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Dissertation: Bezugspunkt Gesellschaft

Hinter unseren falschen Ideen steht der Wunsch nach Erlösung

Rezension von John Gray: Straw Dogs. Granta Books, London 2002. 246 Seiten.

15.12.2019

 

Buchcover: John Gray: Straw Dogs (2002)

 

Der Titel „Straw Dogs“ und der Begriff „Humanismus“

Vor kurzem habe ich ein Buch gelesen, das mir in vielen Punkten aus der Seele spricht. John Grays Buch Straw Dogs ist schon 2002 erschienen, aber von den wirklich guten Büchern erzählt einem ja niemand etwas. Zum Glück habe ich es auf einem Fensterbrett entdeckt, wo es mit gemeinsam anderen Büchern zur freien Entnahme aufgestellt war.
Der Titel „Straw Dogs“ ist ohne Erklärung unverständlich – und ich weiß nicht, ob es schlau ist, einem Buch einen gelehrten Titel zu geben, den niemand versteht. Strohhunde wurden vor langer Zeit im alten China für irgendwelche Zeremonien hergestellt. Während der Zeremonien wurden sie mit Hochachtung behandelt, hinterher brutal zusammengetrampelt. Die Strohhunde stehen nach John Gray als Sinnbild für die Menschen, die ebenfalls von Mutter Erde rücksichtslos vernichtet werden, falls wir unseren Planeten allzu sehr aus dem Gleichgewicht bringen.

Das Buch richtet sich gegen den „Humanismus“. Gray meint damit die Übertragung des christlichen Erlösungsglaubens auf die Menschheit in Gestalt des Fortschritts. Mir ist einsichtig, dass die Menschheit im Rahmen der Aufklärung Erlösungshoffnungen vom christlichen Glauben übernommen hat und guter Hoffnung war, diese durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt einzulösen – aber dass „Humanismus“ das passende Wort für diesen Sachverhalt sein soll, war mir nicht bewusst. Ich hätte „Humanismus“ in einer anderen Themenecke gesucht. Deshalb ist die Begriffsverwendung von „Humanismus“ in Straw Dogs, neben dem Titel des Buchs, ein zweiter irritierender Umstand, der vom Erklärungsziel des Buchs eher ablenkt als zu ihm hinführt.

Das Erklärungsziel oder die Botschaft des Buchs ist folgende: Gray wehrt sich gegen die Sonderstellung des Menschen im Kosmos, aber nicht in einem naturschützerischen Sinne – er scheint kein Grüner zu sein. Neben den Tieren ist er genauso bereit, die Maschinen (künstliche Intelligenz) gegenüber dem Menschen aufzuwerten. Vielleicht werden die Maschinen, die wir erschaffen, uns bald ersetzen. Wenn das so sein wird, dann deshalb, weil sie eine bessere und gelungenere Schöpfung sind als wir Menschen.

„If we are replaced by machines, it will be in an evolutionary shift no different from that when bacteria combined to create our earliest ancestors.“

John Gray: Straw Dogs. Granta Books, London 2002. S. 16.

Aber ich will mich in meiner Rezension nicht mit dem Hauptanliegen des Autors auseinandersetzen, sondern mich auf bestimmte Einzelheiten konzentrieren, die mich aufgrund meiner eigenen philosophischen Entwicklung interessieren. Allerdings möchte ich das nicht nur aus diesem Grund so halten, sondern auch deshalb, weil negative Buchrezensionen im Allgemeinen dazu tendieren, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das heißt, weil sie ein Buch im Großen und Ganzen ablehnen, haben sie auch keine Anerkennung für einzelne gelungene Kapitel oder Argumente übrig. Straw Dogs ist aber vor allem ein Buch, das in große und weitgespannte philosophische Zusammenhänge in sehr konziser und verständlicher Form darstellt. So etwas wird man nicht in wissenschaftlich philosophischen Büchern finden, weil wissenschaftliche AutorInnen auf Furcht vor der Kritik ihrer FachkollegInnen viel vorsichtiger formulieren als der Mensch, der sich selbst etwas erklären will und der deshalb den Mund voll nehmen muss, weil er sonst zu keinem für ihn befriedigenden Ergebnis kommen wird.

Kurz, ich glaube schon, dass man aus Straw Dogs viel lernen kann, selbst wenn man die Weltsicht, die aus dem Buch resultiert, nicht als ganze teilt. Auf der anderen Seite glaube ich aber nicht, dass es heute viele Menschen gibt, die geistig frei genug sind, um aus einem Buch, dessen Einstellung sie nicht zur Gänze teilen, einzelne Teilstücke herausnehmen zu können.

Christentum ohne Gott

Was mich an dem Buch Straw Dogs interessiert, ist Grays die These, dass wir heute in einer Art Christentum ohne Gott leben. D.h. an Gott glauben viele Menschen immer weniger, aber den mit dem Christentum verbundenen Glauben an Erlösung haben sie deshalb nicht aufgegeben. Nur dass sie eben die Erlösung heute nicht mehr von Gott, sondern vom Fortschritt erwarten.

Noch spezifischer: Solche Inhalte des christlichen Glaubens, die heute, in unserer ungläubigen Zeit weiterleben, gibt es mehrere, und sie haben eine Gemeinsamkeit: Sie sie bringen etwas Absolutes und Zeitloses in unser Leben, das mit relativen Zielen und deren Erreichung innerhalb der Zeit beschäftigt ist, hinein und bringen unser Denken dadurch durcheinander.

Im Folgenden werde ich mich nun auf einige Beispiele dafür konzentrieren, wie die Religion in einer Welt ohne Gott in Gestalt von Begriffen und Erwartungen weiterleben konnte, die einen absoluten und unbeschränkten Horizont erfordern.

Arthur Schopenhauers Kritik an Immanuel Kant

Für Schopenhauer, so John Gray, war Immanuel Kants Philosophie Christentum im Gewand der Rationalität. Damit ist gemeint, dass Kant an grundlegenden christlichen Überzeugungen festgehalten und sie in sein Denksystem eingebracht hat, in welchem es keinen Gott mehr gibt bzw. in welchem alles, soweit wie möglich, ohne die Hilfe der Annahme einer Existenz Gottes erklärt werden sollte. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Es war ihm nicht bewusst, dass es sich dabei überhaupt um christliche Überzeugungen handelt, denn sie erschienen ihm so normal, dass er glaubte, man könne ohne sie nicht auskommen.

