosophischen Leistungen gleichzutun, denen es gelingt, uns alles aus einem neuen Blickwinkel sehen zu lassen und einen Gestaltwechsel auszulösen.
Einen solchen Wechsel herbeizuführen, ist die schwierigste und [S. 21] seltenste philosophische Errungenschaft.“

Philosophie besteht nämlich meiner Ansicht nach nicht darin, uns etwas in einem neuen Blickwinkel zu zeigen, sondern mir. Aber der Grund, warum ich das so sehr betone, ist, dass wir hier schon auf dem Weg zu Rortys Geniekult sind. Dieser ist gewissermaßen die andere Seite seines erkenntnistheoretischen Kollektivismus: Einige große Männer (oder Frauen) lassen uns alles aus einem anderen Blickwinkel sehen. Eine solche Vorstellung zeugt doch auch viel davon, wie man sich das Wesen und die Aufgabe der Philosophie vorstellt: Für meine individualistische Philosophiekonzeption gilt als einer der obersten Grundsätze: Philosophieren kann man nicht delegieren! Ich habe nämlich nichts davon, wenn mir anderer, ein großer Philosoph, die Welt in einem anderen Licht zeigt, wenn ich seine Gedanken nicht nachvollziehe. Wenn ich sie aber nachvollziehe, dann habe ich selber philosophiert und bin ein ebenso großer Philosoph wie er. Das ist aber nicht der wahrscheinlichste Fall: Der wahrscheinlichste Fall ist, dass ich die Ideen von Kant beispielsweise durchaus schon verstehen könnte, dass ich aber sehr schnell bemerke, dass sie nicht die Antworten auf meine Fragen darstellen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, selber zu philosophieren. Beziehungsweise ergibt sich daraus meine Frage: Wie schafft es Rorty sich vorzustellen, dass einzelne Philosophen eine große philosophische Leistung für den Rest der Menschheit vollbringen und dass dieser Rest der Menschheit diese große philosophische Leistung gleichsam passiv übernimmt, aufnimmt, lernt oder zur Kenntnis nimmt? Die Wahrheit ist die umgekehrte: Wenn ein großer Philosoph eine großartige neue Philosophie vorlegt, dann lässt uns diese nicht die Welt aus einem neuen Blickwinkel sehen, sondern dann geschieht genau nichts – denn es ist ja nur das Werk da, und solang sich niemand lesend, reflektierend daran abmüht, geschieht exakt nichts.

RORTYS GENIEKULT

S. 21 „Wer die Vorstellung fallen läßt, die Philosophie steuere auf die Wahrheit zu, und sich der Deutung Deweys anschließt, schätzt die Phantasie höher als die Fähigkeit zu argumentativer Auseinandersetzung und gibt dem Genie Vorrang vor der professionellen Arbeit.“

Mit diesem Zitat sind wir nun tatsächlich bei Rortys Geniekult angekommen, welcher wirklich der schlimmste Aspekt seiner Philosophiekonzeption für mich ist. Denn aus der Sicht meiner Philosophiekonzeption ist die Bewunderung des Genies das Absolute Ende des Philosophierens. In dem Fall denke ich nämlich, dass ich zu schlecht bin für das Philosophieren, weil das ein anderer besser kann, und dass ich es ihm aus diesem Grund überlassen soll. Und dann höre ich auf zu philosophieren. Es ist also das Aufhören, das absolute Ende der Philosophie. Denn, wie ich schon angedeutet habe, aus der Sicht einer individuellen Philosophiekonzeption ist nichts philosophiert, das ich nicht selber philosophiert habe. Und es ist nur dadurch philosophiert, dass ich es selber philosophiert habe. Ob ich es gut mache oder nicht, tut dabei nichts zur Sache, denn ich werde ohnehin mit den Ergebnissen meines Philosophierens leben müssen. Umgekehrt kann niemand für mich philosophieren. Rorty hingegen ersetzt das eigenständige Philosophieren durch die romantische Bewunderung der großen Philosophen. Dabei spricht er doch die ganze Zeit vom „Fortschritt“ – soll er doch zurückgehen in die Romantik, ins 19. Jahrhundert, in dem der Geniekult entstanden ist.

