Wen
Philosophie betrifft
Ich bin
mir sicher, dass man von der Antwort auf die Frage, wen
Philosophie denn eigentlich betrifft, auch eine Antwort
auf die Frage erwartet, ob die Philosophie denn von allgemeinem
gesellschaftlichem Nutzen ist, denn heute müssen ja
Wissensdisziplinen und Unternehmungen jeglicher Art entweder
rechtfertigend nachweisen oder offen und angriffslustig
propagieren, dass sie der Gesellschaft von Nutzen sind.
Von der
Philosophie jedoch muss ich leider (und kann ich zum Glück)
sagen, dass sie keinerlei gesellschaftlichen Bedeutung hat.
Bevor mein werter Leser/meine werte Leserin jedoch seine/ihre
Aufmerksamkeit abschaltet und sich weiterer Verstehensanstrengungen
meiner Vorbringungen verschließt, muss ich dieser
„Antwort“ noch schnell nachwerfen, dass sie
nicht so leicht verständlich ist, wie sie scheint und
dass der Großteil der Menschen sie wahrscheinlich
nicht versteht.
Damit,
dass die Philosophie keine Bedeutung für die Gesellschaft
hat, ist nämlich nicht gemeint, dass sie nicht (potentiell)
sehr viele Individuen betreffen und für sie Bedeutung
haben könnte. Es muss dazu im Grunde eigentlich nur
eine Bedingung gegeben sein: Diese Individuen müssen
sich von der Philosophie betreffen (und ansprechen) lassen.
Wenn sie dazu aber nicht bereit sind, dann kann man tatsächlich
sagen, dass die Philosophie in unserer Zeit kaum mehr Bedeutung
hat.
Und sehen
Sie, werte Leserin, werter Leser, das ist der Unterschied,
der die Philosophie von allen anderen Wissensdisziplinen,
die an den Universitäten angeboten werden, trennt:
Was die Physik oder die Medizin über mich sagen, das
gilt auch ohne meine Zustimmung. Was die Philosophie über
mich sagt, das stimmt weder noch stimmt es nicht ohne meine
Zustimmung, es hat ohne meine Zustimmung vielmehr überhaupt
keine Bedeutung.
Das aber
ist etwas, was die meisten Menschen nicht verstehen: Sie
denken, in der Philosophie gehe es um die Wahrheit, die
Philosophie suche die Wahrheit im Grunde ganz genauso wie
alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen, nur dass die
Philosophie vielleicht eine andere Art von Wahrheit sucht
oder eine Wahrheit von anderer Reichweite (von größerer
Allgemeinheit) als die spezialisierten Wissenschaften. Sie
wissen nicht (und kämen wohl auch gar nicht auf den
Gedanken), dass es bei der Philosophie um ihre Zustimmung
zu den philosophischen Inhalten geht (oder auch um ihre
Rebellion gegen diese, die Rebellion ist genau so wichtig
wie die Zustimmung), mit einem Wort: Es geht in der Philosophie
nicht einfach nur um die Wahrheit, sondern um die Reaktion
der Menschen auf die philosophischen Wahrheitsaussagen.
Den Menschen
ist jedoch zugute zu halten, dass diese Wahrheit über
die Philosophie, die ich hier vorbringe, auch berühmte
Philosophen nicht kennen. Und das ist von besonderer Bedeutung
nach einem Jahrhundert, dem zwanzigsten, in dem die Philosophie
eigentlich zur Soziologie geworden ist. Wo man hinschaut,
ob Horkheimer und Adorno (und der Rest der Frankfurter Schule)
oder Michel Foucault, ob Jürgen Habermas, Peter Sloterdijk
oder Francois Lyotard – sie alle haben uns die Gesellschaft
erklärt. Sie haben uns das Funktionieren der Gesellschaft
erklärt, und wir sind (also diejenigen, die sie gelesen
haben) ihren Gedanken gefolgt, so dass es mit der Zeit so
ausgesehen hat, als ob ein Buch oder eine Theorie umso philosophischer
wäre, je mehr es oder sie von der Gesellschaft erklären
konnte, sodass wir eigentlich schon dachten, Philosophie
bestünde darin, die ganze Gesellschaft in einem Streich
in einer neuen und ungewöhnlichen Interpretation hinzuwerfen
(pardon: in Buchform vorzulegen).
