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Über unseren Glauben an die Welt, die es nicht gibt, und wie er uns im Leben Fallen stellt

Rezension von Josef Kirschner:

Die Kunst ein Egoist zu sein. Das Abenteuer, glücklich zu leben, auch wenn es anderen nicht gefällt.

Droemer Verlag Schoeller & Co, Locarno 1976, Lizenzausgabe für die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien.

30.5.2019

Josef Kirschner: Die Kunst ein Egoist zu sein

(Anm.: Das Buch auf dem Bild, ist nicht die Ausgabe, aus der ich zitiere; mein Exemplar hat keinen Umschlag mehr.)

„Dieses also war die Geschichte des jungen Mannes, welcher gegen die Mitte des Monats April im Jahre 1815, nachlässig, in der Art aller Tiere, die, da sie ihre Kräfte kennen, in Frieden und in ihrer Majestät dahinschreiten, die große Allee der Tuilerien durchwandelte: die Bürgerweiber wandten ganz unschuldig den Kopf, um ihn noch einmal zu sehen…“

Honoré de Balzac: Das Mädchen mit den Goldaugen. Insel, Frankfurt/Main 1974. S. 50.

 

Das Buch Die Kunst ein Egoist zu sein von Josef Kirschner ist eine Anregung zur Ethik ganz im Sinn von Fernando Savater. Denn Savater empfiehlt uns ja, dass wir der ethischen Frage „Was soll ich tun?“ auf die Weise begegnen, indem wir uns zuerst einmal überlegen, was wir eigentlich wirklich wollen und dann versuchen, es im Handeln zu verwirklichen. Und Kirschner definiert den Egoisten als jemanden der „sein Leben selbst nach eigenen Maßstäben plan[t] und bewußt danach leb[t]“ (S. 183)

 

1. Es gibt Menschen, die Kirschners Buch gelesen haben und ihm zustimmen, aber seine Botschaft nicht an- oder ernst zu nehmen, weil sie nicht dazu bereit sind, aus der Gemeinschaft auszusteigen

Es ist erhellend, auf Amazon.de die Rezensionen zu diesem Buch zu lesen. Nea schrieb beispielsweise am 19. Mai 2016: „Der Titel ist etwas hart und davon darf man sich nicht abschrecken lassen. Man wird auch nach dem Buch kein Egoist, sondern versteht viel mehr sich selbst und seine Bedürfnisse wahrzunehmen und sich ein wie der Autor so schön sagt ein eigenes ''Revier'' aufzubauen und sich gegen Störenfriede abschotten.“

Das ist interessant, denn genau so definiert Josef Kirschner den Egoisten: als jemanden, der in der Lage ist, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Der Satz der Rezensentin Nea müsste also richtig lauten: „Durch das Buch lernt man, die eigenen Bedürfnisse besser wahrzunehmen UND folglich wird man dadurch ein Egoist.“ Was also ist hier los?

Was hier los ist, ist, dass Kirschner in diesem Buch das Wort „Egoist“ nicht im üblichen Sinn verwendet hat. Die Leserinnen und Leser, die das Buch auf der Amazon-Seite rezensiert haben, haben das wahrscheinlich auch verstanden. In ihren Rezensionen bleiben Sie aber dem üblichen Sprachgebrauch verhaftet und schreiben Dinge wie: Es sei ein provokanter Titel und: Man werde durch die Lektüre aber nicht zu einem Egoisten.

Für mich gehört diese Beobachtung zu dem Themenkomplex, warum Philosophie keinen Nutzen hat. Viele Menschen fragen ja immer wieder nach dem Nutzen von Philosophie und suggerieren bereits mit der Frage die Meinung, dass Philosophie keinen Nutzen habe. Aber Philosophie hat oft einfach deshalb keinen Nutzen, weil die Menschen ihre eigenen Gedanken nicht für voll nehmen. Würden sie Kirschners Buch ernst nehmen, dann müssten sie beispielsweise auch den Gedanken ernst nehmen, dass das Wort „Egoist“, so wie es in der deutschen Sprache gebraucht wird, falsch ist.

Um diesen Gedanken aber annehmen zu können, müssten sie in diesem Einzelfall aus der Sprachgemeinschaft aussteigen. Sie müssten aufhören, das Wort „Egoismus“ so zu verwenden, wie die Sprachgemeinschaft es versteht, und anstatt dessen – wenn sie Kirschners Argumentation für richtig halten – die Wortbedeutung annehmen, die Kirschner ihm gibt. Das aber vermeiden die meisten Menschen lieber, weil sie soziale Wesen sind, und sich unbehaglich dabei fühlen, wenn sie mit einer Meinung allein dastehen.

Das ist keine Frage der Intelligenz, sondern eine der Entschlossenheit. Wenn man ein halber Mensch ist, der halb bei alten Ideen und Wortbedeutungen stehenbleibt und halb zu neuen fortschreitet, ist man wie jemand, der auf einer Leiter hinaufsteigt und auf die nächste Sprosse nicht drauftritt, weil er die vorige nicht loslassen kann. Die Folge wird sein, dass man in die alte Anschauung zurückfällt und die neue wieder vergisst.

Denn im üblichen Sprachgebrauch sind ja bereits Meinungen über die Dinge enthalten, zum Beispiel darüber, was ein Egoist ist. Wenn man nun etwas Neues über den Egoismus lernt, das nicht zum üblichen Sprachgebrauch passt, und dieses neu Erlernte nicht entschlossen genug festhält, dann wird man die neuen Einsichten wieder verlieren, weil die im üblichen Sprachgebrauch enthaltenen Meinungen allgegenwärtig sind und dadurch eine mächtige Wirkung auf unser Bewusstsein ausüben.