Das folgende Zitat Rortys gehört bereits zu jenem Teil, in welchem er die einzelnen Aufsätze des Bandes beschreibt. Irritierend in ihm ist das Ziel der angekündigten Aufsatzgruppe, nämlich dasjenige, „andere davon abzuhalten“, sich mit dem Thema Wahrheit zu beschäftigen. Das ist ein im höchsten Grade unphilosophisches Anliegen. Man kann durchaus nachweisen wollen, dass ein anderer Philosoph Unrecht hat – das tue ich auch die ganze Zeit (und das ist auch immer wieder notwendig, denn oft muss man sich einfach gegen die Gedanken anderer Menschen wehren, um selber denken zu können; aber man tut das nicht, um damit zu sagen, diese Gedanken seien an und für sich und für die ganze Menschheit nichts wert) -, aber das macht seine Gedanken nicht weniger interessant und nicht weniger wert, sich mit ihnen zu beschäftigen. Philosophisch wäre es immer, die Sinnhaftigkeit der Auseinandersetzung mit den Fragen anderer Philosophen zu erklären, auch wenn es sich um alte philosophische Fragen handelt; unphilosophisch ist es, die Leute vom Denken abzuhalten.

ZIEL: ANDERE DAVON ABZUHALTEN...

S. 21-22 „Im ersten Teil dieses Bandes („Wahrheit: Einige Philosophen“) gehe [S. 22] ich auf einige Äußerungen heutiger Philosophen zum Thema Wahrheit ein. [...] Der Ton dieser Aufsätze ist nicht konstruktiv, sondern despektierlich: Verworfen werden diverse Fragestellungen und Auseinandersetzungen, da sie zu keinem Ziel führen. Es wird kein philosophisches Forschungsprogramm vorgeschlagen, sondern statt dessen werden verschiedene Forschungsprogramme kritisiert, weil sie einer verfehlten Konzeption entspringen. Die Äußerungen einiger Philosophen zum Thema Wahrheit werden in der Hoffnung aufgegriffen, andere davon abzuhalten, diesem recht unersprießlichen Thema weiter Aufmerksamkeit zu schenken.“

Am Schluss wieder ein Punkt, bei dem ich mit Rorty doch teilweise übereinstimmen kann. Auch ich halte Romane für gute Hilfsmittel in der moralischen Bildung der Menschen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das aus dem gleichen Grund tue wie Rorty. Sicherlich ist es richtig, dass Romane die menschliche Handlungsphantasie entwickeln helfen, aber warum oder wie tun sie es? Meine Antwort auf diese Frage wäre, dass Romane ganz einfach einen viel größeren Reichtum an Beobachtungen und Inhaltsebenen enthalten als moralphilosophische Traktate. Das könnte man sicherlich auch am Reichtum des Vokabulars nachweisen. In moralphilosophischen Traktaten z.B. kommen gewöhnlich all die Dinge, die man im Haushalt verwendet, gar nicht vor. Der Traktatschreiber würde auch meinen, dass sie gar nicht relevant sind. Sind sie aber, es kommt nämlich bei der Moral drauf an, wie man sie ins tatsächlich gelebte Leben integriert. Darüber sagen moralphilosophische Traktate fast gar nichts, und Romane reden von nichts anderem, selbst wenn sie Ethik oder Moral gar nicht ausdrücklich thematisieren. In dem Zusammenhang würde ich aber einen weiteren Schluss ziehen wollen: Daraus ergibt sich, dass die allermeisten philosophischen Bücher über Moral schlecht geschrieben sind, dass sie ihr Thema schlecht erzählen. Ein gutes philosophisches Buch sollte nämlich wie ein Roman sein oder wie eine Erzählung: Es sollte uns wie ein literarisches Werk alle sinnlichen Inhalte und solche des alltäglichen Lebens anbieten, die es uns ermöglichen, die Verbindung zwischen allgemeinen Ideen und unserem eigenen Handeln und Verhalten herzustellen.

ROMANE ALS NÜTZLICHSTE HILFSMITTEL ZUR MORALISCHEN BILDUNG

S. 23 „In anderen Aufsätzen (über Feminismus und über kulturelle Verschiedenheit) nenne ich Argumente dafür, daß es keine deutlichere Vorstellung von unseren moralischen Verpflichtungen, sondern die Phantasie ist, die am meisten zur Schaffung und zur Stabilität solcher Gemeinschaften beiträgt. Diese letztere These steht völlig im Einklang mit meiner in früheren Schriften zum Ausdruck gebrachten Anschauung, Romane – und nicht moralphilosophische Abhandlungen – seien die nützlichsten Hilfsmittel der moralischen Bildung.“

Man sieht hier, wie Rorty aus seiner kollektiven Fortschrittskonzeption heraus, die Philosophie gegenüber der Literatur abwertet; ich aus meiner individuellen Philosophiekonzeption heraus würde die Literatur gegenüber der Philosophie aufwerten.


13. Oktober 2009

 


 

© helmut hofbauer 2009