Und diese
Selbstpräsentation der Philosophie entsprach dann ja
wohl auch am besten der von ihr geforderten „gesellschaftlichen
Bedeutung“. Das beste Beispiel hierfür ist vielleicht
das Werk Foucaults: Foucault erklärte die Gesellschaft
durch das Phänomen der Macht, welche sich in allen
Gelenkstellen gesellschaftlichen Funktionierens überträgt
und bis in die psychischen und physischen Kapillaren des
Einzelmenschen eindringt, und er schuf damit eine redundante
Theorie (wenn man einmal in ihr drinnen ist, kommt man nicht
mehr heraus), die doch relativ viel zu erklären scheint
für denjenigen, der an sie glaubt. Was sie aber erklärt,
worauf sie ihr Augenmerk richtet, das ist das Funktionieren
der Gesellschaft.
Es könnte
sein, dass derartige Welterklärungen wie die Foucaults
(die Macht regiert die Gesellschaft) oder der Frankfurter
Schule (die instrumentelle Vernunft regiert die Gesellschaft
– und schlägt um in Barbarei) oder noch andere
von ähnlicher Art dem Publikum mit der Zeit dann doch
langweilig geworden sind, weswegen eine Intensitätssteigerung
in der philosophischen Theorieproduktion nötig wurde.
Von da an genügte es also nicht mehr, die ganze Gesellschaft
in einem philosophischen Handstreich zu erklären, sondern
das Publikum erwartete sich auch eine möglichst beeindruckende
und ungewöhnliche Erklärung des Gesamtgesellschaftlichen.
Für diese Erklärungen sorgten dann die postmodernen
Philosophen, Baudrillard zum Beispiel, wenn er der Welt
erklärte, wie sie zunehmend fiktional werde und vollends
den Kontakt zur Realität verliere. Derrida schlug in
eine ähnliche Kerbe, wenn er die différance
durch den Text wandern ließ und diesem auf diese Weise
seine (vermeintliche) Verständlichkeit (an die man
zuvor geglaubt hatte) nahm. Durch diese philosophische Operation
wurden plötzlich alle Arten von Texten unverständlich
und die Intellektuellen ächzten glückselig unter
der Last, die Welt nicht mehr verstehen zu können,
weil ihnen das geistig noch anspruchsvoller erschien und
die Existenz von Intellektuellen noch notwendiger erscheinen
ließ als eine Welt, die grundsätzlich verständlich
ist.
Jetzt
aber hat sich diese Entwicklung an ihr Ende gedreht. Es
ist nicht zu erwarten, dass uns noch verblüffendere,
absurdere und abgehobenere Modelle der Welt geliefert werden,
die die Kraft haben, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
für längere Zeit zu fesseln. Deshalb ist jetzt
der Zeitpunkt, an dem wir uns eingestehen könnten,
dass die Philosophie, wenn sie nicht vollends langweilig
werden soll, im Grunde gar nicht die Aufgabe hat, die Gesellschaft
zu erklären. Das können Soziologen viel besser
– und sie haben, im Unterschied zu Philosophen, Helfer,
mit deren Unterstützung sie empirische Untersuchungen
durchführen können, die ihnen auch auf der theoretischen
Ebene zu einem wesentlichen Vorsprung vor den Philosophen
verhelfen sollten. Überhaupt, sieht man denn nicht,
was für ein unmöglicher und überzogener Anspruch
z.B. in demjenigen Foucaults liegt, einiges Archivmaterial
aufzuarbeiten (soviel, wie man halt lesen kann) und sich
dann daran zu machen, die ganze Gesellschaft als Einzelmensch
zu denken und sie geistig aufzufassen? Das sieht ein Blinder,
dass dieses Unterfangen aufgrund der Größe und
Komplexität der heutigen Gesellschaft nicht wirklich
möglich sein kann, ohne dass es zu gröberen Vereinfachungen
kommt.
Aber
das kann natürlich andererseits auch nicht heißen,
dass die Philosophierenden heute nicht mehr über die
Gesellschaft nachdenken sollen. Man braucht ein möglichst
passendes Bild von der Gesellschaft als Hintergrund für
die eigenen Gedanken, weil man sonst nicht in der Lage ist,
„auf der Höhe seiner Zeit“ zu sein, und
ein jeder nachdenkende Mensch wird sich deshalb auch weiterhin
für die Gesellschaft und ihr Funktionieren interessieren.
Mein Punkt hier in diesem Text ist nur, dass es in der Philosophie
weder in erster Linie um die Wahrheit noch um Erkenntnisse
über die Gesellschaft geht, obwohl man das allgemein
zu glauben scheint.
