Riding
on a smile and a shoeshine
Eine
neue Lektüre von Arthur Millers “Death of a Salesman”
(1948)
Arthur
Miller: Death of a Salesman. Penguin Books, London
2000 (1. Aufl. 1949).
von
Helmut Hofbauer (Wien, 24.8.2019)
Kennen
Sie auch solche Leute, die unbescheiden sind in einem Ausmaß,
dass es wehtut? Aber ich meine nicht nur, dass sie Angeber
sind, Aufschneider, die halt eine große Klappe haben,
sondern dass sie sich auch überall vordrängen
und andere Leute rücksichtslos zur Seite schieben?
Also Leute, bei denen man sich denkt: „Jetzt krieg
dich doch einmal ein! Weißt du denn nicht, wo deine
Grenzen sind?“
Solche
Menschen habe ich immer nur sehr schwer ertragen können.
Warum verhalten sie sich so, wie sie es tun? Das konnte
ich mir nicht erklären. Es muss wohl an einem psychischen
Schaden liegen, der dieserart Menschen daran hindert, sich
zu verorten und sich einzuordnen, meinte ich. Die Lektüre
von Arthur Millers Theaterstück „Death of a Salesman“
(1948) hat mir geholfen, diese aufgeblasenen Menschen besser
zu verstehen.
Nun,
die Antwort auf die Frage, warum sich solche Menschen so
(maßlos) verhalten, wie sie es tun, lautet kurz und
bündig: Solange sie etwas verkaufen wollen, müssen
sie sich so verhalten. Charley, der Nachbar des Vertreters
Willy Loman, sagt es am Ende des Stücks, im „Requiem“,
ganz deutlich: „And for a salesman, there is no rock
bottom to the life. […] He is a man way out there
in the blue, riding on a smile and a shoeshine.“ (S.
111) Das bedeutet: Ein Verkäufer ist ein Mensch, der
jede Bodenhaftung verloren hat. Er schwebt gleichsam durchs
Leben, auf einem Lächeln und dem Glanz seiner Schuhe.
Kein Wunder also, dass dieses fliegende, dieses abgehobene
Geschlecht Verachtung hegt für uns normale Zweifüßler
und Fußgänger.
Die
herkömmliche, meines Erachtens nach falsche, Interpretion
von "Death of a Salesman" als Kritik am "American
Dream"
Zum
Hintergrund meines Texts muss ich bemerken, dass dieses
Theaterstück in der Schule an mir vorbeigegangen ist.
Denn es gehört ja üblicherweise zur Schullektüre.
Sodass ich es also erst jetzt gelesen habe. Und mir beim
Lesen gedacht habe: „Wow, das bringt in meinem Erkenntnissystem
ein paar Puzzlesteine zusammen.“ Doch dann las ich,
wie ich das üblicherweise tue, wenn mich ein literarischer
Text interessiert, ein paar Interpretationen im Internet
– und war überrascht über die Ahnungslosigkeit
dieser InterpretInnen. Ja, sind denn die gar nicht imstande,
etwas in dem Stück zu sehen? (Warum muss ich denn auf
alles immer selber draufkommen?)“
Im
englischen Wikipedia-Eintrag zu dem Stück ist zu lesen:
„One analyst of the play writes: "Society tries
to teach that, if people are rich and well-liked, they will
be happy. Because of this, Willy thought that money would
make him happy. He never bothered to try to be happy with
what he had …”
Im
deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag steht: „Auch ist
die Kritik am Amerikanischen Traum ein zentraler Punkt des
Dramas. […] Am amerikanischen Traum wird somit kritisiert,
dass Wertvorstellungen einzig und alleine auf der Annahme
beruhen, die gesellschaftliche Bedeutung eines Menschen
leite sich lediglich von dessen Status und Stellung in dieser
ab.“
Auf
inhaltsangabe.de ist zu lesen: „[Das Drama] übt
Kritik am Kapitalismus und stellt den »American Dream«
in Frage. Auf owlcation.com schreibt Angela Michelle Schultz:
„In Willy’s case, his goal is so strongly motivated
by the love of money, he neglects his family.”
Soviel
Unsinn ist wirklich schwer auszuhalten. Er zeigt einmal
mehr, dass zwei Menschen durchaus nicht dasselbe sehen,
wenn sie ein Theaterstück anschauen oder einen literarischen
Text lesen. Im Extremfall können sie sogar das Gegenteil
von dem sehen, was der Andere darin sieht. Wenn man das
bedenkt, dann kann man auch darüber nachsinnen, wie
aussichtsreich es ist, als Theaterschriftsteller seine Ideen
dem Publikum am Beispiel einer theatralischen Handlung mitteilen
zu wollen Die
Chancen der erfolgreichen Kommunikation tendieren gegen
null.