Wenn man die Rezensionen auf Amazon.de liest, bekommt man genau diesen Eindruck: Kirschners Buch ist in klarer Sprache geschrieben, und ein Teil der Leser hat seine Argumente auch eingesehen. Aber manchmal helfen die klarste Sprache und die überzeugendste Argumentation nichts, wenn der herrschende Sprachgebrauch stärker ist und die Leser sich nicht angreifbar machen wollen, indem sie für sich persönlich einen neuen Sprachgebrauch annehmen.

Eigenes Nachdenken (also Philosophieren) bringt uns immer in einen Gegensatz zur Gemeinschaft, zu den gesellschaftlichen Normen. Denn die gesellschaftlichen Normen sind ja der Ausgangspunkt für unser Nachdenken, und sobald wir dann im Denken einen Schritt über sie hinausgehen, sind wir bereits von der allgemein geteilten Meinung abgerückt und haben uns in einen Gegensatz zur Gemeinschaft begeben. Vom Philosophieren hält die meisten Menschen nicht die Schwierigkeit der Gedanken ab, sondern die Tatsache, dass sie nicht in einem Gegensatz zur Gemeinschaft stehen wollen. Wer nicht selbstständig denkt, schwimmt mit der der Gemeinschaft mit; wer selbstständig denkt, geht allein auf einsamem Weg und hat sich selber aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen.

2. Beim Begriff des „Egoisten“ werden wir üblicherweise mit falschen Zuschreibungen konfrontiert

Josef Kirschner bestimmt den Egoisten als einen Menschen, der nach seinen eigenen Maßstäben lebt. Also ähnlich wie der amerikanische Soziologe David Riesman den „innengesteuerten“ Menschen definiert und ihm den „außengesteuerten“ Menschen entgegengesetzt hat. Ein Egoist ist nach Kirschner jemand, der sich zuerst selbst überlegt, was er eigentlich wirklich will, und dann versucht, seine Ziele in seinem eigenen Leben zu verwirklichen.

„Das gemeinsame Merkmal der außengesteuerten Menschen besteht darin, daß das Verhalten des einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von denjenigen, die er persönlich kennt, oder von jenen anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist selbstverständlich auch hier <verinnerlicht>, und zwar insofern, als das Abhängigkeitsgefühl von dieser dem Kind frühzeitig eingepflanzt wird. Die von außen-geleiteten Menschen angestrebten Ziele verändern sich jeweils mit der sich verändernden Steuerung durch die von außen empfangenen Signale. Unverändert bleibt lediglich diese Einstellung selbst und die genau Beachtung, die den von den anderen abgegebenen Signalen gezollt wird.“

(David Riesman: Die einsame Masse. Rowohlt 1958. S. 38. (Kursiv im Original.))

Kirschners Beispiel für einen Egoisten in diesem Buch ist jemand, der sich für ein kleineres Auto entscheidet, weil es ihm ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis bietet als ein großes. („Er kam dabei zu dem Schluß, daß der kleinste für ihn akzeptable Wagen ihm in Anschaffung und Unterhalt etwa ein Drittel der Kosten des bisherigen Fahrzeugs verursachen würde. […] Das würde bedeuten, so theoretisierte er weiter, daß er bisher zwei Drittel nur fürs Prestige ausgegeben habe.“ (S. 117)) Kirschners Gedankengang besagt in etwa folgendes: „Die Anderen erwarten zwar von mir, dass ich mir ein größeres Auto kaufe, weil sie nur dann glauben, dass ich beruflich erfolgreich und ein Siegertyp bin, aber ein größeres Auto bedeutet für mich auch höhere Kosten in der Anschaffung und im Betrieb, und ich bin nicht bereit, diese Belastung auf mich zu nehmen, nur um andere Menschen zu beeindrucken.“

Was bei diesem Beispiel in die Augen sticht, ist, dass niemand einen solchen Menschen, der lieber ein kleineres Auto will als ein größeres, als einen Egoisten bezeichnen würde. Doch der Grund dafür, warum wir das tun, liegt darin, dass der übliche Sprachgebrauch mit „Egoist“ einen hirnlosen Idioten bezeichnet, einen von kurzsichtiger Raffgier bestimmten Menschen, der von allem nur mehr für sich haben will und über die Konsequenzen seiner Gier nicht nachdenkt. Diese Karikatur von einem Egoisten lenkt die Menschen davon ab, dass jemand, der über sein Leben nüchtern nachdenkt, oft zu dem Ergebnis kommen wird, dass Weniger für ihn Mehr ist, z.B. dass ein kleineres Auto für ihn in Summe nützlicher ist als ein größeres, weil das größere mit mehr Kosten verbunden ist und damit mit mehr Arbeitsbelastung und Unfreiheit.

Vor allem aber bringt diese Karikatur des Egoisten die Menschen dazu, die Bezeichnung „Egoist“ den falschen Menschen zuzuschreiben. So werden beispielsweise die Banker häufig als Egoisten bezeichnet, weil sie nach fetten Bonuszahlungen streben, obwohl sie ohnehin schon viel mehr verdienen als normalarbeitende Menschen. Aber was könnte egoistisch daran sein, wenn Banker sich so verhalten wie Banker es von guten Bankern erwarten? Wenn es in der Gemeinschaft der Banker üblich ist, die Qualität eines Bankers nach der Höhe seiner jährlichen Bonuszahlungen zu beurteilen, dann darf es niemanden verwundern, dass jeder Banker nach einer möglichst hohen jährlichen Bonuszahlung streben wird. Er will ja schließlich ein guter, d.h. erfolgreicher Banker sein.