Und worum
geht es nun also in der Philosophie? Ich würde es so
ausdrücken: Philosophie ist diejenige Disziplin, in
der die an ihr Teilnehmenden nicht in erster Linie eine
Wahrheit oder eine Erkenntnis erwarten (obwohl sie nach
der Wahrheit und nach Erkenntnissen suchen), sondern eine
Darstellung oder eine Argumentation, die sie veranlasst,
ihre eigene Meinung zu ändern. Das bedeutet natürlich,
ein jeder Philosophierende einzeln sucht nach einer philosophischen
Argumentation, welche ihn veranlasst, seine eigene Meinung
zu ändern. Und von dieser Änderung der eigenen
Meinung – das ist der Kernpunkt: also nicht von der
Wahrheit oder von Erkenntnissen – erwartet er sich
einen Fortschritt in seiner persönlichen Entwicklung
sowie Glück und Erlösung. Ja, an dieser Stelle
ist mit großen Worten nicht zu sparen: Philosophie
ist die eventuell verrückte (jedenfalls für die
meisten Menschen verrückt aussehende) Überzeugung,
dass es möglich ist, Probleme allein dadurch zu lösen,
dass man seine Einstellung zur Wirklichkeit oder seine Gedanken
über die Welt ändert.
Wenn
man meine Bestimmung von Philosophie genau betrachtet, sieht
man gleich, warum Philosophie für die Gesellschaft
keine Bedeutung haben kann: Die Gesellschaft ist hier nicht
das Subjekt, das vom philosophischen Diskurs angesprochen
wird. Die Gesellschaft zeigt auch keine große Nachfrage
nach philosophischen Anstößen zur Selbstreflexion,
also nach Anregungen, die sie dazu bringen würden,
darüber nachzudenken, wie sie eigentlich ist und wie
sie anstatt dessen lieber sein möchte. Diese gesellschaftliche
Selbstreflexion geschieht zwar (z.B. im Bereich der Belletristik)
auch, und auch die Philosophen beteiligen sich daran so
gut es geht, aber die Gesellschaft zeigt für derlei
Anregungen eigentlich keine Dankbarkeit und lässt diese
gesellschaftliche Selbstreflexion von Schriftstellern und
Intellektuellen besorgen, die oft unter dem Existenzminimum
leben. Schätzen tut die Gesellschaft, so weit ich sehe,
eigentlich nur Wissen, das technisch verwertbar ist und
sich in neue Produkte überführen lässt.
Angesprochen
von der Philosophie ist das Individuum, der einzelne Mensch
– und hier handelt es sich grundsätzlich um alle
Menschen, die von der Philosophie betroffen sind. In diesem
Sinne könnte man also sogar sagen, dass die Philosophie
Bedeutung für die gesamte Gesellschaft habe, wenn da
nicht diese eine, wesentliche Einschränkung wäre:
Die Philosophie hat für alle Menschen Bedeutung, sie
betrifft prinzipiell alle Menschen, aber real betrifft sie
nur alle diejenigen, die sich von ihr betreffen lassen.
Das ist, für die ganz einfachen Gemüter, schlicht
deshalb so, weil es nicht so ist, dass die Philosophie (so
wie die anderen Wissenschaften) ihre Wahrheit sagt und damit
wäre es dann getan, sondern die Reaktion der Menschen
auf die von der Philosophie verlautbarten Inhalte ist wesentlicher
Mitbestandteil der Philosophie, weswegen es notwendig ist,
dass die Menschen auf sie reagieren und sich mit philosophischen
Inhalten auseinanderzusetzen, weil sonst keine Philosophie
stattfindet.
Nun ist
es aber so, jetzt spreche ich aus eigener Erfahrung, dass
die meisten Menschen sich von der Philosophie nicht betreffen
lassen wollen. Ich weiß nicht genau, warum das so
ist, ich kann es mir auch nicht wirklich erklären,
ich habe dafür nur so eine Art Oberflächenerklärung
parat: Wahrscheinlich wollen sich die meisten Menschen keiner
Gefährdung ihrer Persönlichkeit aussetzen? Sie
akzeptieren, dass sie einmal in ihrem Leben (in der Pubertätszeit)
durcheinander und desorientiert sind, aber sobald sie aus
dieser schwierigen Zeit einmal herausgekommen sind, wollen
sie es nie mehr zulassen, dass sie (so wie der über
fünfzig jährige Harry Haller in Hermann Hesses
Steppenwolf am Ende des Buches, im Spiegelkabinett) in eine
Situation kommen, in der sie ihre grundlegenden Überzeugungen
hinterfragen müssen.
