Analyse
von
Friedrich Nietzsches Text
„Was bedeuten asketische Ideale?“
aus der Genealogie der Moral
–
mit der Fragestellung, ob Nietzsche ein selbstdenkender,
philosophischer Mensch war
23.11.2019
Eine
Unterscheidung, die mir sehr wichtig ist, ist die zwischen
dem Individuum und der Gemeinschaft/Gesellschaft. Wenn einer
für sich denkt, dann halte ich ihn für einen Philosophen;
wenn er für die Gemeinschaft/Gesellschaft denkt, dann
halte ich ihn für einen Politiker: Was er denkt, hat
in dem Fall nicht die Wahrheit als erstes Ziel, sondern
er will die Herde anführen – und sie mit seinen
Worten überreden, sich von ihm anführen zu lassen.
Bei Nietzsche verhält es sich so, dass ich oft nicht
genau weiß, auf welcher Seite der Unterscheidung Individuum-Gemeinschaft/Gesellschaft
er steht. Denkt er für sich oder denkt er, um andere
Leute zu beeindrucken?
Aus dem Grund habe ich mir den Abschnitt über die asketischen
Ideale in Nietzsches Buch Genealogie der Moral noch einmal
genauer angeschaut und ihn entlang dieser Unterscheidung
analysiert.
1.
Der Philosoph
„Jedes
Tier, somit auch la bête philosophe, strebt
instinktiv nach einem Optimum von günstigen Bedingungen,
unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann
und sein Maximum im Machtgefühl erreicht; jedes
Tier perhorresziert ebenso instinktiv und mit einer
Feinheit der Witterung, die »höher ist
als alle Vernunft«, alle Art Störenfriede
und Hindernisse, die sich ihm über diesen Weg
zum Optimum legen oder legen könnten…“
Quelle
(wie alle übrigen Nietzsche-Zitate in diesem
Text): online auf zeno.org
|
Bei
dem, was Nietzsche in diesem Text über den Philosophen
sagt, ist die Sache sehr klar. Er fragt, was die asketischen
Ideale für den Philosophen bedeuten, und antwortet:
Sie sind für ihn ein Mittel, um seine optimalen Lebensbedingungen
zu erlangen. Spezifischer: Der Philosoph verzichtet auf
Dinge, die ihn in etwas verwickeln und ihm Arbeit aufhalsen,
weil er Freiheit und Ruhe zum Nachdenken haben will. Der
philosophierende Mensch verwendet „asketische Ideale“
also eindeutig zu individuellen, persönlichen Zwecken:
Nietzsche steht hier eindeutig auf der Seite des Individuums.
Dazu
ist zweierlei anzumerken:
Erstens,
Nietzsche identifiziert sich selbst mit den Philosophen
(„…denn wir Philosophen brauchen zuallererst
vor einem Ruhe: vor allem »Heute«.“) Er
stellt sich also ganz klar auf die Seite von Leuten, die
auf etwas verzichten, um auf einer anderen Seite dafür
größere Freiheit zu erlangen.
Zweitens,
Nietzsche sieht diesen Verzicht nicht als Tugend an und
zwar deshalb, weil die Philosophen ihn zum eigenen Vorteil
einsetzen („…nicht, wie ich wieder und wieder
sagen muß, aus einer Tugend, aus einem verdienstlichen
Willen zur Genügsamkeit und Einfalt…“).
Was man also zum eigenen Vorteil tut, ist nicht verdienstlich
und daher keine Tugend. Eine Tugend ist nur, wenn man keinen
persönlichen Vorteil daraus zieht. Eine Tugend ist
etwas nur dann, wenn man etwa Sinnloses tut, wenn man sich
selber wehtut, bloß um sich wehzutun. Das ist eine
aus Sicht des einzelnen Menschen groteske Ansicht.
Während
Nietzsches Identifikation mit den Philosophen ihn auf die
individuelle Seite der Unterscheidung stellt, bugsiert ihn
seine Charakterisierung der Tugend wieder auf die kollektive
Seite. Denn ein Individualist, also ein Mensch, der für
sich selbst denkt, wird sich nie einreden lassen, dass eine
Tugend etwas sei, das man nicht zum eigenen Vorteil verwendet.