Zu diesen christlichen Überzeugungen gehört auch die, dass der Mensch etwas völlig anderes ist als das Tier. (Das ist also beispielsweise so eine „humanistische Tendenz“, wie sie John Gray angreift.) Im christlichen Glauben kommt das daher, dass der Mensch von Gott bei der Schöpfung im Gegensatz zum Tier Freiheit und Bewusstsein bekommen hat. Immanuel Kant ging wie selbstverständlich davon aus, dass der Mensch ein freies und vernünftiges Wesen ist und machte Freiheit und Vernunft zum Ausgangspunkt seiner Moralphilosophie. Schopenhauer protestierte dagegen vehement: Die Menschen würden, so Schopenhauer, von körperlichen Bedürfnissen wie Hunger, Durst, dem Verlangen nach Wärme und körperlicher Sicherheit angetrieben und, natürlich, von ihrem Sexualtrieb. Ja, und wenn sie von einem besonders starken Trieb, wie beispielsweise dem Sexualtrieb, angetrieben werden, dann verlieren sie durchaus auch mal das vernünftige Urteil.

Man könnte nun die Ansichten Kants und Schopenhauers schlicht als gegensätzliche Auffassungen über die Macht und Reichweite der Vernunft und den Einfluss der Triebe im Leben des einzelnen Menschen ansehen, wenn man sich nicht bewusst macht, was sie unterscheidet: Schopenhauers Argumentation bedient sich ausschließlich innerweltlicher Elemente, während Kants Konzept von einem menschlichen vernünftigen Bewusstsein eines ist, das außerhalb der Zeit existiert. Vielleicht könnte man es auch so sagen: Kant betrachtet die Moral wie ein mathematisches Rätsel – in der Mathematik kann man eine jede Rechnung immer wieder von vorne beginnen, weil sie sich außerhalb der Zeit befindet. Die menschliche Freiheit besteht, nach Kant, darin, die optimale Lösung für ein moralisches Problem zu finden, so wie in der Mathematik irgendwann im Laufe der Geschichte die richtige Lösung für ein bestimmtes Rechenbeispiel gefunden wird. (Das Rätsel, wie viel 2+2 ist, existiert ja nicht jetzt, auch wenn ich es jetzt (erneut) ausrechne; es existiert jederzeit und doch nie an einem bestimmten Zeitpunkt.) Die Rolle der Vernunft bei Kant ist also nicht eine innerweltliche, sondern eine, die nur den zeitlosen Forderungen der Logik und nicht jenen der drängenden Situation im Hier und Jetzt gerecht werden muss.

Fassen wir zusammen: Schopenhauer hat gegenüber Kant daran erinnert, dass der Mensch viel mehr ein Tier ist und von animalischen Begierden angetrieben wird als Kant das wahrhaben wollte. Aber das Wesentliche ist nicht der Vergleich der Stärke von Vernunft und Trieb. (Schopenhauer beschrieb die Vernunft als ein kleines Männchen, das auf den Schultern des Triebs reitet und versucht, diesen zu lenken.) Das Wesentliche ist, dass Kants Konzeption der Vernunft nicht von dieser Welt ist und eine völlige Verkehrung der Tatsachen darstellt: Aus Kants Ethik folgt, dass der Mensch ein vernünftiges Wesen ist und also vernünftig handeln soll. Aber wie könnte denn ein vernünftiges Wesen vernünftig handeln – es lassen sich ja aus der Vernunft allein keine Ziele generieren. Die Vernunftgläubigen werden dieser Behauptung widersprechen: Der vernünftige Mensch wird sich vernünftige Ziele suchen. Allein, es gibt keine vernünftigen Ziele. Unsere Ziele werden uns von unseren animalischen Trieben vorgegeben, und unsere Vernunft kann uns nur dabei helfen, den besten Weg zu finden, sie zu erreichen. Hingegen zu sagen, dass die Vernunft allein imstande sei, Handlungsziele zu erfinden, ist wie etwas Gegenständliches aus dem Nichts heraus erschaffen zu wollen. Die Vernunft ist nur ein Mittel, sie hat nicht die Kraft, Ziele zu finden.

Noch einmal: Der Mensch ist imstande, vernünftige Ziele zu verfolgen. Diese Auffassung scheint aus der modernen Wissenschaft zu kommen, aber in Wirklichkeit kommt sie aus der Religion, und wir sind uns dieser Tatsache nicht bewusst. Der christliche Glaube schrieb dem Menschen eine Stellung zwischen dem Tier und den Engeln zu, eine Stellung, in welcher der Mensch seine Freiheit ausüben kann, indem er entscheidet, was zu tun ihm das Vernünftigste zu sein scheint. Aber diese Konzeption ist eine Verkehrung der Tatsachen, denn am Anfang des menschlichen Handelns steht nicht die Vernunft, die sich, frei und unbeeinflusst, beliebige Ziele sucht, sondern am Anfang stehen die menschlichen Bedürfnisse.

Und diese Bedürfnisse, die über die menschliche Vernunft herrschen, haben nichts mit der Vernunft zu tun. Sie sind nicht notwendigerweise unvernünftig, aber zumindest a-vernünftig. Manchmal, insbesondere wenn es sich um sexuelle Bedürfnisse handelt, sind sie aber auch unvernünftig. Denn bei sexuellen Begehren gibt uns unser Sexualtrieb vor, welchen möglichen Sexualpartner wir als attraktiv empfinden, und es ist ihm dabei völlig egal, ob dieser Mensch auch gut für uns ist. (Schopenhauer hat darauf hingewiesen: Der Sexualtrieb nimmt keine Rücksicht auf das menschliche Individuum. Wenn der Mensch durch Befolgung seines Sexualtriebs in Schwierigkeiten kommt und krank wird oder stirbt, hat er eben Pech gehabt.) Auch erleichtert es unserer Vernunft die Aufgabe, wenn unsere Bedürfnisse zumindest mehr oder weniger zusammenpassen und einander nicht widersprechen. Denn es kann einem passieren, dass zwei oder mehrere Bedürfnisse einander widersprechen und man sich von der Befriedigung des einen Bedürfnisses entfernt, wenn man sich jener des anderen nähert. Von Glück kann man außerdem sprechen, wenn man nur solche Bedürfnisse hat, die mit den Normen und Erwartungen der Gesellschaft im Einklang sind und von daher zumindest prinzipiell Aussicht auf Befriedigung haben. Und das betrifft bereits ganz harmlose Bedürfnisse wie das eines unattraktiven Menschen einen Sexualpartner zu finden, was sich, obwohl die sexuellen Bedürfnisse in unserer Gesellschaft offiziell anerkannt werden, kaum durchführen lassen wird, weil dieses Bedürfnis im Widerspruch zur gesellschaftlichen Norm steht, dass alle Menschen frei sind, die sexuellen Avancen anderer Menschen abzulehnen.