Wenn
ich allerdings die zuvor zitierten Interpretationen zusammenfasse,
dann wird ersichtlich, dass sie alle in eine Richtung gehen,
was nahelegt, dass sie von einer gesellschaftlichen Ideologie
beeinflusst sind. Ja, sogar, dass sie gar keine andere konzeptuelle
Grundlage als diese gesellschaftliche Ideologie haben. Mit
einem Wort: Die InterpretInnen sehen in dem Stück dasjenige,
wovon sie vorher auch schon überzeugt gewesen waren.
Und
was ist das? Als wesentliche Unterscheidung kristallisiert
sich in den gängigen Interpretationen von „Death
of a Salesmen“ diejenige zwischen dem Materiellen
und dem Gefühl heraus. Das Materielle wird assoziiert
mit Geld, wirtschaftlichem Erfolg, und hohem sozialem Status.
Diese drei werden wiederum assoziiert mit dem amerikanischen
Traum, der besagt, dass der Mensch glücklich wird,
wenn er Geld, Erfolg und Status erreicht. Als andere Seite
der Unterscheidung stellt man sich vor: Liebe, Familiensinn
und Sich-Bescheiden-mit-dem-was-man-hat. Die Möglichkeiten
der Interpretation lauten dann:
- Der
amerikanische Traum funktionierte zur Zeit der ersten
Siedler, aber jetzt (1948) nicht mehr;
-
Willy Lomans Misserfolg als Vertreter zeigt, dass er für
den amerikanischen Traum nicht (mehr) geeignet ist;
-
Willy Loman läuft einem irreführenden Lebenstraum
nach (dem amerikanischen Traum), der ihn und seine Familie
ins Unglück stürzt;
-
Etc. In dieser Tonart weiter, Sie verstehen schon: die
Kritik der oberflächlichen amerikanischen Gesellschaft
eben.
Was
ist an der gängigen Interpretation falsch: Willy Loman
interessiert sich gar nicht für Geld und materielle
Güter!
Was
ist daran falsch? Falsch daran ist und nicht ins Bild passt,
dass Willy Loman sich für Geld und materielle Güter
überhaupt nicht interessiert. Seine Frau Linda hat
die Übersicht über die Finanzen, d.h. über
die laufenden Schulden, weil wieder die Rate für die
Hypothek, jene für die Reparatur des Kühlschranks
und die Versicherungsprämie zu bezahlen sind (S. 56-57).
Als Bernard, der Sohn des Nachbars, Willy daran erinnert,
dass Willys älterer Sohn Biff, Mathematik nachlernen
sollte, weil er sonst in diesem Fach durchfällt, bezeichnet
ihn Willy als einen „Wurm“ (S. 31). Rechnen
und Sich-Kümmern um die eigenen Finanzen erachtet Willy
als kleinlich. Das ist etwas für Wurm-Menschen, für
normale Menschen, aber nicht für überlebensgroße
Lomans.
Hier
liegt der Grundfehler nicht nur in der Interpretation von
Millers Drama, sondern generell im Verständnis von
Verkäufer-Menschen: dass man glaubt, es gehe ihnen
um das Materielle.
Worum
es Willy geht, sagt er auch ganz klar, wenn er zu Biff spricht:
„That’s just what I mean, Bernard can get the
best marks in school, y’understand, but when he gets
out in the business world, y’understand, you are going
to be five times ahead of him. That’s why I thank
the Almighty God you are built like Adonises. Because the
man who makes an appearance in the business world, the man
who creates personal interest, is the man who gets ahead.
Be liked and you will never want.” (S. 25-26)
„Werde
gemocht und du wirst niemals Not leiden.“ Was Willy
hier sagt, bedeutet nichts anderes als: Für die Mitglieder
der Familie Loman gelten andere Gesetze als für andere
Menschen. Diese Gesetze haben unter anderem damit zu tun,
dass die Söhne von Willy, Biffo und Happy, körperlich
gutaussehend sind, dass sie schöne Männer sind.
Das hilft ihnen, Eindruck auf andere Menschen zu machen,
und man verdient viel mehr dadurch, dass man von anderen
Menschen bewundert wird als durch harte, ehrliche Arbeit.
Willys
Problem ist nur, dass diese soziale Magie des Gemocht-Werdens
bei ihm selbst früher funktioniert haben mag, aber
jetzt funktioniert sie nicht mehr. Oder, wie Willys Nachbar
Charley bei Willys Begräbnis sagt: „He’s
a man way out there in the blue, riding on a smile and a
shoeshine. And when they start not smiling back –
that’s an earthquake. And then you get yourself a
couple of spots on your hat, and you’re finished.”