Ganz im Gegenteil: Tugenden sollen uns zu einem besseren
Leben verhelfen, das bessere Leben ist unser Vorteil. Was
sind denn Tugenden auch anderes als Gewohnheiten, mittels
derer wir versuchen, gute Handlungen, die wir häufig
ausführen sollten, zu automatisieren, sodass wir nicht
jedes Mal an sie denken müssen und nicht jedes Mal
eine separate Entscheidung für sie treffen müssen.
Tugenden erleichtern uns das Leben, indem sie es vereinfachen.
So
denkt ein individueller Denker. Wenn man hingegen sagt,
die Philosophen übten Verzicht nicht aus Tugend, weil
sie die Genügsamkeit nicht um der Genügsamkeit
willen anstrebten, sondern um einem Mehr an Freiheit willen,
dann akzeptiert man eine fremde Definition von „Tugend“,
nämlich jene der Gemeinschaft/Gesellschaft. Man überlegt
sich also die Dinge nicht selber, sondern akzeptiert die
Darstellungen der Gruppe. Und das zeigt deutlich, dass Nietzsche
nach meiner Definition kein Philosoph war.
2. Der Künstler
„Sie
waren zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral oder
Philosophie oder Religion; ganz abgesehn noch davon,
daß sie leider oft genug die allzu geschmeidigen
Höflinge ihrer Anhänger- und Gönnerschaft
und spürnasige Schmeichler vor alten oder eben
neu heraufkommenden Gewalten gewesen sind. Zum mindesten
brauchen sie immer eine Schutzwehr, einen Rückhalt,
eine bereits begründete Autorität: die Künstler
stehen nie für sich, das Alleinstehn geht wider
ihre tiefsten Instinkte."
|
Zum
Künstler sagt Nietzsche nicht viel, was mir bei meinem
Thema weiterhelfen würde, denn er sagt nur: „Was
bedeuten also asketische Ideale? Im Falle eines Künstlers,
wir begreifen es nachgerade: gar nichts!... Oder so vielerlei,
daß es so gut ist wie gar nichts!...“ Also hier
gibt’s nichts zu besprechen.
Andererseits
ist es dann aber doch interessant, dass Nietzsche die Künstler
als rückgratlose Opportunisten hinstellt, die ihre
Köpfe nach dem Zeitgeist drehen. Er nimmt dabei die
Haltung „…sie, die Künstler“ ein
und grenzt sich selbst als Philosoph von den Künstlern
ab. Damit überlässt er aber die Definition von
„Künstler“ den Anderen, der Gemeinschaft/Gesellschaft.
Wenn
er eigensinniger, individualistischer gedacht hätte,
hätte er ja auch sagen können: „Aber ich
bin doch auch ein Künstler. Ich schreibe Gedichte,
Parabeln, Erzählungen und sogar Musik. Und für
mich ist die Kunst etwas Ernstes, eine Wahrheitssuche mit
sinnlichen Mitteln. Es ist der Versuch, ob man nicht durch
den Schleier des Alltags schauen kann, um etwas Beispielhaftes
und Relevantes zu erkennen.“
Dann
hätte er auch weiterdenken können: „Als
Künstler braucht man Zeit, um etwas schaffen zu können.
Es wird wohl gut sein, wenn man sich in anderen Lebensbereichen
einschränkt (sich in Tugend übt, asketisch lebt),
um sich diesen Freiraum zu schaffen.“ Aber so dachte
Nietzsche nicht. Offenbar war er keiner, der für den
einzelnen Menschen nachdachte, darüber, welche Handlungsmöglichkeiten
der Einzelne hat und wie er sie am besten nützen kann.
3.
Der Priester
„Der
asketische Priester muß uns als der vorherbestimmte
Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten:
damit erst verstehen wir seine ungeheure historische
Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein
Reich…“ |
Als
dritte Figur kommt der Priester ins Spiel. Dem Priester
gilt das Leben auf Erden als Brücke zum Leben nach
dem Tode. Daraus folgt: Wenn du hier keinen Spaß hast,
dann leide absichtlich noch mehr – im Himmel wird
man es dir vergelten! Nietzsche erklärt, wie der Priester
es macht, dass er den Leidenden die Rachegefühle nimmt,
nämlich indem er ihnen sagt, sie seien selber schuld
an ihrem Unglück.