Beim menschlichen Handeln hat die Vernunft eine Funktion, die sie oft lächerlich macht, die den Menschen wie einen Narren aussehen lässt: Sie muss dabei helfen, Bedürfnisse zu befriedigen, die sie selbst gar nicht für gut und erstrebenswert halten würde. Aber der Affe Mensch will eben dorthin, und da er schon mal dorthin will, bleibt der Vernunft nichts anderes übrig, als achtzugeben, dass er auf dem Weg nicht auch noch stolpert und sich wehtut. Wir Menschen sind eben nicht so klug wie unsere Vernunft, sondern nur so klug wie unsere körperlichen Bedürfnisse und Triebe, die mit unserer Vernunft wenig zu tun haben.

Aus Schopenhauers Kritik an der Kantischen Moralphilosophie folgt: Mit dem Primat der Vernunft vor den Trieben ist es nichts; mit dem ungetrübten menschlichen Bewusstsein, das alle Lebensprobleme in der Ruhe einer mathematischen Zeitlosigkeit entscheiden kann, ist es nichts; und mit der menschlichen Identität, die uns glauben lässt, wir seien jetzt noch dieselben wie vor fünf Minuten oder wie gestern, als uns dieses oder jenes Bedürfnis nicht belästigte, ist es in Wirklichkeit auch nicht weit her. Kant glaubte, alle diese Elemente zu benötigen, weil ohne sie Verantwortung im ethischen/moralischen Handeln nicht zu verstehen ist. Damit mag er Recht haben: Zumindest könnte es der Fall sein, dass die moralische und auch die rechtliche Praxis der Zuschreibung von Verantwortlichkeit für Fehlverhalten in der heutigen Gesellschaft ebenfalls vom christlich-Kantischen Vernunftmenschen inspiriert ist und weit über das hinausgeht, was die Menschen tatsächlich leisten können. Es könnte also sein, dass man uns an einem Ideal misst, demgegenüber wir immer als fehlerhaft erscheinen müssen.

„The thinkers of the Enlightenment aimed to replace traditional religion by faith in humanity. But the upshot of Schopenhauer’s criticism of Kant is that the Enlightenment was only a secular version of Christianity’s central mistake.
For Christians, humans are created by God and possess free will, for humanists they are self-determined beings. Either way, they are quite different from all other animals. In contrast, for Schopenhauer we are at one with other animals in our innermost essence.”

John Gray: Straw Dogs. Granta Books, London 2002. S. 41.

Kant hat in die Ethik/Moralphilosophie die christliche Idee eines absoluten, von animalischen Antrieben unbehelligten, Bewusstseins eingebracht. Damit hat er aus dem Menschen ein Zwitterwesen mit einer göttlichen (Vernunft) und einer menschlichen (Triebe, Wille) Komponente gemacht. Der Fehler in der Kantischen Moralphilosophie besteht darin, dass diese Konzeption einer unbeschränkten und unbeeinflussten Vernunft, die aus sich selbst Handlungsziele erschaffen kann, den Menschen scheinbar aus seinem Leben hier auf Erden heraushebt und in ein zeitloses moralisches Planspiel einfügt. Scheinbar, weil er hier handelt, aber so tut, als handelte er nicht hier, sondern im ewigen Leben. Mit anderen Worten, die absolute Komponente des menschlichen Bewusstseins, die Kant in das relative und beschränkte menschliche Leben eingebracht hat, verlangt auch nach einem absoluten und unbeschränkten Spielfeld. Auf diesem absoluten Spielfeld – dem Spielfeld der moralischen Diskussion – erzeugt sie Lösungen, die für die Menschen nicht hilfreich sind, weil sie nicht in die relative und beschränkte Realität des menschlichen Lebens passen.

Man könnte es auch so sagen: Kants Antworten auf moralische Fragen sind Antworten von der Art „Wie würdest du handeln, wenn du ewig leben könntest.“ Man kann das übersetzen in: „Wie würdest du handeln, wenn du kein Mensch, sondern ein Engel oder ein Gott wärest.“ Dieselbe Maßlosigkeit drückt sich ja auch in Kants kategorischem Imperativ aus, am augenscheinlichsten in der Naturgesetzformel: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ In dieser Formel schwingt sich der Mensch zum Gesetzgeber für Naturgesetze auf und vergisst also ganz darauf, welche bescheidene Stellung ihm die Natur im Kosmos tatsächlich zugeordnet hat. Aber es verhält sich mit anderen Formulierungen des kategorischen Imperativs ja nicht anders: Auch in ihnen steht er auf du und du mit allgemeingültigen Gesetzen, so als ob diese seine Nachbarn wären, zu denen er jederzeit zu einem kleinen Tratsch hinüberkommen könnte. In Summe: Die Kantische Ethik ist eine, die die Beschränktheit des menschlichen Lebens nicht berücksichtigt und aus dem Menschen einen gottähnlichen Übermenschen macht.

Nietzsches Optimismus als Reaktion auf Schopenhauers Pessimismus

Friedrich Nietzsche ist auch mir lange Zeit ein Rätsel gewesen. Seine Anziehungskraft auf mich als junger Mann kam daraus, dass in seinen Schriften eine Dynamik spürbar war. Sie haben die Botschaft: Es ist nicht alles schon fertig und endgültig, so wie es ist, sondern du kannst dich weiterentwickeln, du kannst dich zu einem Übermenschen weiterentwickeln oder zumindest zu einer Art von Mensch, der komplexer und vielschichtiger ist, als du es heute bist, und der die Realität auf eine andere Weise wahrnimmt, als du es heute tust. Das ist natürlich für junge Menschen, die sich in der Entwicklung befinden und zugleich in einer Art von Gefangenschaft durch ihre Familien und das Bildungssystem, welche diese Entwicklung hemmt und durch Anpassung ersetzt, eine attraktive Botschaft. Sie bedeutet sozusagen: „Du kannst deine persönliche Entwicklung in deine eigenen Hände nehmen. Es hängt ganz von dir ab – von deinem Mut und deiner Bereitschaft, immer weiter zu gehen – wie weit du auf diesem Weg kommst!“

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich für mich das Rätsel Nietzsche „geknackt“ habe, aber einige Jahre ist es sicherlich schon her. Dergestalt, dass es für mich bloß mehr eine Bestätigung war, als ich in Rüdiger Safranskis Nietzsche-Buch las, dass Nietzsche das menschliche Leben durch „Entzückungsspitzen“ rechtfertigen wollte – ein Ausdruck, der mich amüsiert hat. Es geht um Folgendes: Als ich, als Schüler und Student, Nietzsche zu lesen begann, war mir lange Zeit nicht bewusst, dass Nietzsche ein zutiefst religiöser Mensch gewesen ist, der seine Glauben an Gott verloren hat. Mit dem Verlust seines Gottesglaubens hat er aber nun nicht, wie es folgerichtig gewesen wäre, auch alle Wünsche und Erwartungen aufgegeben, die mit dem christlichen Glauben verbunden sind. Somit stand er vor dem Problem, dass es mit dem „Tod Gottes“ nun auch kein ewiges Leben nach dem Tod für uns Menschen mehr gab und er das Bedürfnis hatte, die gesamte Glückserwartung, die mit dem Himmelreich verbunden gewesen war, in das kurze Menschenleben hier auf Erden zu packen.