(S. 111) Also sobald die Menschen aufhören zurückzulächeln,
hört die Musik auf und der Reiter auf der Welle des
sozialen Enthusiasmus stürzt ab. Wenn sein Hut dabei
noch ein paar Flecken abbekommt, ist es aus mit ihm –
denn er sieht nicht mehr perfekt aus und wer nicht perfekt
aussieht, wirkt auf die Menschen lächerlich, nicht
großartig.
Die
Anatomie der Verkäufer-Persönlichkeit
Um
sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, dass es Willy
um Geld und wirtschaftlichen Erfolg geht, müssen wir
verstehen, warum er sich nicht mit den Familienfinanzen
befassen will und Rechnen für kleinlich und verächtlich
hält: Sein Verkaufserfolg hängt davon ab, dass
er seine Kunden davon ablenken kann, an ihre Finanzen zu
denken und sie davon abhält, ihre eigene ökonomische
Vernunft einzuschalten. Wäre er selbst ein Mensch,
der spart und rechnet, dann würde er auch seine Kunden
zu dem Gedanken anregen, ob denn das, was sie da kaufen
wollen, das Geld wirklich wert ist. Und in vielen Fällen
würden sie es nicht kaufen, wenn sie über die
Kosten nachdenken. Dagegen hilft nur eines: Der „Wow!“-Effekt
muss den Kunden vom kleinlichen Nachdenken über Kosten
ablenken. Und weil der „Wow!“-Effekt –
mit Ausnahme von Sportautos – meistens nicht im Produkt
selber liegt, muss der Verkäufer ihn mit seiner eigenen
Persönlichkeit erschaffen.
Der
Verkäufer ist, habe ich gesagt, ein Mensch, für
den die Regeln, die für normale Menschen gelten, nicht
gelten; er ist ein Mensch, der nicht auf zwei Beinen geht,
sondern der „fliegt“. Die Schwerkraft und auch
die ökonomischen Gesetze scheinen für ihn nicht
zu gelten. Während unsereins sparsam sein muss, wirft
der Verkäufer sein Geld mit vollen Händen beim
Fenster hinaus, und es kommt bei der Tür wieder herein.
Und wenn nun der Verkäufer etwas verkauft, dann hofft
der Käufer durch den Kauf etwas von dieser Leichtigkeit
des Seins abzubekommen. Das Gehen auf der Erde, das Arbeiten
und Sich-Abmühen sind ihm zuwider geworden; und nun
kommt da einer, der offenbar „weiß, wie es geht“,
sodass er sich nicht schinden muss, sondern gleichsam widerstandslos
über den Dingen schwebt. Vom Glanz dieses Stars scheint
man ein Stück abbekommen zu können, wenn man ihm
etwas abkauft, und es ist klar, dass man mehr dafür
ausgibt, als man eigentlich ausgeben wollte, wenn man dergleichen
ideelle Werte mit im Spiel sieht.
Was
die InterpretInnen, die meinen, Willy Loman jage dem amerikanischen
Traum von Geld, wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Status
nach, also nicht verstehen, ist, dass sie die Reihenfolge
vertauscht haben. Willy jagt nicht Geld nach, sondern viel
Geld zu verdienen ist für ihn nur ein Zeichen dafür,
dass er nach wie vor „fliegt“, dass er die Welle
des Erfolgs mithilfe seines Lächelns und dem Glanz
seiner Schuhe nach wie vor reitet. Er strebt auch nicht
nach sozialem Status, sondern ganz umgekehrt: Er geht davon
aus, ein Star zu sein und versucht, von seinem Star-Sein
zu leben.
Während
des Lesens habe ich mich gefragt, warum Willy Loman nicht
ganz einfach zufrieden sein kann: Ich meine, er hat seine
Familie ernährt, ein Haus abbezahlt und zwei gesunde
Söhne großgezogen. Das ist mehr als ich jemals
zusammenbringen werde. Aber die Antwort ist natürlich
sehr einfach: Er kann nicht zufrieden sein, weil sein beruflicher
Erfolg davon abhängt, dass er ein aufgeblasener Frosch
ist. Er kann sich nicht entspannen: Wie könnte er dann
seinen Kunden entgegentreten und ihnen das Land von Milch
und Honig vorspiegeln, in das sie eintreten werden, sobald
sie nur etwas von ihm kaufen?
