Worin
Philosophie besteht
Über
"Metaphysik"-Gefahr, Definitionen und eine Mehrzahl
von Perspektiven auf ein Thema.
Man
braucht ja immer wieder einen Anlass, um sich daranzumachen
etwas aufzuschreiben. In diesem Fall ist das für mich
ein wissenschaftlicher Diskussionskreis, den ich seit einiger
Zeit regelmäßig besuche.
In diesem Diskussionskreis bestehend aus jungen Wissenschaftlern
und Universitätsabsolventen taucht immer wieder dasselbe
Problem oder Anliegen auf: Es handelt sich um die in diesem
Kreis verbreitete Ansicht, dass die Begriffe der Diskussion
zuerst exakt definiert werden müssten, bevor man sinnvoll
mit ihnen diskutieren könne. In diesem Zusammenhang
taucht sogar immer wieder „Metaphysik“-Verdacht
auf, dieser Vorwurf funktioniert folgendermaßen: Bestimmte
Leute (die zu keinen Ergebnissen kommen wollen, sondern
nur ihre Gesprächspartner verwirren und einen klugen
Eindruck machen wollen) zögen es vor, Diskussionen
ohne vorherige Begriffsdiskussionen zu führen, weil
sie, bei einer kniffligen Frage in die Enge getrieben, sich
immer sicher sein könnten, ein Schlupfloch zu finden.
Bei einer Diskussion mit „unklaren Begriffen“
bleibe alles im Vagen, meinen diese Teilnehmer unseres Diskussionskreises,
weshalb nichts bewiesen werde könne und deshalb die
Meinung, für die man sich letztlich entscheide, nur
auf Glauben beruhe – in diesem Glauben sehen sie die
„Metaphysik“-Gefahr.
Ich würde
die Teilnehmer dieses Diskussionskreises bisweilen gern
mit der Übung „Was ist ARBEIT?“ aus dem
Mittelstufelehrbuch für Deutsch als Fremdsprache Sichtwechsel
(Saskia Bachmann/Sebastian Gerhold/Bernd-Dietrich Müller/Gerd
Wessling: Sichtwechsel. Band 2 Klett 1996. S. 14) bekanntmachen.
Ich halte diese Sprachübung für eine äußerst
philosophische Übung und zwar deswegen, weil in ihr
der Begriff „Arbeit“ nicht definiert wird, sondern
sie mit der in der Realität/im Gebrauch existierenden
Mehrdeutigkeit des Begriffs spielt. Zur Veranschaulichung
nur die ersten drei Beispielsätze der Übung:
1. Ein
Priester trinkt nach der Taufe mit der Familie Kaffee.
2. Ein Arbeiter trägt Werkzeug von einer Seite der
Halle zur anderen, damit der Meister nicht sieht, dass er
keine Arbeit hat.
3. Kinder bauen am Strand eine Burg.
Und so
weiter.
Jedes
Mal soll man sich fragen, ob das Arbeit ist, und die Beispiele
sind immer so gehalten, dass die Entscheidung auf der Kippe
steht beziehungsweise beide Möglichkeiten zutreffen:
Eine Tätigkeit kann zugleich Arbeit und auch nicht
Arbeit sein, je nach der Definition von Arbeit, die man
anwenden möchte: Beim Beispielsatz 1 könnte man
die Tätigkeit des Priesters etwa als Arbeit werten,
wenn man die Pflege der Sozialkontakte zu seinen Gemeindemitgliedern
als Teil des Berufsbilds Priester ansieht; beim 2. Beispiel
könnte man die Tätigkeit des Arbeiters als Arbeit
ansehen, wenn man behauptet, dass alles, was innerhalb der
offiziellen Arbeitszeit geschieht, Arbeit ist (was als Rechtfertigung
gar nicht so ungewöhnlich und unakzeptabel ist, wie
man auf den ersten Blick glauben möchte); beim 3. Beispiel
werden Menschen zugeben, dass das Arbeit ist, wenn sie die
menschlichen Tätigkeiten in notwendige und nicht notwendige
einteilen und einsehen, dass Lernen und Ausbildung von Kindern
zu den notwendigsten menschlichen Tätigkeiten überhaupt
gehören, auch und nicht zuletzt im Zusammenhang mit
den Anforderungen des Arbeitsmarkts, und dass die Ausbildung
der räumlichen Vorstellungskraft sowie der Geschicklichkeit
der Hände, die Kinder sich beim Sandburgbauen am Strand
erwerben deshalb durchaus als „Arbeit von Kindern“
gewertet werden kann.