Aus diesem Bedürfnis heraus entstand das Konzept des Übermenschen, denn ein gewöhnlicher Mensch ist gar nicht in der Lage, in seinem kurzen Erdenleben so viel an Glück zu empfinden wie ein erlöster Christ während einer ganzen Ewigkeit im Himmel. Noch dazu kommt, dass Nietzsche klar war, dass das in unserem irdischen Jammertal nicht alle Menschen erleben können. Viele Menschen sind einfach dazu verdammt, eintönige, gesundheitsschädliche Arbeiten zu verrichten, um all die Güter zu erzeugen, die notwendig sind, damit einige wenige (andere) Menschen ihr Leben genießen können, ohne arbeiten zu müssen. Diese wenigen Menschen können dann großartige Musikstücke komponieren oder andere „große“ Dinge tun, die einen, wenn man sie betrachtet, zu der Bemerkung veranlassen: „Der Mensch ist schon etwas Großartiges! Was der alles kann!“ Bemerkungen dieser Art sind sozusagen Ausdruck solcher „Entzückungsspitzen“. Die Entzückungsspitzen „rechtfertigen“ nach Nietzsches Auffassung den Menschen in einer Welt, in der es keinen Gott mehr gibt, der auf ihn schaut und ihn als sein Geschöpf wertschätzt, durch die bewunderungswürdigen Leistungen einzelner hochbegabter Menschen, die den Beobachter gewissermaßen zu dem Gedanken veranlassen: „Es wäre doch schade, wenn es in dieser Welt, in der nichts einen Wert hat (weil es keinen Gott gibt und damit nichts, das Bestand hat) die Menschheit nicht gäbe, denn sie bringt neben viel Elend auch manches Großartige hervor, das zumindest den Anspruch hätte, ewig zu sein!“

„The idea that history must make sense is just a Christian prejudice.
If you believe that humans are animals, there can be no such thing as a history of humanity, only the lives of particular humans.”

John Gray: Straw Dogs. Granta Books, London 2002. S. 47-48.

„A believer to the end, he [Nietzsche, Anm. philohof] never gave up the absurd faith that something could be made of the human animal. He invented the ridiculous figure of the Superman to give history meaning it had not had before.”

Ebd., S. 48.

Der Fehler, mit dem wir es hier zu tun haben, ist derselbe wie der, den wir auch schon bei Kant gesehen haben: Das kurze, beschränkte Menschenleben wird mit Ansprüchen überlastet, die aus dem Bereich des Absoluten stammen, in dem sich die Religion bewegt. Die gesamte Glückserwartung, die auf das Leben nach dem Tod projiziert wurde, soll nun in die kurze Zeit gestopft werden, die der Mensch auf Erden weilt. Man sieht mit einem Blick, das Behältnis ist zu klein. Nur Nietzsche sah das offenbar nicht.

In meinem Fall bedurfte es einiger Zeit bis ich erkannte, dass das Konzept des Übermenschen nicht einfach nur ein Ausdruck für die Einsicht war, dass der Mensch nach persönlicher Weiterentwicklung streben sollte, solange er lebt, sondern ein Ausdruck für den Wunsch, religiöse Bedürfnisse ohne den Glauben an Gott auszuleben. Dasselbe betrifft Nietzsches Begriff des „Nihilismus“, der als Gegenbegriff zum Übermenschen aufgefasst werden kann. Nietzsche warnte ja, dass Nihilismus herrschen werde, wenn der Glaube an Gott verloren geht, das bedeutet, dass uns der Wert aller Dinge und Anstrengungen verlorengehen würde und wir nicht mehr wissen würden, wofür wir morgens aufstehen – wenn es keinen Gott gibt. Ja, so muss die Realität aussehen für einen religiösen Menschen der seinen Glauben verloren hat, es aber nach wie vor gewohnt ist, die Welt und das Menschenleben mit religiösen Erwartungen zu betrachten. Einem religiösen Menschen muss das Menschenleben als sinnlos erscheinen, wenn er sieht, wie der Mensch lebt und dann stirbt, ohne Aussicht auf ein Weiterleben nach dem Tod zu haben. Alles erscheint einem dann sinnlos und keine Anstrengung der Mühe wert. Aber wenn ein nichtreligiöser Mensch das Leben beurteilt, dann kann er dabei eigentlich nicht mit dem Begriff des „Nihilismus“ hantieren. Denn das Menschenleben ist halt so, wie es ist, und mehr ist es eben nicht. „Nihilismus“ ist ja nichts anderes als die Enttäuschung darüber, dass das Menschenleben nicht so groß und großartig ist, wie es sich der gläubige Mensch ausgemalt hat. Wenn man nicht gläubig ist, kann es die Enttäuschung des Nihilismus nicht geben.

In diesem Zusammenhang ist auch eine Bemerkung darüber angebracht, dass viele Rezensenten John Grays Buch Straw Dogs als nihilistisch empfanden. Terry Eagleton etwa schrieb im Guardian darüber: „His book is so remorselessly, monotonously negative that even nihilism implies too much hope.” Dazu ist aus meiner Sicht zu sagen: Wenn jemand Straw Dogs als pessimistisch, negativ, hoffnungslos oder nihilistisch empfindet, muss man jeweils darauf achten, woher er kommt, damit man seine Fallhöhe einschätzen kann. Wie ich anhand von Nietzsches Übermenschen und seinem Begriff des „Nihilismus“ soeben dargestellt habe, ist die Fallhöhe des religiösen Menschen, wenn er auf die Erde zurückfällt, unendlich. Denn der religiöse Mensch erwartet sich ja nach dem Tod ein ewiges Leben voller Glückseligkeit, und eine Ewigkeit ist ebenso so lang wie hundert Ewigkeiten, wie tausend Ewigkeiten oder wie Milliarden Ewigkeiten, weil die Ewigkeit endlos ist. Wenn dem religiösen Menschen also eine Ewigkeit voller Glück genommen wird, dann wird er verständlicherweise sehr negativ und nihilistisch gestimmt sein.