Aufgrund
seiner Starallüren ist Willys Wahrnehmung in einigen
Aspekten gegenüber der von normalen Menschen verschoben:
- Zum
Beispiel lebt er nicht in der Gegenwart, sondern in der
Zukunft. Der Grund dafür ist einfach zu verstehen:
Willys Großartigkeit in der Gegenwart ist überschaubar
und diskutabel; aber mittels Versprechen bezüglich
der Zukunft kann er seine gegenwärtige Großartigkeit
vergrößern und Eindruck schinden.
-
Zweitens, Willy weitet sein Selbstverständnis auf
seine Söhne aus. Wiederum derselbe Grund: Seine gegenwärtige
Großartigkeit ist beschränkt, gesellen sich
aber der berufliche Erfolg von Biff und Happy dazu, dann
haben die Leute es mit einem Loman-Imperium zu tun. Dann
zeigt sich, dass die Lomans offenbar wissen, wie der Hase
läuft.
-
Drittens, Willy und seine Familie leben finanziell über
ihre Verhältnisse. Normalerweise wird es als ökonomische
Dummheit angesehen, wenn jemand finanziell über seine
Verhältnisse lebt. Diese Sichtweise scheint sehr
natürlich zu sein und aus dem Gedanken zu kommen:
Wenn man rechnen und planen würde, würde man
sehen, dass sich das finanziell nicht ausgeht. Aber Menschen,
die das so auffassen, übersehen, dass ein Verkäufer-Typ
nicht ein Charakter ist, der sich ökonomischen Gesetzen
beugt, sondern einer, der über sie triumphiert. Sie
gelten für ihn nicht, weil er mit seinem Charme fähig
ist, jederzeit sein Einkommen zu vergrößern.
Die
Beliebtheit, wie Willy es nennt, oder seine Fähigkeit,
auf seinem Lächeln und Schuhglanz zu reiten, heben
ihn aus den Niederungen der Wirtschaftswelt heraus; er schwebt
über diesen Dingen. Umgekehrt kann man sich vorstellen,
dass Willy für seine Familie immer die neuesten Haushaltsgeräte
gekauft hat, und zwar alle wahrscheinlich um eine Nummer
zu groß. Wiederum liegt der Grund dafür nicht
im Streben nach materiellen Gütern, nach Statussymbolen;
sondern umgekehrt: Sie sind nur Zeichen dafür, dass
die Gesellschaft Willy liebt und ihm alles gibt, was eines
besonderen Menschen würdig ist. Jetzt ist Willy in
finanziellen Schwierigkeiten, weil er die Raten für
all diese Dinge mit seinem Einkommen nicht mehr bezahlen
kann.
Aber
er verdient kein Mitleid, denn mit unserem bisherigen Wissen
über seine Persönlichkeit können wir davon
ausgehen, dass es ihm nie in den Sinn gekommen wäre,
Geld zu sparen und für sich und seine Frau die Pensionsvorsorge
zu planen. Mit so etwas sollen sich die Würmer der
Gesellschaft befassen, nicht die Adler!
Mit
seiner verschobenen – verrückten – Wahrnehmung
bringt Willy Unglück über seine Familie. Die täglichen
Geldsorgen sind eine permanente Belastung; tragisch aber
ist, wie Willy das Leben seines älteren Sohns Biffo
zerstört hat, indem er ihm erklärt hat, wie das
Leben seiner Meinung nach funktioniert, und indem er auch
Biffo dazu gedrängt hat, nach seines, des Vaters, Vorbild
zu leben.
Biff
formuliert es folgendermaßen: „And I never got
anywhere because you blew me so full of hot air I could
never stand taking orders from anybody!“ (S. 104)
Aus dem Grund hat Biffo jeden Job seit seiner High School-Zeit
verloren, beziehungsweise ihn sich selbst vermasselt. Aber
am Anfang war Biffo an der Mathematikprüfung und am
Mathematiklehrer, Prof. Birnbaum, gescheitert. Willy hatte
Biffo, der in seiner High School-Zeit Football-Star gewesen
war, so sehr mit „heißer Luft“ aufgeblasen
und ihm weisgemacht, dass er etwas Besonderes sei, dass
Biffo nicht mehr in der Lage gewesen war, sich zu harter,
mühsamer Arbeit, wie es beispielsweise Mathematik-Büffeln
ist, herunterzulassen. Es ist bezeichnend, dass Biffo das
Problem dadurch lösen wollte, indem er seinen Vater
bat, seine Autorität und seinen gesellschaftlichen
Status in die Waagschale zu werfen und noch einmal mit Prof.
Birnbaum zu sprechen und nicht etwa dadurch, dass er, Biffo,
die Summer School belegt und für seine Qualifikationsprüfung
in Mathe gelernt hätte. Am Ende hat Biffo gekniffen,
und das kostete ihm seinen Studienplatz an der University
of Virginia.