Diese Übung nun begreife ich deshalb als eine philosophische,
weil sie zeigt, wie Erkenntniszuwachs aus der Vielfalt von
Perspektiven entsteht, daraus, dass man versteht, dass es
mehrere Perspektiven gibt, aus denen man eine Frage betrachten
kann und daraus, dass man lernt, diese unterschiedlichen
Perspektiven zu sehen. Das aber ist genau jener Punkt, der
von den Mitgliedern des wissenschaftlichen Gesprächskreises,
an dem ich teilnehme, vernachlässigt oder schlicht
nicht gesehen wird: Die „Metaphysik“-Gefahr
sehen sie, aber dass ein Denken, dass sich der Vielheit
der Perspektiven nicht bewusst ist, zu Borniertheit führt,
das sehen sie nicht.
Die Borniertheitsgefahr
oder Bornierungsgefahr, die Gefahr, durch das Geltenlassen
nur einer Perspektive eine geistige Einschränkung zu
erleiden, sehen sie also nicht. Und noch etwas sehen sie
nicht, nämlich dass die Definition eines Begriffes
das Ergebnis der Diskussion von vornherein bestimmt und
es vorwegnimmt. Auch das lässt sich übrigens gut
an dieser Übung sehen: Wenn ich Arbeit definiere z.B.
als alles, was innerhalb der Arbeitszeit geschieht, dann
ist sofort klar, dass Beispiel 1 und 3 nicht Arbeit sind,
Beispiel 2 dagegen schon. Anders gesagt, wenn ich eine Definition
schon habe, dann brauche ich nicht mehr nachzudenken, sondern
Denken wird durch Rechnen (durch den bloßen logischen
Schluss) ersetzt. Hier haben wir es also mit einer völlig
verkehrten Vorstellung bei den Mitgliedern meines Diskussionskreises
zu tun, welcher aber bei Universitätsabsolventen, also
Menschen mit einer wissenschaftlichen Ausbildung, weit verbreitet
ist: Diese Vorstellung besteht darin, dass diese Menschen
glauben, erst auf der Grundlage sauber definierter Begriffe
könne man mit dem Denken und Diskutieren überhaupt
erst anfangen. Die Wahrheit ist genau das Gegenteil: Die
Definition eines Begriffs macht dem Denken ein Ende. Die
Wahl, welche Definition eines Begriffs ich wählen will,
ist Denken. Wenn ich jedoch eine bestimmte Definition schon
habe, dann folgt das Weitere aus ihr wie 4 aus 2+2 folgt.
Es ist also eine Folge wissenschaftlicher Ausbildung, dass
die Menschen Denken mit Rechnen verwechseln, dass sie nur
Rechnen für „richtiges Denken“ halten –
und Denken selber am Ende nicht für Denken halten.