Aber
dann kommt ein interessanter Aspekt: Nietzsche sagt nämlich
auch, dass die Nächstenliebe – ein Instrument,
das der Priester einsetzt – zur Herdenbildung führt:
„In einem dergestalt hervorgerufnen »Willen
zur Gegenseitigkeit«, zur Herdenbildung, zur »Gemeinde«,
zum »Zönakel« muß nun wiederum jener
damit, wenn auch im kleinsten, erregte Wille zur Macht,
zu einem neuen und viel volleren Ausbruch kommen: die Herdenbildung
ist im Kampf mit der Depression ein wesentlicher Schritt
und Sieg.“ Dann sagt er aber: „Denn man übersehe
dies nicht: die Starken streben ebenso naturnotwendig auseinander,
als die Schwachen zueinander…“ Hier stellt sich
also Nietzsche wieder auf die Seite der Einzelnen (der Starken)
und gegen die Gemeinschaft/Gesellschaft, die von den Schwachen
gebildet wird und die er als „Herde“ verunglimpft.
Ist
das aber wirklich so, steht Nietzsche auf der Seite der
Einzelnen und wendet sich gegen die Gemeinschaft/Gesellschaft?
Das sieht vielleicht auf den ersten Blick so aus, wenn man
nicht berücksichtigt, dass Nietzsche auf die Begriffe
„Krankheit“ und „Gesundheit“ abstellt:
„Der Wille der Kranken, irgendeine Form der Überlegenheit
darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu
einer Tyrannei über die Gesunden führen –
wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten
zur Macht!“ Das Wort „krank“ kommt (als
eigenes Wort oder als Wortteil) in dem Text 72mal vor, das
Wort „gesund“ 21mal: Es scheint ein medizinischer
Text zu sein, kein ethischer.
Man
bekommt den Eindruck, Nietzsche wolle die Menschheit vor
der Degeneration schützen. Die Menschheit, das bedeutet:
die Gemeinschaft/Gesellschaft. Er will also die Gemeinschaft/Gesellschaft
vor der Gemeinschaft/Gesellschaft schützen, indem er
die Mehrheit in der Gemeinschaft/Gesellschaft verunglimpft.
Mich erinnert das an einen Titel, den ich mal einem Artikel
über Niklas Luhmanns Ideen über Protestbewegungen
gegeben habe. Er hieß: „In der Gesellschaft
für die Gesellschaft gegen die Gesellschaft“.
Luhmanns Hauptidee war einfach: Protestbewegungen wollen
oft etwas in der Gesellschaft verbessern, aber sie verstehen
nicht, wie die Gesellschaft funktioniert. Deshalb versetzen
sie ihr oft nur einen kräftigen Stoß und wundern
sich dann, warum die Gesellschaft danach wieder in ihr altes
Gleis zurückkippt.
4.
Die modernen Wissenschaftler, Philosophen (freien Geister)
und Historiker
„…und
hiermit lasse ich meine »fröhliche Wissenschaft«
zu Worte kommen, vgl. deren fünftes Buch: (II
208) – »der Wahrhaftige, in jenem verwegenen
und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft
voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die
des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern
er diese ›andre Welt‹ bejaht, wie? muß
er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt,
unsre Welt – verneinen?...“
|
Die
modernen Wissenschaftler, Philosophen und Historiker kann
ich zusammenfassen. Was Nietzsche an ihnen stört, ist,
dass sie „noch“ an die Wahrheit glauben. Das
ist ein Punkt, der unsere heutige Zeit, die noch viel wissenschaftsgläubiger
ist als die Nietzsches, verwundern mag: Wie kann man denn
nicht an die Wahrheit glauben?
Aber
in dem Punkt verstehe ich Nietzsche durchaus: Wissenschaft
und wissenschaftliche Philosophie verfolgen ein Konzept
von absoluter Wahrheit, das man folgendermaßen beschreiben
könnte: Stell dir eine Art von Erkenntnis vor, die
endlos viel Zeit zum Erkennen hat, dazu riesige, nahezu
unbeschränkte finanzielle und materielle Mittel und
obendrein noch endlose Kolonnen von wissenschaftlichem Personal
– was dabei herauskommt, ist eine Art von Erkenntnis,
die so ausführlich und umfassend ist, dass der der
einzelne Mensch mit ihr nicht mehr viel anfangen kann, weil
sie seine beschränkten Fähigkeiten und Mittel
bei weitem übersteigt. (D.h. sie passt nicht in die
Welt, in die Lebenswelt, des einzelnen Menschen.)