Auch
in seinem beruflichen Leben danach konnte Biff keinen Boden
mehr unter den Füßen finden; zuletzt landete
er sogar einige Monate im Gefängnis. Es ist klar, warum:
Willy wollte ihm beibringen zu fliegen; wer fliegt, hat
prinzipiell keinen Boden unter den Füßen.
Aber
auch das Leben seiner Frau und sein eigenes Leben macht
Willy mit seinem Größenwahn zur Hölle. Sein
übermenschengroßes Ego lässt es nämlich
nicht zu, dass er je zufrieden wäre. Willy wäre
nämlich im Grunde nicht am Ende, selbst in dem Augenblick
nicht, nachdem er seinen Job als Verkäufer verloren
hat. Sein Nachbar Charley bietet ihm einen Job für
50 Dollar die Woche an. Doch Willy kann sich nicht in derart
kleinliche Verhältnisse einfügen und lehnt das
Jobangebot deshalb ab. Schließlich war in seinem ganzen
Leben noch nie ein normaler hart-arbeitender Mensch gewesen.
Seine Lebenserfahrung hat ihm immer gezeigt, dass beruflicher
Erfolg damit einhergeht, nach persönlicher Größe
zu streben. Deshalb ist er unfähig, sich in aufgezwungene
Verhältnisse einzufügen. Anstatt dessen bringt
er sich mit dem Auto um mit der Idee, dass seine Familie
die Auszahlung seiner Lebensversicherung erhalten wird.
Willy
Lomans Verhalten als Beispiel für das so genannte „Handicap-Prinzip“
Was
ich glaube, dass die oben zitierten InterpretInnen von Arthur
Millers „Death of a Salesman“ nicht verstehen
und was auch wahrscheinlich auch die allermeisten SchülerInnen
nicht begreifen, die das Stück im Unterricht lesen,
ist, dass es darin nicht um Geld und Wirtschaft geht, sondern
um etwas viel Ursprünglicheres und Gewaltigeres: Um
die Tatsache, dass man mit Arbeit und wirtschaftlichem Geschick
bei weitem nicht so viel Geld verdienen kann als dadurch,
dass man andere Menschen beeindruckt und sie infolgedessen
bereit sind, einem Geld zu geben. Beliebtheit
und Überredungskraft schlagen Wirtschaft (hier: Wirtschaft
im Sinn von Ökonomie, also: Sparsamkeit).
Ein
Verkäufer-Mensch ist jemand, der von der Gemeinschaft
lebt. Er ist besonders hübsch, elegant, gepflegt, eloquent,
entschlossen, auf irgendeinem Gebiet talentiert etc. und
aufgrund dessen geben ihm die Leute ihr Geld. Er lebt von
den anderen Menschen, lebt von seiner Beliebtheit oder von
ihrer Beeindrucktheit. Zu dem Zweck muss er übrigens
nicht einmal sympathisch sein, sondern nur überlebensgroß,
größer als die Anderen, und den Eindruck vermitteln,
er wisse, wie die Welt funktioniert.
Und das Leben-von-der-Gemeinschaft funktioniert deshalb,
weil die Menschen sich nach Stars sehnen, nach Menschen,
denen alles zu gelingen scheint und die so toll sind, dass
die Gesetze der Schwerkraft für sie nicht zu gelten
scheinen. (Auch die sexuelle Partnerwahl funktioniert übrigens
nach dem „Wow!“-Prinzip, niemand will schließlich
einen normalen Menschen zum Partner.)
In
der biologischen Evolutionsforschung ist dieses Verhalten
übrigens schon seit 1975 beschrieben und zwar von den
israelischen Biologen Amotz und Avishag Zahavi,
die es das Handicap-Prinzip nannten. Dieses
Prinzip besagt: Wenn ein Lebewesen viel Energie sinnlos
verschwendet (wie z.B. der Pfau mit seinem langen Schwanz,
der ihn bei der Flucht vor Raubtieren behindert und also
ein Handicap für ihn darstellt) und trotzdem überlebt,
dann werden seine Artgenossen annehmen, dass dieses Exemplar
ganz besonders stark ist. Bei verschiedenen Tierarten nutzen
die Männchen das Handicap-Prinzip, um die Weibchen
zu umwerben. Aber warum sollte bei einem sozialen Lebewesen
wie dem Menschen das Handicap-Prinzip nur der sexuellen
Partnerwerbung dienlich sein und nicht auch der Gewinnung
von Fans und Bewunderern beiderlei Geschlechts mit dem Ziel,
eine Art Führerfigur in einer bestimmten Gemeinschaft
zu werden?