Ein
Zugeständnis sei ihnen hingegen gemacht: Sie haben
Recht, wenn sie behaupten, dass, wenn jemand in einer Diskussion
tricksen will, das Fehlen von Begriffsdiskussionen ihm dazu
alle Möglichkeiten gibt. Das ist leider wahr; deshalb
fordere ich es ein, dass jemand, mit dem ich diskutiere,
wahrhaftig ist, und wenn ich sehe, dass er das nicht ist,
dann beende ich die Diskussion mit dieser Person. Nicht
wahr ist aber – und hier irren sie sich zum zweiten
Mal – dass dieser Missstand sich durch exakte Begriffsdefinitionen
beheben ließe: Sie sehen nämlich nicht, dass
eine jede Begriffsdefinition letztlich ein Akt der Willkür
ist und ein jedes Wissen, das mit Begriffsdefinitionen beginnt,
damit ein Haus, das in der Luft gebaut ist – und nicht
auf festem Grund! Die Tatsache, dass wir uns alle auf eine
gemeinsame Definition eines Begriffs geeinigt haben, hat
noch nicht zur Folge, dass diese Begriffsdefinition nun
mehr Gewicht hätte als andere Begriffsdefinitionen.
Im Gegenteil, andere werden kommen und dieselbe Sache wieder
anders definieren. Zusammengefasst, Begriffsdefinitionen
lösen das infrage stehende Problem nicht, sie verschieben
es nur: Ist es in einer gewöhnlichen Diskussion möglich,
andere Perspektiven auf ein Problem ganz einfach einzubringen,
muss dafür in wissenschaftlichen Diskussionen die Diskussion
zuerst einmal „aufgebrochen“ werden, d.h. die
die wissenschaftliche Diskussion leitenden Begriffsdefinitionen
müssen zurückgewiesen und durch andere ersetzt
werden. Aber keine Sorge, das geschieht! Der Nachteil von
wissenschaftlichen Diskussionen ist nur der, dass das alles
gewaltsam geschieht, das Machtaspekte ins Spiel kommen,
dass immer erst eine andere oder eine jüngere Forschergruppe
kommen und eine ältere verdrängen muss, damit
ein neuer Aspekt in die Diskussion eingebracht werden kann,
weil wissenschaftliche Diskussionen eben herkömmlich
(beziehungsweise werden junge Wissenschaftler so ausgebildet,
dass sie diese Überzeugung annehmen) eindimensionale
Diskussionen sind, welche in der aktuellen Diskussion immer
den Blick vor der tatsächlich existierenden Vielheit
der Perspektiven verschließen müssen.
Aber
nicht darüber möchte ich in diesem Text eigentlich
sprechen, sondern über Bedürfnisse: Wie kommt
es eigentlich, dass in einem wissenschaftlichen Diskussionskreis
junger Universitätsabsolventen alle oder viele das
Bedürfnis in sich verspüren, Begriffe exakt zu
definieren und die Keule des „Metaphysik“-Verdachts
zu schwingen und niemand das Bedürfnis hat, für
die Vielheit der Perspektiven und die Freiheit des Denkens
einzutreten? Ich weiß ja nicht, warum sie dieses Bedürfnis
haben, ich kann nur vermuten, dass es mit der Ausbildung
zusammenhängt, die ihnen im Laufe ihres Studiums zuteil
geworden ist, und mit dem wissenschaftlichen „Habitus“,
den sie sich in diesem Zusammenhang angeeignet haben.
Aber
eines frage ich mich doch, und zwar: Ob die Wissenschaft
(in der Universität) denn keinem von ihnen je wehgetan
hat? Ob sich keiner von ihnen von ihr je verletzt gefühlt
hat? Dergestalt, dass sie das naive und gedankenlose Vertrauensverhältnis,
das sie gegenüber der Wissenschaft offenbar haben,
überwunden und sich ihr gegenüber eine gewisse
Reserve oder Distanz erworben und erarbeitet hätten?