Wenn
man sich eine Erkenntnisweise für den einzelnen Menschen
wünscht, die ihm zugänglich ist, ist es daher
vernünftig, den Kreis der Erkenntnis enger zu ziehen,
also z.B. von „der“ Wahrheit abzugehen und ihn
auf das „Leben“ zu beschränken. Aber das
kann natürlich nur das Leben des je einzelnen Menschen
sein, denn sein eigenes Leben ist das einzige, von dem er
Expertise hat. In dem Sinne interpretiere ich Nietzsches
Zitat aus der Fröhlichen Wissenschaft: Der Wahrhaftige
bejaht eine absolute, objektive Welt, aber das ist nicht
die Welt, in der er lebt, es ist nicht seine Lebenswelt.
Hier scheint Nietzsche also wiederum für das Individuum
zu denken.
Wenn
nun aber Nietzsche diese Abkehr von der absoluten Wahrheit
so zu bewerkstelligen versucht, indem er sagt, „die“
Wahrheit bekomme uns Menschen nicht, denn sie sei schädlich
für „das“ Leben, dann kommt er von „der“
Wahrheit in Wirklichkeit gar nicht weg. Denn eine Behauptung
über „das“ Leben erfordert ja wiederum
gesichertes Wissen, es erfordert also wiederum „die“
Wahrheit über „das“ Leben. Und solange
ich bei „der“ Wahrheit stehenbleibe, bleibe
ich auch auf der Seite der Gemeinschaft/Gesellschaft, denn
in jeder Epoche ist es das Kollektiv, das bestimmt, was
für wahr gehalten wird. So etwas Wichtiges überlässt
man nicht dem Individuum.
Wenn
ich hingegen wirklich den Geltungsanspruch meines Denkens
einschränken will, dann muss ich sagen: „Ich
weiß nicht, was die Wahrheit ist und auch nicht, was
gut oder schlecht für das Leben ist – ich kann
nur sagen, wie es mir geht und wie dies oder jenes mir hilft
oder mein Leben beeinträchtigt.“
Anders
gesagt, wenn man das Leben und nicht die Wahrheit in den
Mittelpunkt des eigenen Denkens stellt, dann muss man es
richtig machen. Dann geht es nicht an zu sagen, die asketischen
Ideale seien nicht förderlich für die Menschheit
oder sie seien wider den guten Geschmack. Denn was förderlich
für die Menschheit ist, kann ich nicht behaupten, solange
ich nicht Inhaber „der“ (absoluten) Wahrheit
bin, der ich aber erst werde, nachdem ich die Gemeinschaft/Gesellschaft
von meinen Ideen überzeugt habe. Woraus folgt, dass
Nietzsche in seinem Text von Dingen spricht, die einen Selberdenker
absolut nichts angehen und ihn als Philosophen auch nicht
interessieren sollten: von der Gesundheit der Europäer.
„Ins
große gerechnet, so hat sich das asketische
Ideal und sein sublimmoralischer Kultus […]
auf eine furchtbare und unvergeßliche Weise
in die ganze Geschichte des Menschen eingeschrieben;
und leider nicht nur in seine Geschichte... Ich wüßte
kaum noch etwas anderes geltendzumachen, was dermaßen
zerstörerisch der Gesundheit und Rassen-Kräftigkeit,
namentlich der Europäer, zugesetzt hat als dies
Ideal; man darf es ohne alle Übertreibung das
eigentliche Verhängnis in der Gesundheitsgeschichte
des europäischen Menschen nennen.“ |
Seitenhieb:
guter Geschmack
„Der
asketische Priester hat die seelische Gesundheit verdorben,
wo er auch nur zur Herrschaft gekommen ist, er hat
folglich auch den Geschmack verdorben in artibus et
litteris – er verdirbt ihn immer noch. […]
Ich
liebe das »Neue Testament« nicht, man
errät es bereits; es beunruhigt mich beinahe,
mit meinem Geschmack in betreff dieses geschätztesten,
überschätztesten Schriftwerks dermaßen
alleinzustehn (der Geschmack zweier Jahrtausende ist
gegen mich): aber, was hilft es! »Hier stehe
ich, ich kann nicht anders«, – ich habe
den Mut zu meinem schlechten Geschmack.“
|
Mir
ist bewusst, dass das mit dem Geschmack ein Seitenthema
ist. Aber wann immer Nietzsche vom guten oder schlechten
Geschmack spricht, wirft es mich derartig aus meiner Bahn,
dass mir schlagartig klar wird: Er und ich gehören
nicht zur selben Art von nachdenkenden Menschen.