Was kann
ich zu diesen Menschen sagen? Ich will sie nicht verurteilen,
das wäre auch völlig sinnlos, da sie wirklich
die überragende Mehrzahl aller Menschen darstellen,
aber mir scheint, sie haben nicht verstanden, dass der eigentliche
Reiz des Philosophierens genau darin besteht, seine grundlegenden
Überzeugungen zu ändern. Anders gesagt, es entgeht
ihnen was, aber sie wissen nicht, was das ist. Hier liegt
jedoch gar keine wesentliche Frage für die vorliegende
Untersuchung, wichtig ist nur, dass Philosophie die überragende
Mehrzahl der Menschen nicht betrifft und dass das aber nicht
die Schuld der Philosophie ist, sondern die Folge einer
Entscheidung, die diese Menschen getroffen haben, nämlich
der, sich von philosophischen Gedanken nicht beeinflussen
lassen zu wollen. Es gibt also sehr viele unphilosophische
Menschen.
Das Hauptproblem
liegt aber aus meiner Sicht nicht in der Tatsache, dass
die meisten Menschen unphilosophisch sind, sondern in dem,
was diese Menschen (selbstverständlich) über die
Philosophie sagen werden. Sie werden nämlich sagen:
„Die Philosophie bringt uns keine (so wie die Physik,
die Chemie und die anderen Wissenschaften) Erkenntnisse,
die uns weiterhelfen (die die gesamte Gesellschaft vorwärts
bringen) und deshalb hat sie keine gesellschaftliche Bedeutung.“
Die Folge eines solchen Satzes ist dann jeweils ein neuerlicher
Prestigeverlust der Philosophie. Dabei handelt es sich bei
diesem Satz um ein Missverständnis: Diese Menschen
reden wie Personen, die nur eine Wissensform kennen und
die von allem Wissen annehmen (und sogar fordern), dass
es diese Form annehme. Sie kennen nämlich nur „objektives
Wissen“ (das ist solches, das dazu gut ist, die Dinge
in der äußeren Welt zu manipulieren und zu gestalten)
und kein „subjektives Wissen“ (das ist solches,
von dem ich mich verändern lassen kann, wenn ich es
höre oder lese, um anders oder ein anderer zu werden
und auf diese Weise meine Probleme zu lösen). Solche
Menschen, verändern sich nicht (weil sie das nicht
wollen, wie wir gehört haben) – wozu bräuchten
sie also auch „subjektives Wissen“? Wie könnten
sie wissen, was „subjektives Wissen“ überhaupt
ist? Das können sie nicht.
Wen also
betrifft Philosophie? – Alle Menschen, die sich von
ihr betreffen lassen wollen. Und wen betrifft sie nicht?
– Die Gesellschaft, die von einer jeden Wissensdisziplin
Wissen von der Art erwartet, dass man daraus eventuell ein
Heilmittel gegen Krebs oder ein nicht umweltschädliches
Antriebsmittel für Autos machen kann. Diese Beispiele
zeigen auch, dass es Probleme gibt, die definitiv nicht
von der Philosophie gelöst werden können. Wenn
ich also Krebs habe, werde ich mich zum Arzt begeben, ich
glaube nicht daran, dass dieser mit Meditation zu besiegen
ist. Wenn man sich hingegen persönlich weiter entwickeln
will, dann können einen Physik, Chemie und Wirtschaftswissenschaft
nicht dabei unterstützen. Ich würde mal schätzen,
dass sich viele Menschen im Grunde weiter entwickeln wollen,
aber sie wissen wohl nicht, was das ist, dass man sich dabei
verändern und einen alten Teil von sich hinter sich
lassen muss, während man einen neuen dafür erhält.
Im Grunde
ist es ja unglaublich: Die Menschen haben zwei Beine, aber
sie wachsen wie die Bäume (nur in die Dicke)! –
Und diese Menschen mit ihrem Baumcharakter, der sich nicht
verändert, sondern sich nur von Jahr zu Jahr noch mehr
festigt, glauben nicht, dass es da noch ein anderes Wissen
geben könnte als wissenschaftliches Wissen, weil das
wissenschaftliche Wissen sie in ihrer Persönlichkeit
nicht herausfordert. Es lässt sie in Ruhe und dient
dazu, die Umwelt zu gestalten, was umgekehrt den Menschen
nur noch mehr erlaubt, so zu bleiben, wie sie sind.
22. April 2009
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