Aber ein Enttäuschungserlebnis kann natürlich auch Menschen blühen, die an andere absolute Werte glauben: an die Vernunft, an die wissenschaftliche Erkenntnis, an den Fortschritt, an den Sinn der menschlichen Geschichte. Oft genügt es, wenn ein Mensch urteilt, ein Buch sei „negativ“ oder „hoffnungslos“, damit die anderen glauben, es sei eben ein schlechtes Buch von einem vom Leben enttäuschten Autor. Dabei übersehen sie, dass „negativ“ ein relativer Begriff ist, der zum Ausdruck bringt, woher man selber kommt. Wenn man das Buch Straw Dogs mit großen Hoffnungen belastet, die es nicht erfüllen möchte, dann wird man es als negativ und hoffnungslos empfinden. Aber das sagt mehr über Terry Eagleton und andere Rezensenten von seiner Sorte aus als über das Buch.

ch kann darüber nur sagen: Es ist in dem Buch nichts davon zu bemerken, dass John Gray infolge seiner Einsichten in das Wesen der Welt und des menschlichen Schicksals resignieren würde, sondern er sucht nach einer Haltung, wie man mit ihnen leben kann und macht am Ende des Buchs auch einen konkreten Vorschlag. Er rät uns zu weniger rastloser Aktivität und zu mehr Entspanntheit: Sieht so ein Prophet der Negativität aus?

Martin Heideggers Sein

Martin Heideggers Begriff des „Seins“ muss John Gray ebenfalls ein Dorn im Auge sein. Heidegger urteilte über die Tiere, sie seien „welt-arm“ und meinte damit, dass nur die Menschen sich ihrer Existenz und Sterblichkeit in vollem Umfang bewusst werden können. Im Grunde, so Gray, meint „Sein“ nichts anderes, als dass die Menschen vollkommen anders sind als die Tiere und eine besondere Stellung im Universum innehaben. Im „Sein“ suchte Heidegger dasselbe, was die Christen im Christentum suchen: Zwar bleibt das Sein in Heideggers Ausdeutungen immer unbestimmt und vieldeutig, aber seine manische Beschäftigung mit dem Sein nährte sich aus der Überzeugung, dass der Mensch etwas ganz Besonderes ist und seine Erlebnisse deshalb ebenfalls einen ganz besondere Bedeutung und einen unendlich großen Wert haben müssen. Das verhält sich ebenso wie beim religiösen Menschen, der von der Tatsache, dass er ein Bewusstsein hat, so beindruckt ist, dass er daraus schließt, dass er niemals sterben darf und dass ihm ein Leben nach dem Tod zusteht, weil es ja sonst schade um das schöne Bewusstsein wäre.

„But Heidegger turns to ‚Being‘ for the same reason that Christians turn to God – to affirm the unique place of humans in the world.“

John Gray: Straw Dogs. Granta Books, London 2002. S. 47-49.


Ludwig Wittgenstein und der „linguistic turn“

In seinem Jugendwerk Tractatus logico philosophicus glaubte Ludwig Wittgenstein, die Sprache könne die Welt abbilden. Daran glaubte er später nicht mehr, aber in seinem Spätwerk Logische Untersuchungen glaubte er immer noch daran, dass keine Welt existiert oder verstanden werden kann unabhängig davon, dass man sie sprachlich beschreibt.

Diese Auffassung nennt man den „linguistic turn“, und neben Wittgenstein hing ihm auch der Wiener Kreis an – und mit dem Wiener Kreis hängt ihm die gesamte Analytische Philosophie bis heute an. Ihre Einstellung ist: Wir beschäftigen uns nicht mit der Wirklichkeit, denn sie ist uns auf direktem Wege unzugänglich, sondern analysieren anstatt dessen lieber die Sprache, wie wir über die Wirklichkeit reden.

„Like Heidegger, Wittgenstein was a humanist in a venerable European tradition. Philosophers from Plato to Hegel have interpreted the world as if it was a mirror of human thinking. Later philosophers such as Heidegger and Wittgenstein went further, and claimed that the world is a construction of human thought. In all these philosophies, the world acquires a significance only from the fact that humans have appeared in it. In fact, until humans arrive, there is hardly a world at all.”

John Gray: Straw Dogs. Granta Books, London 2002. S. 53.

Für John Gray ist das purer Idealismus. Unter Idealismus versteht er die Überzeugung, dass nur die menschliche Realität und Weltauffassung zählt. Auch hierin sieht er die christliche Überzeugung verborgen, dass der Mensch etwas ganz anderes und von unendlich höherem Wert ist als die Tiere, weshalb es sich lohnt, sich mit der menschlichen Realität (mit der von Menschen wahrgenommenen Realität) zu beschäftigen, während die Welt, wie sie beispielsweise von einem Löwen oder einer Ameise erfahren wird, bedeutungslos ist.

Die Konstruktion der Wirklichkeit durch die Postmoderne

Ein wenig ungewöhnlich ist der Schuss, den John Gray gegen die Philosophen der Postmoderne abfeuert. Denn üblicherweise präsentieren sich die Postmodernen ja als eine Philosophie der Bescheidenheit. Sie pflegen zu sagen: „Früher hat man in absoluten Begriffen von der Wahrheit gesprochen; wir behaupten, dass die Wahrheit nur eine soziale Konstruktion ist.“ Damit verbunden ist natürlich, dass die Wahrheit veränderlich ist, denn eine jede Epoche und menschliche Gemeinschaft kann sie anders konstruieren.
Und was sagt John Gray? Er sagt, dass die postmoderne Bescheidenheit in Wirklichkeit die schlimmste Arroganz sei. Denn indem die Postmodernen leugnen, dass die Welt unabhängig von unseren Wahrnehmungen und Überzeugungen existiert, dehnen sie in Wirklichkeit die menschliche Macht der Weltinterpretation ins Unendliche aus. Keine Tatsache in der Realität könne die menschlichen Überzeugungen dann noch korrigieren. Die postmoderne Philosophie, so Gray, sei auch nur eine Form des Anthropozentrismus, jener Denkweise, die den Menschen in den Mittelpunkt des Universums stellt und behauptet, alles andere als der Mensch zähle nicht.

„In fact, the postmodern denial of truth is the worst kind of arrogance. In denying that the natural world exists independently of our beliefs about it, postmodernists are implicitly rejecting any limit on human ambitions. By making human beliefs the final arbiter of reality, they are effectively claiming that nothing exists unless it appears in human consciousness.”

John Gray: Straw Dogs. Granta Books, London 2002. S. 55.