Mein
Punkt ist, dass man als einzelner Mensch gar nie behaupten
kann, man habe einen „guten Geschmack“. Das
Urteil, wer „guten Geschmack“ hat und die Kriterien
dafür kommen immer von den Anderen. Der „gute
Geschmack“ ist eine Disziplinierungsmaßnahme
der Mitmenschen, um auf den Einzelnen einzuwirken und ihn
zu zähmen. Man selber kann nur sagen, dass einem etwas
schmeckt oder nicht schmeckt, aber nicht dass man einen
guten Geschmack hat, wenn einem etwas schmeckt oder gefällt.
Wenn
nun Nietzsche sagt, er habe den Geschmack der Gesellschaft
zweier Jahrtausende gegen sich, wenn es um die Beurteilung
des Neuen Testaments der Bibel geht, dann befindet er sich
damit eigentlich ohnehin bloß eine Zehenspitze davon
entfernt, seinen eigenen Irrtum einzusehen: Die Gemeinschaft/Gesellschaft
hat ein Monopol darauf zu bestimmen, was „guter Geschmack“
ist, und wenn die Anderen (entweder die Mehrheit der Gesellschaft
oder die angeseheneren gesellschaftlichen Schichten) meinen,
etwas sei ehrwürdig und respektabel und ein Einzelner
(Nietzsche) dagegen meint, es sei „schlechter Geschmack“,
dann hat immer der Einzelmensch Unrecht, und zwar einfach
deshalb, weil er allein ist und der gute Geschmack von der
Gruppe bestimmt wird.
Nietzsche
sieht das auch ein, was man daran erkennt, dass er sagt:
„…ich habe Mut zu meinem schlechten Geschmack“,
aber er sieht nicht, dass er sich in der Folge selbst widerspricht,
wenn er weiterhin der Gemeinschaft/Gesellschaft vorwirft,
einen schlechten Geschmack zu haben.
Schopenhauer
und das Schöne
Noch
einmal zurück an den Anfang: Nietzsche identifiziert
sich, wie gesagt, mit den Philosophen. Und er zitiert Schopenhauer
als Beispiel für einen Philosophen. Er verstehe, sagt
Nietzsche, Schopenhauers persönliche Feindschaft gegen
die Sinnlichkeit und die Sexualität kommentierend,
dass Philosophen sich einschränkten, weil sie dadurch
auf der anderen Seite mehr Freiheit gewännen.
Doch
dann sagt er etwas Merkwürdiges: Er sagt, Schopenhauer
habe Kants Idee vom Schönen falsch verstanden. Kant
hatte das Schöne als „interesseloses Wohlgefallen“
bestimmt. Und Schopenhauer hatte das so verstanden, dass
es sich um etwas handelt, das einem gefällt, ohne dass
es einen sexuell erregt und das einen vielleicht sogar noch
vom eigenen Sexualtrieb ablenkt, wenn man sich intensiv
damit beschäftigt. Das gefiel Schopenhauer sehr, weil
er sich von seinem eigenen sexuellen Begehren ablenken wollte.
Worauf Nietzsche sagt: Das mag hundertmal für Schopenhauer
stimmen, aber damit ist noch nicht gesagt, dass es wirklich
so ist.
„Aber
gesetzt, daß Schopenhauer hundertmal für
seine Person recht hätte, was wäre damit
für die Einsicht ins Wesen des Schönen getan?
Schopenhauer hat eine Wirkung des Schönen beschrieben,
die Willen-kalmierende – ist sie auch nur eine
regelmäßige? Stendhal, wie gesagt, eine
nicht weniger sinnliche, aber glücklicher geratene
Natur als Schopenhauer, hebt eine andre Wirkung des
Schönen hervor: »das Schöne verspricht
Glück«, ihm scheint gerade die Erregung
des Willens (»des Interesses«) durch das
Schöne der Tatbestand.“
|
Es
ist wirklich erstaunlich, so etwas von einem Philosophen
zu lesen. Ich hätte immer gedacht, Philosophie bestehe
darin, das für einen selbst Wahre und Richtige zu finden.
Und wenn man das bei einer Frage geschafft hat, dann hat
man als Philosoph seine Schuldigkeit getan. Um die Wahrheit
für alle Menschen und um die Wahrheit für die
Gemeinschaft/Gesellschaft mag sich die Wissenschaft kümmern.
Die Philosophie kümmert sich – im Gegensatz zur
Wissenschaft – nur um die Wahrheit für einen
selber.