Diesem Fehler verfallen auch anerkannte Medienphilosophen. Der allseits gehypte Richard David Precht hat in Anspielung auf Kirschners Buch sein eigenes Buch Die Kunst, kein Egoist zu sein genannt. In einem YouTube-Video über sein Buch sagte Precht, die Werbung mache uns alle zu Egoisten („Egoismus - Nur anerzogenes Verhalten ? Richard David Precht bei Planet Wissen“). Das ist derselbe Zuschreibungsfehler wie bei den Bankern mit ihren fetten Boni: Wenn die Werbung uns sagt, was wir wollen sollen, dann werden wir nicht zu Egoisten, wenn wir die beworbenen Produkte dann auch wirklich haben wollen, weil unser Wollen fremdbestimmt ist. Denn unser Wunsch ist dann ja nicht durch uns selbst, sondern durch die Werbung bestimmt. Wenn aber Egoismus darin besteht, dass wir dasjenige bekommen, was wir selber wollen, dann ist es nicht möglich, dass die Werbung uns zu Egoisten macht. Es sieht nicht so aus, als hätte Precht sich mit Kirschners Vorschlag, was ein Egoist wirklich ist, auseinandergesetzt, bevor er sein eigenes Buch geschrieben hat.

Wenn wir also in unserem Denken konsequent wären, dann würden wir die Unterscheidung zwischen Egoist/Nichtegoist folgendermaßen ziehen, damit sie sauber gelingt:

  • Ein Egoist ist jemand, der nach eigenen Maßstäben und Wertvorstellungen lebt; also z.B. jemand, der lieber ein kleineres Auto fährt, weil das für ihn weniger Aufwand bedeutet, als ein größeres, nur um andere Leute zu beeindrucken.
  • Ein Nichtegoist ist jemand, der nach fremden Maßstäben und Wertvorstellungen lebt. Er ist dem moralischen Menschen ähnlich, weil ja auch Moral darin besteht, dass der Einzelne danach strebt, die Erwartungen der Gemeinschaft an ihn zu erfüllen. Dazu gehört z.B., ein großes Auto zu kaufen, weil die Anderen von einem erwarten, dass man erfolgreich ist und es auch zeigt; oder dass man als Banker auf hohe Bonuszahlungen aus ist, weil das in der Berufsgemeinschaft der Banker als etwas Erstrebenswertes gilt.

 

3. Was Kirschners Buch der Ethik Savaters voraushat

Josef Kirschners Buch Die Kunst, ein Egoist zu sein würde mich nicht so sehr interessieren, wenn sie auf die Ethik der Eigenliebe (Etica del amor propio) Fernando Savaters nicht noch eins draufsetzen würde. Denn Savater betont zwar die Notwendigkeit für jeden einzelnen Menschen, sich zu überlegen, was er selber will, weil er sonst am Ende dasjenige bekommen wird, was er nicht will, aber Savater hat nicht darauf hingewiesen, dass man sich dadurch in einen unausweichlichen Konflikt mit seinen Mitmenschen begibt, den man führen und aushalten muss.

Fernando Savater: Sich nicht von außen lenken lassen

„Was will ich Dir sagen mit dem „Tu, was Du willst“ als grundlegendem Motto dieser Ethik, an die wir uns herantasten wollen? Ganz einfach – auch wenn es Dir schwerfallen wird: Du mußt Dich befreien von Befehlen und Gebräuchen, von Belohnung und Strafe, kurz von allem, was Dich von außen lenken will, und Du mußt diese ganze Angelegenheit aus Dir selbst entwickeln. Frage niemanden, was Du mit deinem Leben anfangen sollst: Frage dich selbst.“

(Fernando Savater: Tu was Du willst. Ethik für die Erwachsenen von morgen. Campus, Frankfurt/Main 1993. S. 57.)

Kirschner dagegen war sich nicht zu schade, auf diese unangenehme Wahrheit hinzuweisen:

Die Notwendigkeit, sich gegen unsere Mitwelt zu behaupten

„Es ist ganz natürlich, daß wir uns damit den Angriffen der Mitwelt aussetzen, die uns für sich und ihren Vorteil in Beschlag nehmen will. Sie möchte, daß wir ihre Maßstäbe befolgen, statt nach eigenen Vorstellungen zu handeln.
Ihre Familie beispielsweise möchte, daß Sie ein besorgter Vater sind, der kein Opfer scheut, es seinen Lieben gutgehen zu lassen.
Ihr Vorgesetzter ist darauf bedacht, daß Sie seine Anweisungen befolgen auch wenn es Ihnen mehr Arbeit, mehr Streß und mehr Sorgen bringt.
Die Firma möchte, daß Sie den Posten ausfüllen, den Sie Ihnen bietet. Auch wenn er Ihnen nicht die Aufgaben stellt, die Sie befriedigen.
Die Wirtschaft schließlich erwartet, daß Sie sich für das neueste Produkt entscheiden, das Ihnen mehr Prestige bringt – dafür müssen Sie aber auch mehr bezahlen.
Damit wir diese Angriffe abwehren und das Leben verteidigen können, das wir führen möchten, müssen wir die Fähigkeit entwickeln, uns gegen unsere Mitwelt entschlossen zu behaupten.“

(Josef Kirschner: Die Kunst ein Egoist zu sein. S. 22)

Im Grund ist dieser Konflikt ja nicht mehr als die notwendige Konsequenz aus dem, was ich vorher schon gesagt habe: Wenn ein Mensch selbstständig denkt, wird er nicht mit dem übereinstimmen, was die Anderen meinen; und wenn er sich selbst bestimmt, so lässt er sich nicht von der Gemeinschaft bestimmen. In nichts anderem besteht dieser Konflikt. Der Grund dafür, warum Savater ihn nicht deutlich benannt hat, könnte in der unendlichen Naivität des philosophierenden Menschen liegen, der meint, wenn er seine Gedanken nur klar ausdrückt und nachvollziehbar argumentiert, dann darf er auf Verständnis bei den anderen Menschen hoffen, und dieser Konflikt wird nicht auftreten.