Sokrates als Erfinder der Moral

In einem weiteren Kapitel bezeichnet Gray Socrates als „Erfinder der Moral“. Damit bewegen wir uns in eine Epoche, die vor der Zeit des Christentums liegt. Aber daraus ergibt sich kein Widerspruch, denn Platon, der Aufschreiber von Sokrates‘ Diskussionen glaubte an ein Reich der Ideen. In diesem Reich finden sich alle Konzepte, denen wir hier auf Erden in unvollkommener Gestalt begegnen (die Idee des Tisches, der Bank, der Freundschaft, der Tapferkeit oder, als höchste Idee, die Idee des Guten) in vollkommener Gestalt – und bevor wir auf die Welt gekommen sind, konnten wir sie dort angeblich betrachten, das besagt die so genannte Anamnesislehre.

Die Parallelen des Reichs der Ideen mit dem christlichen Himmelreich sind so bestechend, dass man zahlreiche Konzepte aus dem Platonismus im Christentum weiterverwenden konnte. Hier wie dort gibt es ein vollkommenes Reich, das neben der unvollkommenen menschlichen Wirklichkeit hier auf Erden existiert und dem trotz der Unterschiedlichkeit, die zwischen diesen beiden Reichen besteht, die Autorität zugeschrieben wird, über die menschliche Realität urteilen zu können. Also wenn etwas schief läuft, dann immer in der Menschenwelt, und wie es richtig wäre, das findet sich im Ideenreich oder bei Gott.

Es ist allerdings nicht so, dass das sokratisch-platonische Philosophieren, weil es vor dem Christentum stattgefunden hat, ein areligiöses Nachdenken gewesen wäre. Folgende Passagen aus dem Dialog Phaidon, die ich, der Verständlichkeit halber aus Luciano De Crescenzos Nacherzählung zitiere, zeigen, dass es sich um irdisches Denken powered by ewiges Leben handelt:

„[Sokrates:]„Nur die Bösen können sich wünschen, daß es nach dem Tode nichts mehr gibt, es ist ganz logisch, daß sie so denken, denn es ist in ihrem Interesse. Aber ich bin mir sicher, daß sie voller Angst in der Unterwelt herumirren werden und nur wer sein Leben in Ehrlichkeit und Mäßigung geführt hat, wird die wahre Erde sehen dürfen.““

Luciano De Crescenzo: Geschichte der griechischen Philosophie. Von Sokrates bis Plotin. Diogenes, Zürich 1988. S. 38-39.

„…andere dagegen, deren Verbrechen allzu schwer waren, bleiben auf Ewigkeit Verdammte. Dies ist also das Schicksal, das den Seelen der Lebenden beschieden ist: die Schlechten sind für den Tartaros bestimmt, die Reinen für die wahre Erde. Daher ist es dienlich, im Leben Tugenden zu üben und durch die Philosophie zur Weisheit zu gelangen; denn schön ist der Preis und groß die Hoffnung!“
„Glaubst du wirklich an die Dinge, die du gesagt hast, o Sokrates?“ bohrt Simmias weiter.
„Daran zu glauben, ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber es verschafft ein gutes Gefühl…“

Ebd., S. 40.

Sokrates sagt also: Es ist sinnvoll auf Erden auf eine bestimmte Weise zu leben, weil man im Jenseits dafür belohnt wird. Das aber bedeutet, dass man als Sterblicher lebt als wäre man unsterblich. Man lebt so, als wäre man nicht man selbst, sondern ein anderer. Wenn ich sagte, es ist unvernünftig, als kleiner Zwerg so zu handeln als wäre man ein Riese oder als Normalverdiener so viel Geld auszugeben wie ein Reicher, dann würden alle sofort zugeben, dass man besser nicht so handeln sollte, weil man sonst schwer Schiffbruch erleidet. Aber sobald das ewige Leben ins Spiel kommt, erscheint das den Meisten bereits nicht mehr so klar zu sein. Dabei ist es dasselbe: Wer als sterblicher Mensch so handelt, als wäre er ein unsterblicher Engel, handelt, als hätte er Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten, die er in Wirklichkeit nicht hat. Das möchte ich noch einmal hervorheben, denn es ist schließlich das Thema meiner Rezension.

Daran ändert sich auch nichts, wenn jemand auf eine bestimmte Weise handelt, nicht um der Strafe im Leben nach dem Tod zu entgehen, sondern um der Logik bzw. der Vernunft (=diesem absoluten Reich der Logik oder der Vernunft, das in seinen absoluten Dimensionen dem Himmelreich gleicht) zu entsprechen. Die Vernunft ist ein ebenso endloses Ding wie das ewige Leben – und wer mit seiner beschränkten Vernunft der unbeschränkten Vernunft entsprechen will, die bei allen Dingen und Handlungen weiß, was richtig ist und was nicht, macht denselben Fehler: Er behandelt sein beschränktes Leben aus der unbeschränkten Perspektive der allgemeingültigen Vernunft – was nichts anderes ist als maßlose Selbstüberschätzung.

In seinem Kapitel über Sokrates macht John Gray darauf aufmerksam, dass es Ethik durchaus auch schon in der Zeit vor Sokrates gegeben hat. In den Homerischen Epen machten sich die Menschen Gedanken über Tugenden wie Mut und Weisheit sowie über gute und schlechte Handlungen. Aber es gab in ihnen keine Vorstellung von einem moralischen Regelwerk, das ein jeder Mensch befolgen müsste. Sokrates war der Erste, der die Idee aufbrachte, dass Unrecht leiden immer besser sei als Unrecht tun. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass der Mensch sein Glück oder Wohlbefinden erzwingen könne, wenn er moralische Regeln befolgt, die es ihm erlauben, das Gerechte immer zu treffen und das Ungerechte immer zu vermeiden. Damit aber brachte Sokrates einen absoluten Wertmaßstab in die die relative und beschränkte Welt des menschlichen Handelns ein.

Beim menschlichen Handeln gibt es im Grund nur relative und beschränkte Werte zu gewinnen: Man kann ein bisschen sportlicher werden, als man schon ist, ein wenig gesünder leben, ein wenig erfolgreicher und wohlhabender werden, ein wenig schöner, man kann ein paar Freunde gewinnen etc. Die Neuigkeit, die Sokrates in die ethische Diskussion eingebracht hat, gleicht der Einstellung, die jemand hat, der sagt, er richte sich nicht nach den konkreten Umständen seines Lebens, sondern ihm gehe es um das Prinzip. Das Prinzip lautet: Wenn ich dasjenige tue, das ich nach meinen moralischen Vorstellungen für das Richtige halte, dann halte ich mich für glücklich, auch wenn meine Handlung allerhand unerwünschte Folgen nach sich zieht und es mir nachher wesentlich schlechter geht als vorher. Immanuel Kant hat diese unrealistische, weil idealistische, Einstellung in späterer Zeit übernommen, indem er sagte: „Moralisches Handeln bringt mich zwar nicht ins Himmelreich, aber ich handle zumindest so, dass ich mich des Himmelreichs – wenn es denn eines geben sollte – würdig erweise.