Im
Sinne meiner Definition von „Philosophie“ hätte
Schopenhauer seine Funktion als Philosoph voll erfüllt,
indem er die Schönheit für seine eigene Person
bestimmte. Das folgt einfach daraus, dass ein Philosoph
bloß ein Mensch ist, der nachdenkt – und nachzudenken
bedeutet, für einen selbst nachzudenken. Nietzsche
will aber nun aus dieser subjektiven Sicht der Welt, der
Welt, wie sie Schopenhauer erschien, aussteigen und behaupten,
er, Nietzsche, wisse, was die Schönheit für „den“
Menschen sei. Stendhal hatte eine bessere Bestimmung des
Schönen, ätzt er, und das sei deswegen so, weil
Stendhal ein gelungeneres Exemplar der Gattung Mensch sei
als Schopenhauer.
Was
daran nicht stimmen kann, ist, dass kein Mensch –
und auch Nietzsche nicht – aus seiner eigenen Haut
herauskann und Nietzsche deshalb auch nicht wissen kann,
was das Schöne für „den“ Menschen
ist (ähnlich wie er nicht wissen kann, aus seiner subjektiven
Perspektive, was die Gesundheit für „den“
Menschen ist). Nietzsche konnte nur wissen, wenn er sich
darum bemühte, was das Schöne für Nietzsche
ist – und es wäre intellektuelle Redlichkeit
gewesen, also gutes Philosophieren, sich darauf zu beschränken
und zu sagen: „Und so erlebe ich das Schöne.“
Doch, wie man sieht, schlägt sich Nietzsche hier wieder
auf die Seite der Gemeinschaft/Gesellschaft und polemisiert
gegen Schopenhauer, weil dieser nur ein Einzelmensch und
also allein war.
Das
Problem
Das
eigentliche Problem, das man beim Selberdenken hat, ist
immer wieder dasjenige, dass die Gemeinschaft/Gesellschaft,
das Kollektiv oder das Allgemeine die Autobahn ist und man
selber als der Geisterfahrer erscheint. Dieses Problem löst
sich nicht dadurch auf, indem man – so wie Nietzsche
– sagt: „Die Gemeinschaft/Gesellschaft fährt
in die falsche Richtung, und nur ich weiß die richtige
Richtung.“ Denn: Solange man eine andere Richtung
als die Gemeinschaft/Gesellschaft will, ist es die falsche
Richtung, auch wenn die Gemeinschaft/Gesellschaft –
objektiv – selbst in die falsche Richtung ziehen sollte.
Der
Wille der Gemeinschaft/Gesellschaft ist ihr Königreich,
und der einzelne Mensch hat kein Königreich, weil er
allein ist. Nietzsche scheint sich in seinem Text über
die asketischen Ideale an einigen Punkten auf die Seite
des Individuums zu schlagen und gegen die Gemeinschaft/Gesellschaft
Stellung zu beziehen, aber dann wechselt er unvermittelt
wieder die Seiten, rügt Schopenhauer, weil seine Einsicht
nur für ihn selbst gegolten haben mag und stellt sich
in den Dienst der Gesundheit der Europäer, eine Aufgabe,
die, weil sie der Gemeinschaft/Gesellschaft dient, natürlich
viel wichtiger ist als der Dienst am und die Sorge um den
einzelnen Menschen.
Allein
dadurch, dass man sich in einen Gegensatz zur Gemeinschaft/Gesellschaft
stellt, versündigt man sich gegen sie. Und sobald man
selber nachdenkt, ist es unvermeidlich, sich in einen Gegensatz
zur Gemeinschaft/Gesellschaft zu bringen, denn jeder einzelne
Gedanke ist ein Schritt in eine eigene, selbstgewählte,
Richtung und gegen jene der Gemeinschaft/Gesellschaft; jeder
einzelne eigene Gedanke ist eine Anmaßung gegenüber
den herrschenden Überzeugungen und Glaubenssätzen.
„An
diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit
geht von nun an – daran ist kein Zweifel –
die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in
hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten
Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste
und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele...“ |
Aus
dem Grund sehe ich auch nicht, dass die Moral vor die Hunde
gehen sollte. Solange die Gemeinschaft/Gesellschaft größer
und stärker ist als der einzelne Mensch, wird die Moral
herrschen. Die Moral ist nämlich selbst nichts anderes
als Ausdruck der Herrschaft der Gruppe über das Individuum.