Mit anderen Worten, der philosophische Mensch erliegt gern der Illusion des „Man kann doch vernünftig miteinander reden!“ Aber das kann man eben nicht und zwar aus zwei Gründen: Entweder wollen die Anderen einen nicht verstehen, weil sie andere und gegensätzliche Interessen haben als man selber oder sie können einen nicht verstehen, weil sie eine andere Bedürfnisstruktur oder eine andere Intelligenz haben als man selber. Der philosophische Mensch, der in der sprachlichen Mitteilung und im Argument sein Lebenselixier findet, unterstellt gern allen Menschen einen ähnlichen Grad von Intelligenz und allen menschlichen Bedürfnissen, dass sie in ähnlicher Weise für andere Menschen nachvollziehbar sind. Aber das führt in der Regel dazu, dass er sich selbst als Modell für alle Menschen hinstellt und blind wird für die Tatsache, dass andere Menschen anders sind als er und andere Bedürfnisse haben.

 

4. Von der Welt, die es nicht gibt

Den Kern von Josef Kirschners Buch macht eine weitere unangenehme Wahrheit aus. Es verhält sich nicht nur so, dass wir mit unseren Mitmenschen Auseinandersetzungen führen müssen, um uns selbst zu behaupten und damit unsere Bedürfnisse nicht übergangen werden; sondern es ist auch so, dass viele von uns ein ernstes Handikap haben, dass sie davon abhält, sich anderen Menschen gegenüber durchzusetzen: Sie leben in ihrer Vorstellung in einer Welt, die es nicht gibt.
Folgendes Zitat von Josef Kirschner macht deutlich, welche Welt das ist, in der wir gern leben möchten, die es aber nicht gibt: Es ist das die Welt der Moral, der Gemeinschaft, der gegenseitigen Verständigung, der Rücksichtnahme und der Dankbarkeit. Was die Menschen in dieser nichtrealen Welt suchen, ist vor allem Sicherheit. Kirschner weist in der Folge an mehreren Stellen in seinem Buch darauf hin, dass diese Sicherheit, die sich die Menschen wünschen, nur eine scheinbare ist und ihnen von der Gemeinschaft in einer Weise gewährt wird, sodass sie jederzeit wieder entzogen werden kann.

Der Glaube an eine Welt, die es nicht gibt als Handikap

„In den Köpfen der meisten Menschen ist die Vorstellung verankert, daß für sie nichts wichtiger ist, als sich der Mitwelt anzupassen. Nur in der Gemeinschaft scheint sich ihr Leben zu erfüllen. Hier finden sie die Anerkennung und Sicherheit, nach der sie sich sehnen.
Jeder einzelne der Gemeinschaft hat aber nur das eine Ziel: aus dem Zusammenleben mit den anderen möglichst viel für sich herauszuholen. Möglichst viel an Glück, Befriedigung und Selbstentfaltung.
Niemanden darf es wundern, daß er in diesem Bestreben mit den anderen ständig in Konflikt gerät. Als Angreifer, wenn er versucht, andere zu seinem Vorteil auszunützen. Als Verteidiger, wenn andere zu ihrem Nutzen von ihm Besitz ergreifen wollen.
In diesem natürlichen Spiel des Zusammenlebens, in dem jeder möglichst viel für sich gewinnen will, bleiben jene auf der Strecke, die es nicht verstehen, sich durchzusetzen. Ein Handikap dabei ist der Glaube an eine Welt, die es nicht gibt. Er drückt sich in Schlagworten wie den folgenden aus, mit denen man uns von früher Jugend an gefüttert hat:
• Denke nicht an dich. Nimm Rücksicht auf die anderen. Wir alle sitzen in einem Boot.
• Nur wenn du anderen hilfst, wird dir auch geholfen.
• Im Interesse der Gemeinschaft mußt du die eigenen Interessen zurückstellen.
• Alle für einen, einer für alle.
• Sei immer für andere da, sie werden es dir danken.
Die Welt, in der die Gemeinschaft alles ist und der einzelne nichts, ist eine Erfindung von Leuten, die andere für ihre eigenen Interessen gefügig machen wollen.“

(Josef Kirschner: ebd., S. 20-21)

In Anbetracht der Tatsache, dass uns die Geschichte über Moral und Gemeinschaft immer anders erzählt wird, möchte ich trotz der Gefahr, auf das Offensichtliche hinzuweisen, ein paar Aspekte in Kirschners Zitat hervorheben.