Ich sehe diese naive, durch keine negativen Erlebnisse gebrochene,
Einstellung zur Wissenschaft in ihren Vorträgen, in
welchen sie die Wissenschaft als jene Disziplin (als die
einzige Disziplin) darstellen, die uns zu Erkenntnis und
zu Wissen führt. Es wird gar nicht wahrgenommen, wenn
ich dagegen einwende, dass die Wissenschaft in Wirklichkeit
nicht nach jedem beliebigen Wissen suche, wenn dieses nur
wahr ist, sondern dass sie nach einem ganz bestimmten Blickpunkt,
einer ganz bestimmten Perspektive auf die Dinge strebt,
was z.B. damit zusammenhängt, dass die Wissenschaft
eine gesellschaftliche Institution ist und eine soziale
Organisation hat. Kurz: Man kann doch Wissenschaft nicht
als die Suche nach der Wahrheit definieren – so kurzsichtig
kann man doch gar nicht sehen, dass man nicht erkennt, dass
die Wissenschaft nur eine bestimmte Wahrheit sucht und nur
eine bestimmte Perspektive auf diese Wahrheit.
Weil
ich die Enge der Wissenschaft erkannt habe und sie zutiefst
(als würgend) empfinde, komme ich immer wieder auf
die Philosophie zurück. Und ich lasse mir dabei nicht
vorwerfen, dass Philosophieren kein rationales Denken sei.
Ganz im Gegenteil, die Rationalität des Denkens unterscheidet
sich bei Philosophie und Wissenschaft nicht (und alles,
was zu Religion oder Esoterik gehört, hat in der Philosophie
keinen Platz), es ist das Zulassen oder Nichtzulassen einer
Mehrzahl von Perspektiven, welche Philosophie von Wissenschaft
unterscheidet. Für die Wissenschaft stellt eine Mehrzahl
von Perspektiven auf ein Problem eine Gefahr dar, die Wissenschaftler
sehen darin die Vagheit einer Diskussion, welche ihrer Meinung
nach im Argen liegt. Für den Philosophierenden liegt
hingegen gerade in der Mehrzahl der Perspektiven die Hoffnung
auf eine weitere Erkenntnismöglichkeit. Eine Frage,
rein zum Textverständnis: Sieht man, wie weh einem
philosophischen Menschen eine wissenschaftliche Diskussion
tun muss? Es ist beinahe so wie beim Seilziehen: Sie ziehen
in die eine Richtung, ich fast genau in die andere.
Aber
wieder komme ich bei der Frage der Bedürfnisse an.
Ich frage mich, woher haben sie das Bedürfnis in gerade
diese Richtung zu ziehen? Und wie sieht dieses Bedürfnis
genau aus – finden sich wirklich gar keine anderen
Bedürfnisse oder Erfahrungen in solchen Menschen, die
mit diesem dominanten Bedürfnis oder Grundbedürfnis
disharmonieren? Warum finde ich mich als philosophischer
Mensch so völlig allein vor in dieser Gruppe und wahrscheinlich
nicht nur in dieser. Ja, es ist sogar ein Teilnehmer dieses
Diskussionskreises, welcher Philosophie studiert hat, welcher
es immer wieder am vehementesten einfordert, dass am Anfang
einer sinnvollen Diskussion exakte Begriffsdefinitionen
zu stehen haben und welcher damit behauptet, den philosophischen
Standpunkt in die Diskussion einzubringen. Aber das ist
nicht der philosophische Standpunkt, sondern genau das Gegenteil
davon (auch hier frage ich mich: Welche Ausbildung hat dieser
Mensch in der Universität genossen und welchen Habitus
hat diese ihm übergestülpt?): Als Philosophen
erkennt man einen Menschen daran, dass er, sobald die Wissenschaftler
fertig sind mit einer Begriffsdefinition, sich sofort daran
macht, diese Begriffsdefinition zu hinterfragen und mit
rationalen Mitteln aufzulösen, um die Beschränkung
des Blicks und die dadurch entstehende partielle Blindheit
die durch die Begriffsdefinitionen verursacht werden, wiederum
aufzulösen und im Anschluss daran zu zeigen, dass es
noch andere Perspektiven auf das Problem gibt und dass man
das Problem auch noch anders sehen kann. Ja, ich wüsste
gar nicht, worin Philosophie anders bestehen sollte als
in dieser wissenschaftszersetzenden geistigen Erkenntnisarbeit.
10.3.2009
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