Denn Moral, das sind die Erwartungen und Forderungen, welche
die Gemeinschaft/Gesellschaft an den Einzelnen stellt. Solange
die Gruppe stärker ist als der Einzelne – und
das wird immer so sein – wird sie Forderungen an den
Einzelnen stellen. Es mag nun heute nicht mehr die Moral
des Christentums sein, aber dann ist es eben die der Political
Correctness, der Social Compliance, Good Scientific Practice
oder Corporate Social Responsibility. Es macht ja keinen
Unterschied, welchen Namen man der Moral gibt, gleich bleibt
immer: Die Gesellschaft etabliert einzelne Normen und Erwartungen
an Organisationen und Individuen und diese müssen sie
einhalten.
Aus
meiner Analyse geht hervor, dass Nietzsche augenscheinlich
kein Selberdenker war – und damit, nach meiner Definition,
auch kein Philosoph – weil er der Welt zeigen wollte,
wo es lang geht. Jemand, der der Welt zeigen will,
wo es lang geht, ist ein Politiker und kein Philosoph. Er
denkt aus der Sicht eines Philosophen über Dinge nach,
die ihn nichts angehen und über die er auch nichts
wissen kann, außer er maßt es sich an, seine
individuelle Lebenserfahrung über die gesamte Gemeinschaft/Gesellschaft
zu stülpen und von ihr zu fordern: „Werdet alle
nach meiner Fasson glücklich!“
Das
alles wäre allerdings kein Thema, wenn es bei Nietzsche
nicht deutliche Ansätze zum Selberdenken gäbe.
Seine Wissenschaftskritik ist ein deutliches Anzeichen davon:
In Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
suchte er nach einer Gestalt von Wissen, das die Menschen
nicht zu wandelnden Enzyklopädien macht, sondern sich
aufnehmen, „verdauen“ und verkörpern lässt,
sagen wir: nach einem Wissen mit menschlichem Maß.
Und der Text über die „asketischen Ideale“
enthält ebenfalls einen interessanten Ansatz in der
Theorie, dass sie sich vom einzelnen Menschen als Tugenden
verwenden lassen, um in anderen Lebensbereichen ein Mehr
an Freiheit und Spielraum zu gewinnen. Leider war Nietzsche
zu sehr darauf fixiert, die Europäer vor der Degeneration
zu retten, als dass er dieses interessante Thema entwickeln
hätte können. Und interessant ist es tatsächlich:
Denn heute erfahren Frugalisten den Vorwurf, sie seien „anale
Charaktere“ (nach Freudscher Begrifflichkeit) und
würden sich aus der Gemeinschaft/Gesellschaft herausnehmen
wollen. Kurz: Sie sind nicht bereit, ihre Rolle in der Gesellschaft
zu spielen.
Aber
weil Nietzsche, trotzdem er sich selber zu den Allein-Stehenden
und Selberdenkern zählte, immer wieder in die Rolle
des Politikers und Philosophenkönigs zurückfiel,
blieb ihm das eigentliche Problem des Philosophierens verborgen:
dass man sich immer sofort ins Unrecht setzt, sobald man
(im Sinne der Aufklärung) sich seines eigenen Verstandes
bedient. Man setzt sich ins Unrecht, weil man sich in einen
Gegensatz zur Gemeinschaft/Gesellschaft begibt. Im Einklang
mit der Gemeinschaft/Gesellschaft kann man nur solange bleiben,
als man nicht selbst denkt, sondern im Pudding der gemeinschaftlichen
Weltanschauung passiv mitwabbert. Man wird zum Geisterfahrer,
sobald man selber nachdenkt. Und dabei es ist völlig
egal, ob die gesamte Gesellschaft in die verkehrte Gesellschaft
fährt. Wenn die Gesellschaft in eine Richtung fährt
und du fährst in eine andere, dann bist du der Geisterfahrer.
Meine
Erfahrung ist, dass man die Menschen verärgert, sobald
man selber denkt und ihnen seine Gedanken mitteilt. Sie
sind verärgert, weil sie vom selbstdenkenden, vom philosophierenden
Menschen andere Gedanken hören als die, die sie gewohnt
sind, während sie mit der Masse mitleben. Das Problem
dabei, denke ich, liegt aber nicht in „wahr/richtig“
oder „falsch“, diese Begriffe lenken uns nur
ab. Sondern das eigentliche Problem liegt darin, dass ein
Mensch, der selber denkt, sich nicht mit einem verständigen
kann, der „für alle“ oder für die
Gemeinschaft/Gesellschaft denkt.