  1. Kooperation und Konflikt: In Kirschners Zitat erscheint es so, dass nur derjenige Mensch, der dazu in der Lage ist, sich in Gemeinschaft durchzusetzen, eigentlich in vollem Maß an ihr teilnehmen kann. Das widerspricht der allgemein geteilten Überzeugung, wonach das menschliche Zusammenleben Kooperation sei und nicht Konflikt. Mit einem Wort, dass Kooperation und Konflikt einander ausschließen. Diese Überzeugung geht soweit, dass dem Kindergartenkind beigebracht wird, es sei „sozial“, bestimmte Spielsachen mit anderen Kindern zu teilen, hingegen „asozial“, sie für sich haben zu wollen. Diese Unterscheidung zwischen „sozialen“ und „asozialen“ Verhaltensweisen macht uns blind für die tatsächliche soziale Realität, in der Kooperation und Konflikt immer zugleich und nebeneinander bestehen: Die Menschen nehmen Teil an Gruppen (Kooperation), weil man gemeinsam stärker ist, aber sie versuchen auch, in der Gruppe das Beste für sich herauszuholen (Konflikt).
  2. Abgabe von Verantwortung: Leicht übersieht man, dass die Einstellung „Lebe immer für die Anderen, dann werden die anderen dir diese Hilfe zurückgeben, wenn du sie mal brauchst!“ – eine Abgabe der eigenen Verantwortung darstellt. Und zwar „Verantwortung“ nicht in dem Sinne, dass man irgendwem Rede und Antwort stehen müsste. Sondern in dem Sinne, dass man sich als Einzelner sagen muss: „Dafür, wie es mir geht, bin letztlich nur ich verantwortlich, weil es niemand anderen gibt, der sich für meine Wünsche und Bedürfnisse zuständig fühlt.“ Wir übernehmen regelmäßig Verantwortung für uns selbst, wenn uns der Harndrang morgens zur Toilette schickt, denn da wissen wir genau, dass diese Aufgabe niemand für uns übernehmen wird. Aber wir geben die Verantwortung gern ab, wenn es z.B. um den Umgang mit unseren persönlichen Finanzen, mit unseren Beziehungen zu anderen Menschen und unsere Zeitplanung geht. In Lebensbereichen wie diesen tendieren wir dazu zu glauben, dass dasjenige, was uns die anderen übriglassen auch das sein wird, das uns glücklich macht. Im Übrigen ist klar, dass eine Einstellung wie die, dass man seine eigenen Interessen im Interesse der Gemeinschaft zurückstellen muss, es einem auch völlig verunmöglicht, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Denn Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, bedeutet ja nichts anderes, als seine eigenen Interessen vehement zu vertreten.
  3. Die Intelligenteren sind anfälliger: Es ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass die Falle, vor der uns Kirschner hier warnt, eine ist, in der bevorzugt die Klügeren von uns fallen. Denn sie sind diejenigen, die eher geneigt sind zuzuhören und gelehrig aufzuschnappen, was ihnen gesagt wird. Sie sind diejenigen, die Selbstzweifel haben und dazu tendieren, die erwachsenen und reiferen Menschen für lebenserfahrener zu halten. Die Intelligenteren sind oft die Dümmeren, weil mit der Intelligenz eine besondere Weise der Dummheit einhergeht, die der Naivität. Wer von vornherein nicht auf all diese Sprüche hört, mit denen man uns von Jugend auf füttert, der hat diese Probleme nicht, auf die Kirschner hier hinweist. Es geht also durchaus auch darum, dass man sich als intelligenter Mensch zurückentwickelt, zumindest bis zu einem Zustand, in dem einem die eigene Vernunft kein Bein mehr stiehlt.
  4. Moral als Mittel der Manipulation: Die Rede von der der Gemeinschaft und von der Moral, sagt Kirschner, sei kein Unternehmen zum besseren und friedlicheren Zusammenleben der Menschen, sondern ein Mittel der Manipulation. Es gehe letztlich nicht um die Interessen der Gemeinschaft, die erfüllt werden sollen, wenn sich ein Einzelner selbst zurücknimmt, um die Interessen der Gemeinschaft in den Vordergrund zu stellen. Sondern es handelt sich darum, dass ein anderer Mensch seine eigenen Interessen als diejenigen der Gemeinschaft darstellt, weil er selbst von der Selbstlosigkeit Anderer profitieren will: „Der Nutzen, den eine Gemeinschaft aus den Opfern einzelner zieht, ist nichts weiter als der Nutzen, den einige wenige aus der Gemeinschaft ziehen.“ (S. 21)

Folgendes Zitat von Kirschner zeigt auf, dass moralische Argumentation ein Mittel sind, das andere Menschen verwenden, um uns auszunutzen und das deshalb so hervorragend wirkt, weil es in uns Hemmungen erzeugt, uns gegen diese Ausnutzung zur Wehr zu setzen.

Moral als Mittel der Manipulation

„Wenn Ihnen jemand die Treue schmackhaft machen will, tut er es nur aus dem einen Grund, weil er sich einen Vorteil daraus verspricht. Wenn jemand von Ihnen verlangt „Schwöre mir ewige Treue“, will er bloß von Ihnen mit Haut und Haaren Besitz ergreifen. Einige Zeit lang mag Sie das schmeicheln. Aber die Ernüchterung wird um so schmerzhafter sein, je weniger Sie darauf vorbereitet sind, daß die Ewigkeit morgen schon zu Ende sein kann.
Dasselbe gilt, wenn man von Ihnen Solidarität verlangt. Oder Ehrlichkeit
Damit hier kein Mißverständnis aufkommt: Ich will nicht behaupten, daß es für Sie unbedingt vorteilhafter sein muß, immer dann zu lügen, wenn es für Sie von Nutzen ist. Vermutlich haben auch jene Leute nicht immer recht, die behaupten, lügen sei nur dann von Nachteil, wenn man sich dabei erwischen läßt.
Ich möchte nur darauf hinweisen, daß auch die Ehrlichkeit zu jenen Begriffen gehört, die andere aus rein taktischen Begriffen von uns verlangen.“

(Josef Kirschner: ebd., S. 88)

Bei diesem Zitat ist wiederum darauf hinzuweisen, dass Kirschners Diskurs quer zum üblichen Moraldiskurs steht. Dem Moraldiskurs ist es wichtig, dass die Menschen nicht lügen und dass die Wahrheit zu sagen besser als lügen ist. Aber das stellt Kirschner gar nicht in Zweifel; er weist nur darauf hin, dass jemand, der einem mit „Jetzt sei einmal ehrlich… mit mir kannst du offen darüber reden…“ – kommt, meistens üble Absichten hat. Nicht selten will er einem unbedachte Aussagen aus der Nase ziehen, mit denen er einen später in die Pfanne hauen kann.