John Gray hebt den Unterschied zwischen Ethik und Moral hervor: In der Ethik geht es um Umstände, die kontingent sind, das heißt, dass sie so oder auch anders sein können. Je nachdem, wie sie in einer konkreten Situation sind, reagiert man auf sie und handelt – und dieses Handeln kann gelingen, es kann aber auch schiefgehen, selbst wenn man nach reichlicher Überlegung tugendhaft und entschlossen handelt, kann es schiefgehen. Denn beim ethischen Handeln befindet man sich auf der hohen See des menschlichen Schicksals, auf der einen jederzeit ein Schicksalsschlag treffen und die menschlichen Bemühungen zerstören kann.

„But the idea that ethics is concerned with a kind of value that is beyond contingency, that can somehow prevail over any kind of loss or missfortune, came from Socrates. It was he who invented ‘morality’."

John Gray: Straw Dogs. Granta Books, London 2002. S. 106.

„In the world of Homer there was no morality. There were surely ideas of right and wrong. But there was no idea of a set of rules that everyone must follow, or of a special kind of value that defeats all others. Ethics was about virtues such as courage and wisdom; but even the bravest and wisest of men go down to defeat and ruin.”

Ebd., S. 107.

Beim moralischen Handeln hingegen befindet man sich auf dem sicheren Boden der Vernunft. Hier hat man es nicht mit Kontingentem zu tun, sondern mit den festen Prinzipien der Moral, die man nur einzuhalten braucht, um fein raus zu sein. Wenn trotzdem alles schiefgeht, sagt man: „Seht her! Ich habe alle Regeln befolgt, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen!“

Mir persönlich ist dieses Kapitel über Sokrates und die Erfindung der Moral besonders wichtig, weil heute ja Ethik als Reflexionstheorie der Moral definiert wird, was zur Folge hat, dass Ethik aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden ist und eigentlich nur noch Moral existiert. Falls das jemand noch nicht wusste, möge er oder sie googeln, aber es ist tatsächlich so, dass man sich heute im Fach Ethik mit moralischen Fragestellungen beschäftigt, und unter „Ethik“ versteht: über Moral nachzudenken. Moral aber ist etwas ganz anderes als Ethik, denn Moral besteht in „compliance“, also daran, dass man sich an Regeln hält, während Ethik darin besteht, sich zu überlegen, was man denn überhaupt tun und mit seinem eigenen Leben anfangen könnte. Ethik und Moral gehen in entgegengesetzte Richtungen, weil Ethik darin besteht, dass der einzelne Mensch sich überlegt, wie er denn seinen Handlungsbereich ausweiten könnte, während Moral darin besteht, dass er darüber nachdenkt, wo er seinen Handlungsspielraum einschränken muss, weil soziale Normen das von ihm verlangen.

Ich glaube, man kann davon sprechen, dass die Ethik heute tot ist, weil man allgemein das Verständnis für sie ausgelöscht und durch Moral ersetzt hat. Mitverantwortlich dafür ist dasjenige, was John Gray an Sokrates und an den anderen oben dargestellten Philosophen kritisiert hat: Man hat in vielen Bereichen absolute und unendliche Wertmaßstäbe in das relative und beschränkte menschliche Leben eingebracht und an den Menschen die Forderung gestellt, so zu leben, als wie wenn er gar kein Mensch wäre. Ursprünglich kommen diese Wertmaßstäbe aus einem religiösen Weltverständnis, in dem z.B. die Regeln der Moral nicht deshalb befolgt werden müssen, weil sie gut für uns sind, sondern weil sie Gottes Gesetz sind und weil Gott uns bestrafen wird, wenn wir es nicht tun. Aber sie passen ebenso gut in ein rationales Weltbild, in welchem wir moralische Regeln befolgen, um einem allgemeingültigen Gesetz zu entsprechen, wofür es keine Belohnung gibt außer der, dass wir uns einer Belohnung als würdig erwiesen haben. Das Absolute im menschlichen Leben führt dazu, das menschliche Leben zu missdeuten, denn es ist der Handlungsspielraum von Gott, dem Gottes Eigenschaften (Allmächtigkeit, Allwissenheit, Allgegenwart, Unsterblichkeit etc.) entsprechen. Ohne Gottes Eigenschaften macht es nicht viel Sinn, im Raum des Absoluten zu agieren, bzw. wenn man es tut, dann tut man so, als wäre man allmächtig, allwissend, unsterblich etc., d.h. man verstellt sich und maßt sich an, etwas zu sein, was man niemals sein kann.

Zusammenfassung: Die Landkarte über die Wirklichkeit stellen

Mir ist bewusst, dass es immer Leute geben wird, die in aller Naivität sagen werden: Was hat er denn gegen die Vernunft? Darauf würde ich antworten: Unsere Vernunft ist wie eine Landkarte, auf der nicht alle Details eingezeichnet ist, und wenn wir sie verwenden, ohne die konkrete Beobachtung ergänzend zu Hilfe zu nehmen, dann werden wir gegen die Wand fahren oder in einen Abgrund stürzen. Dieser Vergleich ist hilfreich, denn merkwürdigerweise ist den Menschen ja klar, dass man die Augen nicht zumachen kann, bloß weil man eine Landkarte hat. Wir benutzen also immer die Karte (oder das Navi) und halten dabei unsere Augen auf die Straße gerichtet, weil wir wissen, dass nicht ein jedes entgegenkommende Auto oder jeder querende Fußgänger auf der Straßenkarte eingezeichnet ist. Bei der Vernunft aber verhalten wir uns anders: Die Leute scheinen der Meinung zu sein, man könne sich entweder an die Vernunft oder an die Beobachtung halten, entweder an das Allgemeingültige oder an das Konkrete. Ja, und weil die Vernunft ja per definitionem vernünftig ist, muss alles, was nicht vernünftig ist, z.B. die konkrete Beobachtung einer Situation, notwendigerweise unvernünftig sein. Denn es muss ja alles, was nicht die Vernunft selbst ist, das Gegenteil der Vernunft sein.

Und so kommt es, dass wir beim Denken oft die Landkarte über die Wirklichkeit stellen. Das kommt daher, dass die Landkarte dem Anspruch, allgemeingültigen Gesetzen zu entsprechen, viel näher kommt als unser konkretes Erleben der Welt, welches subjektiv, ortsgebunden, uninformiert, partikulär, einseitig etc. ist. Die Landkarte ist z.B. das moralische Gesetz, an das wir uns halten, ohne die konkreten Umstände unseres Handelns überhaupt zu beachten. Die Landkarte ist aber auch unsere ausschließliche Orientierung am menschlichen Bewusstsein, die leugnet oder vergisst, dass sich der Großteil der menschlichen Lebensfunktionen und Fähigkeiten im Bereich des Unbewussten abspielen.