Meine
These ist also: Arthur Millers Theaterstück aus dem
Jahr 1948 ist eine ziemlich gelungene phänomenologische
Darstellung des Handicap-Prinzips mehr als 25 Jahre bevor
es von den Zahavis beschrieben wurde.
Warum
entwickeln Menschen ein blades Ego?
An
der Stelle komme ich zurück zu meiner eingangs gestellten
Frage: Warum haben manche Menschen ein so hypertrophes Ego?
Die Antwort ist: Weil es funktioniert! Weil sie damit einen
sozialen Mechanismus auslösen, der in der Psyche der
Menschen tief verankert ist und der die Angeber und Protzer
in die Lage versetzt, alles von den anderen Menschen zu
bekommen, was sie wünschen. Dabei geht es diesen Egomanen
am Ende oft selbst nur mehr um den Genuss des „Wow!“-Effekts:
Wenn zum Beispiel ein Verkaufstrainer für einen einzigen
Abendvortrag vor tausenden Menschen hunderttausend Euro
verdient, dann geht es ihm offensichtlich nicht mehr um
Geld und Reichtum, sondern nur mehr um das „Bin ich
nicht großartig!“
Mit
einem Wort: Es ist „verständlich“, dass
es solche Verkäufer-Typen gibt, weil es auch Menschen
gibt, die eine Schwäche für sie haben und bereit
sind, sie zu bewundern.
Wie
kommt die Verschwendung in die Wirtschaft?
Für
mich persönlich liegt hier die Antwort zu einem weiteren
Rätsel verborgen. Und zwar habe ich für meine
Zwecke zwischen zwei Arten von Wirtschaft unterschieden
und mich gefragt, wie sie nebeneinander existieren können.
Die eine Art der Wirtschaft nenne ich „Ökonomie“,
sie besteht im Rechnen, Planen und Auskommen mit dem, was
man hat; die andere nenne ich „Business“,
sie besteht darin, dass man hemmungslos Kredite aufnimmt
in der Hoffnung, man wird das Geld in Zukunft schon verdienen,
um es zurückzuzahlen. Kurz, das ökonomische Verhalten
besteht im genauen Gegenteil vom Business-Verhalten. (Die
Unterscheidung stammt von der „Economy“- und
der „Business Class“ bei Flugreisen.) Und die
Frage ist nun: Wenn die beiden Verhaltensweisen gegensätzlich
sind, welche von ihnen meint man dann mit „wirtschaftlichem
Verhalten“?
Die
Angelegenheit ist irritierend, weil paradox. Aber die Antwort
liegt in der Figur des Verkäufers: Sie lautet: Wenn
Sie sich nicht oder schlecht verkaufen können, verhalten
Sie sich besser ökonomisch! Wenn Sie hingegen der Typ
sind, der imstande ist, andere Menschen durch Ihre Großartigkeit
zu blenden, dann macht es durchaus Sinn, sich unökonomisch
und verschwenderisch zu verhalten, denn das wird Ihren Eindruck
beim Publikum noch steigern, und die Leute werden ihre eigenen
ökonomischen Interessen vergessen und viel dafür
bezahlen, um in Ihrer Nähe sein zu dürfen.
Anders
gesagt, ökonomische Dummheit und Business-Klugheit
liegen sehr nahe beieinander: Wenn Willy Loman in seinem
ganzen Leben Autos und Haushaltsgeräte gekauft hat,
die zu teuer für ihn waren, er also „über
seine Verhältnisse gelebt hat“, seine Ausgaben
nicht geplant hat und sich nicht um seine Altersvorsorge
gekümmert hat, dann erscheint das aus ökonomischer
Perspektive schlicht als dumm. Aus Business-Perspektive
aber macht es durchaus Sinn, viel Geld zu verschwenden,
sodass die anderen Leute meinen: „Der hat offenbar
wirklich viel Geld!“ – und in der Folge die
Tendenz entwickeln, dem Verschwender ihrerseits Geld zukommen
zu lassen, weil sie ihn für einen „großen
Mann“ halten, der es wert ist, das Geld anderer Menschen
zu erhalten.
Ob
es sich bei der Verschwendung um Dummheit oder Klugheit
handelt, hängt also nur davon ab, ob die soziale Magie
des Handicap-Prinzips funktioniert oder nicht. Wenn sie
funktioniert, dann funktioniert sie wunderbar.