 

5. Kritik an Kirschners Buch: Es geht nicht tief genug

An dieser Stelle möchte ich ein paar ernste Worte sagen; auch deshalb, weil Kirschners spätere Bücher (ich kenne Das Egoisten-Training (2000)) offenbar eher seichte Lebensratgeber sind und nicht mehr an die Radikalität dieses frühen Werks heranreichen. (Aus dem Grund scheint Josef Kirschner auch schon weitgehend vergessen zu sein.)

Es besteht die Gefahr, wie wir es ja auch schon bei den Rezensenten von Die Kunst ein Egoist zu sein auf Amazon.de gesehen haben, dass die Menschen, die Kirschners Buch lesen, seine Botschaft zwar wahrnehmen (weil sie klar und verständlich geschrieben ist) aber nicht wirklich aufnehmen (weil sie dazu ihre bisherigen Denkweisen hinter sich lassen müssten). Also eigentlich meine ich, es besteht nicht nur Gefahr, sondern das wird so sein. Um in keine kognitive Dissonanz zu geraten, werden die Menschen, die Kirschners Buch lesen, versuchen, ihre bisherigen Anschauungen mit denen Kirschners zu harmonisieren und dabei wird etwas Halbes herauskommen von der Art: „Das Buch hat mich nicht zum Egoisten gemacht, aber ich bin jetzt besser auf die Manipulationsversuche Anderer vorbereitet und kann mich gegen sie verteidigen.“ Das aber ist nicht ausreichend, weil man mit dieser Haltung bald in die alten Verhaltensmuster zurückfallen wird.

Der Grund für dieses Zurückfallen in alte Verhaltensmuster liegt darin: Man will sich ja weiterhin mit den Anderen verständigen, man will weiterhin mit der Gemeinschaft in Harmonie sein, man will weiterhin in den Augen der Anderen nicht als Egoist gelten und man nimmt moralische Argumentationen weiterhin ernst und hört ihnen zu. Damit aber macht man die „Welt, die es nicht gibt“ (=die Welt, wo Vernunft, Verständigung, Gerechtigkeit und Dankbarkeit herrschen) zum Normalfall und die Situation, in der man sich gegen andere Menschen durchsetzen muss, zum Ausnahmefall. Wenn Kirschner aber recht hat, dann müsste es genau umgekehrt sein.

Kurz, Kirschners Buch Die Kunst ein Egoist zu sein erzielt meiner Meinung nach bei seinen Lesern die Wirkung, dass diese meinen, ein bisschen was dazugelernt zu haben, während alles übrige (das sie bisher schon für wahr gehalten haben) gleich bleibt. Und diese Wirkung hat es deshalb, weil seine Inhalte nicht ausreichen, um eine kritische Masse zu erzeugen, die imstande ist, die Überzeugungen der Leser infrage zu stellen die die Weltanschauung eines Menschen in wesentlichen Teilen zu verändern.

Das beginnt schon damit, dass Kirschner einige wichtige Themen ausgelassen hat. So sagt er zwar auf Seite 22 „Ihre Familie beispielsweise möchte, daß Sie ein besorgter Vater sind, der kein Opfer scheut, es seinen Lieben gutgehen zu lassen.“ – aber dem folgt keine Auseinandersetzung mit der Frage, dass die Folgerungen aus Kirschners Buch doch eigentlich auch auf die eigene Frau/den eigenen Mann, auf die eigenen Eltern und auf die eigenen Kinder anzuwenden wären. Kirschners Darstellung tut so, als würde man sein eigenes Revier verteidigen und innerhalb dieses Reviers wäre alles eitel Wonne. Wäre das Buch etwas ehrlicher, würde es zugeben und sich damit auseinandersetzen, dass dort der Kampf weitergeht.

Er hätte also, um seine Botschaft zu vervollständigen, und sie an den Mann bzw. die Frau zu bringen zumindest anfangen müssen zu erzählen, wie es ist, in einer Welt zu leben,

  • in der man sich nicht verständigen kann;
  • in der man sich auch nicht rechtfertigen kann und deshalb die Last seines schlechten Gewissens selber tragen muss;
  • in der man auch vor seinen Liebsten immer auf der Hut sein muss
  • und in der man seinen Glauben an den öffentlichen Raum als einen, in dem das vernünftige Argument sich durchsetzt, aufgibt.

Denn das ist aus meiner Sicht das eigentliche Thema von Die Kunst ein Egoist zu sein: Sich klarzumachen, dass wir in einer anderen Welt leben als der, in der wir zu leben vermeinen. Sich klarzumachen, dass die menschliche Gesellschaft keine vernünftige Welt ist, in der wir unsere Ansprüche vernünftig argumentieren können und auf Verständnis bei den Anderen hoffen dürfen, wenn unsere Gründe stichhaltig sind. Sich klarzumachen, dass wir unsere naiven Wünsche, Gemeinschaft und Partnerschaft zu erleben und ein Zusammenleben mit anderen Menschen, in dem wir uns verstanden fühlen und in dem man auf uns Rücksicht nimmt, weil wir doch auch Menschen sind und dazugehören, uns sonst wohin stecken können. Sich klarzumachen, dass die menschliche Gemeinschaft wie ein Dschungel ist und unsere Mitmenschen wilde Tiere, die uns auffressen, wenn wir sie nicht auf Distanz halten.

Josef Kirschners Buch ist also ein wichtiges, aber ein ungenügendes Buch. Was fehlt ist herauszuarbeiten, wovon es eigentlich handelt. Es handelt davon, dass wir in einer Welt leben, in der der Mensch unter Menschen einsam und verlassen seinen dunklen Weg von der Geburt bis zum Tod geht. Aber das Buch thematisiert die menschenfeindliche Menschenwelt, in der wir unser Leben zubringen und uns immer wieder in sinnloser Weise mit den Anderen zu verständigen suchen, weil wir nicht begreifen können, wie egal wir ihnen sind, überhaupt nicht.