Zur Praxis der großen Verehrung der Landkarte gehört aber auch, und das wollen viele nicht hören, unsere heutige Einstellung gegenüber der Wissenschaft. Denn Wissenschaft ist letztlich nichts anderes als eine kollektive, gemeinschaftliche Sicht der Wirklichkeit. Wenn alle, oder zumindest alle relevanten, Menschen einer Meinung über einen bestimmten Sachverhalt sind, dann sagt man, es sei „wissenschaftlich erwiesen“. Nun ist es so, dass es so schwierig ist, alle Menschen von einer bestimmten Idee oder Wirklichkeitsauffassung zu überzeugen, dass es uns bereits genügt, wenn wir das bei einer bestimmten Frage geschafft haben – sodass wir darüber hinaus gar nicht mehr nachfragen, ob diese Idee auch mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Falls man mir nicht glaubt, so möge man noch einmal zurückschauen auf die Abschnitte, die von der Analytischen Philosophie und vom Postmodernismus handeln: Beide Denkrichtungen gehen davon aus, dass diejenigen Auffassungen, die sich in der Gesellschaft durchsetzen, allein deshalb, weil sie sich durchgesetzt haben, auch die richtigen sind. Wenn ich also die Behauptung aufstelle, die Wissenschaft lebe von dem Glauben, dass diejenigen Überzeugungen, die sich durchsetzen, auch die richtigen sind, so ist es dahin kein großer Schritt mehr. Immerhin besteht die Wissenschaft aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft, und was von der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt wird, gilt als wissenschaftlich erwiesen.

Der Wert von John Grays Buch Straw Dogs besteht in meinem Verständnis in dem Hinweis darauf, dass all die absoluten Ideen und Wertmaßstäbe, die wir von der Religion geerbt und in das wissenschaftliche Weltbild hinübergerettet haben, denkbar schlecht geeignet sind, unser relatives und beschränktes menschliches Leben zu verstehen und uns in ihm zu orientieren. Wenn wir unser beschränktes menschliches Leben verstehen wollten, würde ich hinzufügen, müssten wir uns andere Beurteilungsmaßstäbe zurechtlegen, und das wären solche, die, weil sie nicht absolut sind, auch keine allgemeine Zustimmung unter den Menschen finden werden. Das Absolute und Verallgemeinerbare also entspricht nicht der menschlichen Existenz, die beschränkte menschliche Existenz aber entspricht keinem möglichen Vorbild, dem alle Menschen zustimmen können. (Aber das sei nur als Hinweis gedacht, zum Selberweiterdenken.)

Interessant ist, dass viele Rezensenten das, was ich in meiner Rezension von Straw Dogs hervorgehoben habe, in dem Buch gar nicht gesehen haben. Das scheint damit zusammenzuhängen, dass es sich bei Straw Dogs um ein philosophisches Buch handelt in dem Sinn, dass es eine Weltanschauung kommuniziert. Weltanschauungen aber werden in einer hochideologisierten Zeit wie der heutigen entweder ganz angenommen oder ganz bekämpft. Und ganz akzeptiert werden sie auch nur dann, wenn auch wirklich alles passt. Es scheint heute nicht mehr möglich zu sein, dass jemand sagt: „Ich stimme nicht mit allem überein, was der Autor sagt, aber was er zum Thema X sagt, hat mir gefallen!“ Die Einstellung des Ganz-Akzeptierens oder Ganz-Bekämpfens führt dann gewöhnlich zur Diskreditierung des Buchautors als Person, wie es auch Terry Eagleton in seiner Rezension gemacht hat: „It is just that Gray cannot resist mixing these vital truths with half-truths, plain falsehoods, lurid hyperbole, dyspeptic middle-aged grousing and the sort of recklessly one-sided rhetoric he would surely mark down in a student's essay.“ Was sagen Sie zu dieser Beurteilung? Sie bezeichnet doch den Buchautor als einen Menschen ohne intellektuelle Integrität. Von einem solchen Menschen, der Wahrheiten mit Halbwahrheiten mischt und einseitig denkt, kann man doch nichts lernen! Wahrscheinlich sind seine Schriften die Lektüre überhaupt nicht wert.

Wenn man heute einen Gedanken erfolgreich kommunizieren möchte, sollte man ihn also besser nicht in die Gestalt einer Weltanschauung kleiden, sondern ihn auf wissenschaftliche Weise präsentieren, d.h. ihn aus dem allgemeinen Zusammenhang, in dem man ihn sieht, herauslösen und als Beitrag zu einem speziellen Fach darstellen. Also z.B. der Zugang von Sokrates zu moralischen Problemen im Vergleich zu dem in Homers Epen. Man stellt in dem Fall zwar den eigenen Gedanken ohne seinen Kontext dar, was ein Mensch wie ich bedauern würde, da ich diesen Kontext als wertvolle Zusatzinformation auffasse. Da der Kontext des eigenen Denkens, in welchem bestimmte Ideen für einen selbst Bedeutung gewonnen haben und relevant geworden ist, für andere Menschen aber oft etwas zu sein scheint, das sie stört und vom eigentlichen Inhalt der Gedanken ablenkt, sollte man in einem wissenschaftlichen Zeitalter wie unserem vielleicht besser auf ihn verzichten.

Was ich damit sagen möchte ist, dass ich glaube, dass John Grays Buch Straw Dogs, so großartig es ist, mit all seinen aufschlussreichen Ideen, die es enthält, dennoch untergehen und vergessen werden wird. Es wird untergehen, weil die Menschen es nicht – oder heute ganz besonders nicht mehr – vertragen, dass jemand sich um eine persönliche Weltsicht bemüht. Wenn die präsentierte Weltsicht nicht völlig mit ihrer eigenen übereinstimmt, werden sie das Buch als „einseitig“ und als „Polemik“ bezeichnen und dann wird es niemand mehr in seinen Einzelheiten ernst nehmen, weil es schon als Ganzes entwertet und verworfen worden ist.

Bild: Ich persönlich mache es mi dem Paradies so: Bei mir in der Nähe gibt es die Paradies-Sauna. Ich glaube zwar nicht, dass sich dort unten das Paradies befindet - und ich gehe auch nicht hinein aus Furcht, meine Erwartungen könnten enttäuscht werden. Aber zumindest weiß ich, wo das Paradies ist, und das ist beruhigend.

© helmut hofbauer 2019