Willy Lomans Problem ist, dass sie bei ihm nicht oder nicht
mehr funktioniert oder vielleicht auch noch nie so richtig
funktioniert hat. Aus dieser Situation gibt es für
den Verkäufer-Charakter keinen Ausweg, weil er immer
ein schlechtes Gewissen haben wird, das ihm den Vorwurf
macht: „Habe ich mich vielleicht nicht ausreichend
angestrengt, habe ich nicht genug verschwendet, um ein „Wow!“-Erlebnis
zu erzeugen, das groß genug ist, um die soziale Magie
des Handicap-Prinzips zum Aufflammen zu bringen?“
Er
wird also immer weiter in der Richtung suchen, die Beeindruckung
anderer Menschen durch noch stärkere Verausgabung seiner
eigenen Kräfte zu erzielen, auch wenn sich schon seit
längerer Zeit zeigt, dass dieser Weg für ihn nicht
zum Erfolg führt. Aber der Verkäufer-Mensch kann
nicht anders, weil er nur dieses eine Lebenskonzept hat,
weil nur diese eine Art von Erfolg ihm Freude macht und
keine andere Art zu leben ihm lebenswert erscheint.
(Ein
weiterer Aspekt des Ökonomie-Business-Problems wurde
von George A. Akerlof unter dem Titel
„The Market for Lemons“ (siehe Wikipedia)
diskutiert. Es geht dabei um das Thema Informationsasymmetrie:
Weil Käufer von Gebrauchtwagen nicht wissen können,
ob ein bestimmtes Auto mechanische Fehler hat (=eine Zitrone
(lemon) ist), sind sie generell nicht bereit, viel dafür
zu bezahlen. Sie wissen nämlich im konkreten Fall nicht,
was der Verkäufer weiß (=Informationsasymmetrie),
nämlich dass es sich um ein technisch einwandfreies
Auto handelt. Folglich ziehen sich die Verkäufer von
Gebrauchtwagen guter Qualität tendenziell aus dem Markt
zurück, da sie nicht den Preis erzielen können,
den sie sich vorgestellt haben, und der Markt bricht zusammen.
Dieser
Entwicklung gegensteuern kann man nur durch Maßnahmen
zur Milderung der Informationsasymmetrie, welche allerdings
Kosten verursachen (Übergang von Ökonomie zu Business
bzw. von Sparsamkeit zu Verschwendung) wie z.B. der Institutionalisierung
von Qualitätssiegeln (TÜV) oder Investitionen
eines Gebrauchtwagenhändlers in den Markenwert seines
Unternehmens zum Zweck des Aufbaus von Kundenvertrauen.
Zu den Investitionen in den Markenwert eines Gebrauchtwagenhändlers
kann z.B. der Bau eines teuren Verkaufslokals gehören,
durch das die Kunden zwar nicht erfahren, dass die Autos
in Ordnung sind, welches sie aber dazu veranlasst zu denken:
„Dieser Gebrauchtwagenhändler kann es sich nicht
erlauben, fehlerhafte Autos zu verkaufen, weil sonst sein
Geschäft einbricht und er diese große Investition
in das Verkaufslokal abschreiben muss.“ Oder, kürzer
gesagt, Verschwendung (Bau eines teuren Verkaufslokals)
führt zu Kundenvertrauen („Er kann es sich nicht
leisten, dass sich diese Investition von verschwenderischem
Ausmaß nicht auszahlt!“).
Dem
Gedanken Akerlofs möchte ich noch hinzufügen,
dass Faulheit zu denselben Folgen führt wie Informationsasymmetrie:
Wir sind oft zu faul, um uns eingehender über andere
Menschen zu informieren. Wenn wir aber nicht dazu bereit
sind, uns die Arbeit zu machen, einen Menschen genauer kennenzulernen,
um zu erfahren, wie er wirklich ist, dann müssen wir
uns mit dem äußerlichen Eindruck zufriedengeben,
den er auf uns macht und mit dem, was uns andere Leute über
ihn sagen. Die Faulheit der Menschen oder ihr Unwillen,
sich über ihre Mitmenschen im Detail zu informieren,
führt dazu, dass Menschen, die es verstehen, auf andere
Eindruck zu machen, in der menschlichen Gesellschaft immer
erfolgreicher sein werden als solche, die tatsächlich
etwas wert sind.)