6. Mystizismus bei Kirschner – aufgrund der Tatsache, dass er die Dinge nicht ausreichend durchdacht hat

Die vielleicht härteste Darstellung des Gegensatzes zwischen der „Welt, die es nicht gibt“, in der wir alle in der Vorstellung leben, und der unbarmherzigen Realität, in der wir wirklich leben, gibt Kirschner in folgendem Vergleich mit dem Fußballspiel. (Es ist das eine Stelle im Buch, mit der wahrscheinlich die meisten seiner Leser wenig anfangen können, wie ich vermute und die sie für übertrieben halten werden.)
Mich stört an diesem Vergleich nur eines: Die Mystifikation, die sich darin zeigt, dass Kirschner sagt, das Leben sei halt so „Du oder ich“ und im Sport zeige sich das.

So ist das Leben: „Du oder ich“

„Sie befinden sich bei der Verteidigung Ihres Reviers in der Situation eines Fußballspielers vor und während eines Spiels.
Alle […] Instruktionen [seines Trainers] werden ihm nichts nützen, wenn er nicht mit der richtigen Einstellung aufs Spielfeld kommt. Wenn er sich etwa sagt: „Ich will ein Tor schießen, aber ich muß aufpassen, daß ich mir dabei das Bein nicht verletze.“ Oder, wenn es darum geht, den Gegenspieler am Torschuß zu hindern, sagt er sich: „Bevor ich ihn mit meiner Attacke verletzen könnte, lasse ich ihn das Tor lieber schießen.“
[…] Vielleicht wenden Sie jetzt ein: Aber das sei doch bloß Sport, Körperertüchtigung, Fairneß, Respekt vor dem Gegner, Vorbild der Jugend – und der wohlklingenden Phrasen mehr. Die sollten Sie vergessen. Sport ist Angriff und Verteidigung. Sport ist nichts weiter als der Ausdruck des Lebens, wie es ist. Nämlich „Du oder ich“ und „Wenn ich dich nicht schlage, schlägst du mich.“
[…] Gehen Sie zu einem Entscheidungsspiel auf den Fußballplatz, oder sehen Sie sich ein Endspiel im Fernsehen an. Vielleicht sehen Sie dabei zwischendurch eine dieser rührenden Szenen, wo einer der den Gegner zu Boden getreten hat, dem am Boden Liegenden freundschaftlich die Hand hinstreckt. Ich weiß von einigen bewunderten internationalen Stars, die solche Szenen der sportlichen Fairneß meisterhaft zu spielen versehen; gleichzeitig aber spucken sie dem Gegner während des Händedrucks ins Gesicht. […]
Ich möchte nicht behaupten, daß das der einzig wahre Umgang der Menschen untereinander sei. Es wird auch nicht jeder Angreifer tretend und spuckend auf Sie losgehen. Aber letzten Endes will er nur unter allen Umständen seinen Vorteil wahren. Wenn sich dabei für Sie ein Nachteil ergibt, kümmert ihn das in Wahrheit wenig. Sosehr er auch nach außen hin Anteilnahme heuchelt.“

(Josef Kirschner: ebd., S. 164-165)

Durch die Erklärung, dass das Leben halt so sei und dass man sich eben durchsetzen müsse, weil sich sonst der Andere durchsetzt, wird in Wirklichkeit nichts erklärt. Es wird nur eine Sache, die wir nicht verstehen (dass man sich eben durchsetzen müsse), durch eine andere erklärt, die wir ebenso wenig verstehen (dass das Leben eben so sei). Das Leben ist überhaupt nicht so. In Wirklichkeit gibt es ein ganzes Bündel an Ursachen, um die wir uns bemühen könnten, die uns einzelne Aspekte der Frage erhellen, warum wir uns mit unseren Mitmenschen nicht verständigen können, auch wenn wir uns darum bemühen.

  • Eine Ursache (um die ich mich lange herumgedrückt habe) sind die Unterschiede in der Intelligenz zwischen den Menschen. Ein Mensch mit einem IQ von 120 wird sich mit einem mit einem IQ von 100 ähnlich schlecht verständigen können wie einer mit 100 mit einem mit 80. Dabei geht es nicht nur darum, dass sie einander auf logischer und intellektueller Ebene nicht verstehen, sondern dass ihnen unterschiedliche Werte haben und unterschiedliche Ziele verfolgen.
  • Wir Menschen sind in unterschiedlichen Lebensphasen mit körpereigenen Drogen imprägniert. Und die Chemie in unserem Körper bestimmt oft mehr, was wir denken, als unser Kopf. Ein junger Mann, dem der Sinn nach einer Freundin steht, ist streng genommen nicht zurechnungsfähig – auch wenn sein IQ überragend sein mag. Spätere Lebensalter haben ihre eigene psychochemische Verfasstheit, die uns z.B. nach Geld, Macht oder Prestige streben lässt und unsere Perspektive ebenso einengt wie der jugendliche Hormonüberschwang.
  • Nicht zu vergessen ist, dass sich das Problem Dummheit versus Klugheit außerdem noch aufdoppelt. Das ist auch der Grund, warum die Klugheit in der menschlichen Gesellschaft die Dummheit nicht einfach überwindet. Denn auch kluge Menschen leben gemeinsam mit dummen Menschen in einer Welt. Und wenn sie etwas von den dummen Menschen wollen, dann müssen sie sich an sie anpassen. Ein Beispiel ist das oft gehörte „Es gibt keine zweite Gelegenheit für einen ersten Eindruck.“ Es ist zwar dumm, Menschen nach dem ersten, äußerlichen Eindruck zu beurteilen, aber weil auch die klugen Menschen wissen, dass die dummen Menschen das tun, verhalten sie sich selber auch danach, schließlich wollen sie möglichst viele Menschen (also auch dumme) für sich einnehmen. Und siehe da, schon verhalten sich auch die Klugen wie die Dummen und kommen sich sogar noch besonders klug dabei vor (Kommunikationskompetenz), wenn sie auch selbst zur Oberflächlichkeit der Welt beitragen.
  • Alle Einsicht in die Härte, Unbarmherzigkeit und Undankbarkeit der Welt hilft aber nichts, wenn man nicht dazu bereit ist, mit sich selber reinen Tisch zu machen. Solange man sich etwa selbst einreden will, dass es im Sport bloß um Körperertüchtigung und Fairness geht, wird man den Fußball nicht so sehen, wie er ist. Es ist ja nicht das Leben oder die Tatsache, dass Leben Kampf ist (die mystifizierende Sichtweise), die aus Fußball einen verletzungsanfälligen Sport macht; sondern die Ursache dafür liegt darin, dass im Fußball viele kleine Details (eine Schwalbe, ein Rempler, das Halten am Trikot etc.) ungesehen bleiben – trotz all der Linienrichter und Kameras, die heute das Spiel beobachten. Der Unfairness und Härte wird also Raum gegeben, und wo man der Unfairness Raum gibt, wird auch Unfairness sein. (Dabei ist aber auch der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass Fußball den Zuschauern weniger Spaß machen würde, wenn man ihn noch stärker regulieren würde.)