Solange
ein Mensch sich selbst als Mitglied einer Gemeinschaft/Gesellschaft
fühlt, wird er sich über die Gedanken erbosen,
die ein selbstdenkender Mensch ihm mitteilt. Er
müsste zuerst so sehr von der Gemeinschaft/Gesellschaft
enttäuscht, verstoßen und in einem derartigen
Ausmaß zum Außenseiter werden, dass er zu einem
Individuum wird, das auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko
über sein Leben und die Welt nachdenkt. Erst dann könnte
er einem anderen Individuum gegenübertreten und hören,
was es zu sagen hat.
Aber
da die allermeisten Menschen lieber Mitglieder einer Gemeinschaft/Gesellschaft
sind als Außenseiter, werden sie die Philosophie hassen
und philosophische Gedanken als die hilflosen Rachegelüste
von gesellschaftlichen Verlierern ansehen. Sie werden sie
als abseitige Außenseitermeinungen bezeichnen. Sie
werden sich voller Abscheu abwenden und froh sein, dass
sie „normal“ sind. Und natürlich haben
sie – aus ihrer Sicht – recht damit. Die Anschauung
aber, dass sich etwas wie „sich seines eigenen Verstandes
zu bedienen“ im Sinne des Kantischen Aufklärungsbegriffs
innerhalb der Gemeinschaft/Gesellschaft verwirklichen lässt,
ist eine Illusion. Innerhalb der Gesellschaft geben Ideologien
(und seien es wissenschaftliche Ideologien) den Rahmen für
das Erlaubte im Denken vor, und wer sich in einem Punkt
über die Grenze, die die Ideologie zieht, hinausbewegt,
wird für die Anderem zum Gemeinschafts- und Gesellschaftsfeind,
zum Asozialen und zu einer moralischen Bedrohung.
Die
Menschen halten an ihrer (linken oder rechten, christlichen,
wissenschaftlichen oder anderen) Ideologie fest als Zeichen
ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe und sind sich sicher,
dass der einzelne Mensch mit seiner Meinung Unrecht hat,
weil er allein steht. Und selbst, wenn die Gruppe nicht
recht haben sollte, so ist es ihnen doch lieber, zur Gruppe
zu gehören als allein zu sein, denn es hat schließlich
keinen Wert, die Wahrheit zu besitzen, wenn die Gemeinschaft/Gesellschaft
sie nicht teilt. (Das gilt auch für die heutige Wissenschaft
und für die wissenschaftliche Philosophie, die durch
den Peer Review institutionalisiert haben, dass die Gemeinschaft/Gesellschaft
(in Gestalt der Peers, die die Arbeit des Einzelnen beurteilen)
die Priorität vor der individuellen Einsicht hat.
Für
den einzelnen Menschen, der selbst über die Welt nachdenkt,
ergibt sich daraus unter anderem, dass er, wenn er einem
anderen Menschen seine Gedanken mitteilt, zuerst einmal
abschätzen sollte, ob ihm dieser andere Mensch als
Individuum oder als „Agent der Gesellschaft“
(Ralf Dahrendorf) gegenübertritt, beziehungsweise ob
dieser andere Mensch von seiner Persönlichkeit und
seinem Charakter her überhaupt die Fähigkeit besitzt,
anderen Menschen als einzelner Mensch zu begegnen oder ob
er so sehr von seinem Über-Ich (der Gemeinschaft/Gesellschaft)
geleitet wird, dass er mit seinem Ich nie bekannt geworden
ist.
Wenn
es aber tatsächlich einmal vorkommen sollte, dass zwei
Menschen einander als Individuen begegnen – in diesem
seltenen Glücksfall – sollte sich das dadurch
zeigen, dass sie einander ausschließlich von ihren
eigenen Gedanken und Lebenserfahrungen berichten und sich
nicht als Anwälte der Wahrheit, die für alle Menschen
gilt, oder, wie Nietzsche es macht, als Verteidiger der
Gesundheit der europäischen Rasse präsentieren.
Mit einem Menschen, der hinter sich die gesamte Geschichte
der Menschheit und die Gesundheit Europas hat, kann man
als einzelner Mensch nämlich gar nicht sprechen: Er
ist viel zu groß und aufgeblasen, um noch die Ebene
treffen zu können, auf der sich abspielt, was das einzelne
menschliche Individuum betrifft und interessiert.
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