Aussöhnung
mit der Verkäufer-Persönlichkeit
Für
die, die es bisher noch nicht verstanden haben: Ich würde
diesen Text nicht schreiben, wenn mir aufgeblasene Menschen
und noch mehr: Menschen, die es nicht ertragen, mit anderen
Menschen auf gleicher Linie zu stehen und sie jeweils gleich
verdrängen müssen – wenn mir solche Menschen
nicht schwer auf die Nerven gingen. Und in dieser meiner
Geistesverfassung las ich nun, wie Charley im „Requiem“
über seinen Nachbarn Willy sagt: „Nobody dast
blame this man. You don’t understand; Willy was a
salesman. And for a salesman there is no rock bottom to
the life.“ (S. 111) Soll heißen: Das Verkäufer-Leben
ist ein tolles Leben, wenn und solang man fliegt und die
Welle des Erfolgs reitet. Aber es hat auch einen Preis:
Es ist ein Leben, bei dem man keinen festen Boden unter
den Füßen findet und in der Luft leicht die Orientierung
verliert. Man kann prinzipiell keinen Boden unter den Füßen
finden, weil man ja immer versucht, großartig genug
zu sein, um abzuheben und sich vom Fußvolk da unten
zu unterscheiden.
Man
mag nun sagen: „Das macht doch nichts. Denn wenn man
ein Leben führt wie ein Star, in dem man von der Begeisterung
des Publikums getragen wird, dann ist das wie ein Rausch
– eine großartige Erfahrung, für die es
sich zu leben lohnt!“ Das stimmt schon, wenn da nicht
das Problem wäre, dass die Sache mit der Begeisterung
der Mitmenschen eben nur solange funktioniert bis sie aus
irgendeinem Grund, den man nicht kennt, plötzlich nicht
mehr funktioniert und man dann mit dem Hintern auf dem harten
Boden landet.
Aber
nicht nur das: Der egomanische Rausch schließt einen
auch von allen Tätigkeiten aus, die kleinlich und eines
Riesen unter Zwergen nicht würdig erscheinen. Man kann
dann also nicht mehr, wie uns das Willy Loman in allen Einzelheiten
vorzeigt: planen, sparen, rechnen, herumkramen, ordnen,
reparieren, werken und handarbeiten, also sich mit irgendetwas
auf der Sachebene befassen und solang daran herumschrauben,
bis man selbst damit zufrieden ist. Denn alle diese Tätigkeiten,
mit denen man gleichsam das kleine Geschäft seiner
Seele aufräumt, haben den Geruch von Kleinlichkeit
und sind nicht tauglich für Adler und Überflieger.
Ein
besonderes – und komisches – Problem entsteht,
wenn der Verkäufer-Mensch anderen Menschen erklären
will, wie die Welt und wie die Gesellschaft funktionieren.
Er wird dann nämlich sagen, dass er das ganz genau
wisse und dass es eine grundlegende Voraussetzung sei, dass
man gut gekleidet und frisiert, mit geputzten Schuhen daherkommt
und laut und mit viel Selbstvertrauen spreche. Denn anders,
so der Verkäufer-Philosoph mit tiefer Einsicht in das
Wesen der Menschen, werden die Leute einem nicht zuhören.
Das Problem mit der Verkäufer-Weisheit ist, dass sie
stimmt und doch nicht zureichend ist. All die Eigenschaften
und Voraussetzungen, die der Verkäufer nennt, sind
notwendige, aber keine zureichenden Bedingungen für
den Erfolg bei anderen Menschen. Man kann auch sehr von
sich selbst eingenommen sein und mit viel Selbstvertrauen
sprechen, aber die soziale Magie wirkt aus irgendeinem Grund
nicht und man hebt nicht ab.
Die
andere Seite der Verkäufer-Philosophie ist aber die,
dass der Verkäufer, selbst wenn er, wie Willy Loman,
mittlerweile erfolglos ist, weiterhin auf seinen Verkäufer-Weisheiten
bestehen muss. Denn er weiß: Selbst wenn sie nicht
zureichend sein mögen, so habe ich doch erfahren, dass
sie funktionieren, und ich weiß auch mit Sicherheit,
dass gepflegtes Auftreten, Selbstvertrauen und absolute
Entschlossenheit Grundbedingungen sind, ohne die es gar
nicht funktioniert.
Kurz,
solange er etwas verkaufen will, muss der Verkäufer-Typ
ein aufgeblasener Frosch mit hypertrophem Ego bleiben und
wird sich nie entspannen können. Wenn also Entspannung
eine Eigenschaft ist, die nur wir bescheideneren Menschen,
die wir das Fußvolk bilden, uns leisten können,
dann brauchen wir uns über den aufgeblasenen Menschen
nicht aufzuregen, sondern können ihn, selbst wenn er
Erfolg hat und wir nicht, entspannt betrachten – wohlwissend,
dass er selbst aus Gründen des Aufbaus seiner eigenen
Persönlichkeit nicht einmal temporär zu Entspannung
fähig ist. Er muss immer weiter, strebt immer nach
weiteren, großartigeren Zielen und lebt in permanenter
Furcht vor dem Absturz.
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