Es ist nicht das Leben, das Kampf ist, das schuld ist an jedem „du oder ich“, sondern ein jedes soziale Spiel hat seine eigenen Regeln, und man muss es sich eben genau anschauen, um zu entscheiden, ob man es spielen will.

Freilich wird bei den meisten dieser Spiele, die wir im sozialen Leben spielen (Partnerschaft, Familie, Arbeit, Karriere etc.), wenn man es mit offenen Augen betrachtet, herauskommen, dass sie ganz andere Regeln haben als jene, die die Gesellschaft ihnen zuschreibt (und oft wird man auch über viele dieser Regeln, so wie man sie schließlich versteht, nachdem man über sie nachgedacht hatt, Stillschweigen bewahren müssen, weil man sonst den Zorn seiner Mitmenschen erregt). Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen, sagte Wittgenstein, aber es gibt vieles, über das man reden könnte, weil es sich klar ausdrücken lässt, aber trotzdem nicht darüber reden sollte, weil es die Mehrheit der Menschen lieber anders sieht.

 

Postskriptum: Die „Welt, die es nicht gibt“ als politisches Programm

Wir wären es wohl nicht so sehr gewohnt, in der „Welt, die es nicht gibt“ zu leben, wenn es nicht auch eine starke politische Strömung gäbe, die diese „Welt, die es nicht gibt“ geradezu zu ihrem Grundprinzip gemacht hat. Mit Unterstützung dieser politischen Richtung ist die Vorstellung von einer Welt, in der es gerecht zugeht und man uns auf uns Rücksicht nehmen wird, auch wenn wir uns gerade nicht lautstark verteidigen, in alle Köpfe getragen und dort auch über die Zeit erhalten worden.

In folgendem Zitat aus einem Artikel über die Sozialdemokratie in Wien erzählt die Journalistin Christa Zöchling davon, dass den Sozialdemokraten am Beginn des 20. Jahrhunderts auch bewusst war, dass sie die Menschen ändern mussten, damit sie in eine sozialistische Gesellschaft passen. Es verwundert nicht, dass sich die Haare wieder aufstellen, wenn man sie gegen den Strich bürstet. Ebenso wenig sollte es überraschen, dass sich die wirkliche Welt gegen die „Welt, die es nicht gibt“, am nach einiger Zeit wiederum durchsetzte, indem die Menschen Bildung gebrauchen, um durch sie zu zeigen, dass sie sich voneinander zu unterscheiden und nicht, um einer solidarischen Gemeinschaft von Gleichen anzugehören.

Die „Welt, die es nicht gibt“ in der Politik

„Die Idee dahinter war, einen guten, besseren, einen neuen Menschen zu erziehen. Nur mit ihm könne der Sozialismus verwirklicht werden; nur eine solidarische Gesellschaft mit besseren Lebensbedingungen, Freizeit, Muße und vor allem Bildung bringe einen neuen Menschen hervor. Das eine bedinge das andere und sei täglich zu beweisen. […]
Für Adler und den linken Flügel der Sozialdemokratie war Erziehung der wichtigste Punkt politischer Arbeit. Die Entfaltung der Kreativität sollte bei den Kleinsten beginnen, im Kindergarten, in den Volkschulen […] ohne Drill, Prügel, Dogmen und Frontalunterricht. […] Keinem solle es an Bildung und Kulturbesitz mangeln.
Ein halbes Jahrhundert später ist daraus die Debatte über die „feinen Unterschiede“ entstanden, ein Begriff, den der französische Soziologe Pierre Bourdieu prägte – der vom natürlichen Vorsprung des Bildungsbürgertums spricht, den Kinder aus ärmeren Schichten kaum aufholen können. […]
Der Adler’sche Bildungstraum ist nicht aufgegangen. Das Thema der Eliten, die sich von bildungsfernen Schichten abkoppeln und auf sie heruntersehen, ist gerade wieder brandaktuell…“

(Christa Zöchling: „So flieg, du flammende, du rote…“, in profil Nr. 17, 19. April 2019. S. 12-22. Hier: S. 16-17.)

Grundsätzlich würde ich sagen: Wenn eine politische Theorie behauptet: „Damit unser Gesellschaftskonzept funktioniert, müssen wir zuerst die Menschen auswechseln.“ – ist das schon kein guter Anfang und lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass diese Theorie funktionieren wird.


© helmut hofbauer 2019